Wie wirksam sind KapMuG und Musterfeststellungsklage?

von Gastbeitrag, veröffentlicht am 10.11.2021
Rechtsgebiete: Zivilverfahrensrecht|1888 Aufrufe

Wie stehen Brigitte Zypries, frühere Bundesministerin der Justiz, und Prof. Dr. Günter Hirsch, ehemaliger Präsident des Bundesgerichtshofs (2000 – 2008) zu den Themen KapMUG (Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetz) und Musterfeststellungsklage?

Das wollten Dr. Thomas Asmus, Rechtsanwalt und Steuerberater in Berlin, und Dr. Guido Waßmuth, Rechtsanwalt in Berlin, wissen. Die beiden Herausgeber eines neuen Kommentars zur kollektiven Rechtsdurchsetzung haben Zypries und Hirsch interviewt. Einen Auszug des Interviews, das auch im erwähnten Kommentar abgedruckt ist, können Sie hier vorab lesen.

Asmus: Hat das Damoklesschwert der Musterklage zu mehr marktordnungsrechtlicher Compliance geführt – Stichwort "Wirecard" und "VW"?

Zypries: Den Eindruck gewinnt man bislang nicht. Wenn ich an große Fälle wie das KapMuG-Verfahren gegen VW oder HRE – oder jetzt den Fall Wirecard, den man aber wohl gesondert betrachten muss – denke, betreffen die Vorwürfe des Kapitalmarktverstoßes dort jeweils einen Zeitraum nach Einführung des KapMuG. Aber natürlich nimmt man ein Gesetz zur kollektiven Rechtsverfolgung als solches erst ernst, wenn es in der Praxis die Zähne zeigt. Das dauert eine Zeit, und die letzten Jahre haben vielleicht auch bei manchem Vorstand und Aufsichtsrat die Erkenntnis reifen lassen, dass Verstöße nicht nur Sanktionen der BaFin, sondern auch empfindliche und strukturierte Schadensersatzklagen der Anleger oder Verbraucher nach sich ziehen.

Waßmuth: Hat die Bindungswirkung von KapMuG und Musterfeststellungsurteil/-vergleich eine Entlastung der Justiz bewirkt?

Zypries: Ja. Wenn wir Sachverhalte mit tausenden Geschädigten haben, deren Ansprüche in den zentralen Punkten erstmal vom OLG und BGH beurteilt werden, ist das eine enorme Entlastung vor allem der Landgerichte. Und es führt – siehe VW-Musterfeststellungsklage – manchmal auch dazu, dass dort ein Vergleich erzielt wird und die Gerichte nicht weiter befasst werden müssen. Das ist eine große Entlastung. Aber es spielt nicht nur die Frage eine Rolle, ob die Justiz weniger Arbeit hat, sondern vor allem auch, ob eine einheitliche und für die Bürgerinnen und Bürger noch verständliche Rechtsprechung gewährleistet wird. Das ist ein wichtiges Ziel unseres Rechtsstaates. Wenn der eine VW-Käufer vor dem Landgericht gewinnt und der andere mit quasi derselben Sachlage vor einer anderen Kammer verliert, ist das für den unterliegenden Kläger ein erschütterndes Erlebnis. Auch diese Erfahrung sollten wir vermeiden, indem wir eine einheitliche Entscheidung ermöglichen.

Waßmuth: Haben KapMuG und die Einführung der Musterfeststellungsklage zu einer besseren Entscheidungsqualität der Gerichte geführt?

Hirsch: Die Angelegenheit kommt erstmal schneller zum OLG. Das ist für die Qualität der ersten Entscheidung zu den Feststellungszielen gut. Wenn die Sache vor den BGH kommt, da wird jede Sache mit derselben Aufmerksamkeit und Fachkunde behandelt, ob es nun ein Einzelverfahren oder ein Musterverfahren ist. Um an die Diskussion von vorhin anzuknüpfen, steigt bei einem Musterverfahren aber die Wahrscheinlichkeit, dass der BGH entscheidet, da die Sache stets grundsätzliche Bedeutung hat. Außerdem wird bei einem Musterverfahren die Revision nicht durch ein nächtliches Fax vor dem Verkündungstermin erledigt. Deshalb möchte ich eher formulieren, dass die Entscheidungswahrscheinlichkeit des BGH erhöht wird. Auf diesem Weg verbessert sich dann aber eben auch die Entscheidungsqualität der Gerichte.

Asmus: Dauern die Musterverfahren zu lang? Was könnte zu einer Beschleunigung beitragen? Beispielhaft: Das KapMuG-Verfahren wegen der Schäden aus VW-Aktien begann im Jahr 2016 vor dem OLG Braunschweig. Gegenstand ist ein Des-informationszeitraum von zehn Jahren, weil VW offenbar im Jahr 2006 angefangen hat, „defeat devices“ zu verbauen. Im Telekom-Verfahren, das 2006 begonnen hat, hat der BGH jüngst zum zweiten Mal an das OLG zurückverwiesen. Dann haben wir inzwischen den Hypo Real Estate-Beschluss des BGH, das Verfahren startete im Jahr 2008. D. h. zumindest einzelne KapMuG-Verfahren dauern sehr lang. Und wenn man sich die letzten BGH-Beschlüsse „Telekom“ oder „Hypo Real Estate“ anguckt, dann entsteht auch der Eindruck, dass die Themen „Abgrenzbarkeit“ und „Bestimmtheit“ jedes Feststellungsziels großen Raum einnehmen. Sollte der Gesetzgeber für mehr Beschleunigung sorgen?

Hirsch: Beschleunigung der gerichtlichen Entscheidung einer Streitfrage ist immer gut. Aber hier geht es um Fragen von rechtsgrundsätzlicher Bedeutung für eine Vielzahl von Fällen zu in der Regel sehr komplexen Sachverhalten. Schon angesichts der Tragweite der gerichtlichen Feststellungen zur Haftungsfrage muss Gründlichkeit vor Schnelligkeit gehen. Außerdem müssen in diesen neuen Musterfeststellungsverfahren am Anfang auch noch verfahrensrechtliche Klärungen höchstrichterlich vorgenommen werden. Da im Rahmen der Umsetzung der EU-Verbandsklagen-Richtlinie wohl mit einer umfassenden Neuregelung der Materie zu rechnen ist, werden die Erfahrungen mit den bisherigen Musterfeststellungsklagen sicherlich auch eine Rolle spielen.

Waßmuth: KapMuG-Verfahren werden in einfach gelagerten Fällen natürlich inzwischen auch zügig entschieden. Man sieht das beispielsweise bei den Verfahren, die Prospekte des früheren sogenannten grauen Kapitalmarkts betreffen. Solche Verfahren werden schon häufig innerhalb von zwei Jahren und teilweise schneller vom OLG entschieden. Trotzdem könnte man komplexe Verfahren beschleunigen, etwa indem man diese Verfahren abschichtet. Im Beispiel des VW-KapMuG-Verfahrens haben wir einen Vorwurfszeitraum von zehn Jahren. D. h. im Grunde genommen werden in einem einzigen Verfahren zehn Jahre Käufe und Verkäufe von VW-Aktien auf WpHG-Compliance hin untersucht. Wenn man aber relativ schnell beurteilen kann, ob in dem Zeitraum Mai bis September 2015, als ggf. schon absehbar war, dass die US-Umweltbehörden einschreiten würden, ein Kapitalmarktverstoß vorlag, warum soll man darüber dann nicht vorab mittels Teil-Musterentscheid entscheiden? Das Verfahren wird ja immer schwieriger zu beurteilen, je länger man in der streitgegenständlichen Desinformationsphase zurückschaut. Das eröffnet dann auch wieder Raum für taktische Maßnahmen.

Zypries: Strukturelle taktische Verzögerungen durch die eine oder andere Partei sollten in der Tat unterbunden werden, sie sollten auch eine gesetzgeberische Antwort nach sich ziehen. Solche taktischen Verzögerungen gibt es allerdings in allen Bereichen des Zivilprozesses. Ich erinnere mich aus meiner Zeit als Justizministerin an einen Fall, den wir damals aufgegriffen haben. Da weigerte sich ein Versicherer, die offenkundig geschuldeten Leistungen auszuzahlen. Ein selbstständiger Architekt war vollkommen ohne eigene Schuld angefahren worden und hatte schwere und dauerhafte Schäden davongetragen. Er hat damals gegen den Versicherer prozessiert, der nicht zahlte. Er hat prozessiert und prozessiert, und der Versicherer hat ständig irgendwelche neuen Gutachten verlangt, das war ein Zermürbungs-kampf. Auch wir beide, lieber Herr Hirsch, haben damals darüber diskutiert, ob und wie man jedenfalls einen Teil der Leistungen zusprechen kann.

Hirsch: Ich kann mich sehr gut an diesen versicherungsrechtlichen Fall erinnern. Wir wollten damals das Ombudsverfahren nutzen, um dem Mann zu helfen. Das Problem war, dass ein Ombudsverfahren ausschied, solange ein Gerichtsverfahren anhängig war. Der seinerzeitige Kläger nahm dann seine Klage zurück, um ein Schlichtungsverfahren beantragen zu können. Ich konnte im vereinfachten und beschleunigten Ombudsverfahren eine gütliche Einigung mit dem Versicherer vermitteln.

Zypries: Das Gericht hätte damals allerdings die Sache auch ohne solche Hilfe beschleunigen können. Es hatte mit den Instrumenten des Grund- und Teilurteils die geeigneten Mittel zur Hand.

Waßmuth: Das ist genau die Frage nach der Möglichkeit von Teilurteilen. Ich war eine Zeit lang Richter. Und was sagt man jungen Richtern: Macht bloß keine Teilurteile. Die hebt euch das OLG nur auf, weil die Voraussetzungen von § 301 ZPO so streng sind. Das bekommt ihr ohnehin nicht hin. Also Stichwort: Widerspruchsgefahr. Und das OLG wird auch den restlichen Teil nicht hochziehen, obwohl sie es könnten. Vielleicht wäre es eine gesetzgeberische Option, die Möglichkeit von Teilurteilen einfach zu erweitern.

Asmus: Nur zur Klarstellung, ein Grundurteil ist bei KapMuG und Musterfeststellungsklage nicht möglich. Wir haben ja nicht Grund und Betrag, sondern wir haben nur Feststellungsziele, über die zu entscheiden ist. Aber man kann Teilmusterentscheid oder Teilmusterfeststellungsurteil in Erwägung ziehen.

Zypries: Das sollte in Erwägung gezogen werden. Dem Vorwurf der taktischen Verzögerung muss sich übrigens auch die öffentliche Hand stellen. Sie anerkennt in aller Regel auch erst die letztinstanzliche Entscheidung.

Waßmuth: Wie bewerten Sie es, wenn bei den Oberlandesgerichten Spezialsenate für Musterfeststellungsklagen eingerichtet werden? Ist das nicht ein Konflikt mit den sonst an Sachmaterien orientierten Spezialzuständigkeiten? Warum gibt es beim BGH keine entsprechende Spezialzuständigkeit, weder für KapMuG-Verfahren noch für die Musterfeststellungsklage?

Hirsch: Das ist eine sehr gute Frage, zu der ich eine dezidierte Auffassung habe. Ich glaube nicht, dass man Spezialsenate für Musterfeststellungsklagen einrichten sollte. Denn gerade bei Musterfeststellungsverfahren kommt es auf die rechtliche Fachkompetenz in dem Sachverhalt an, der dem Streit zugrunde liegt. Wenn es also um eine versicherungsrechtliche Frage oder eine mietvertragliche Frage geht, soll der Versicherungssenat oder Mietsenat zuständig sein, nicht ein Senat, der von dieser Materie nichts versteht. Das betroffene materielle Recht muss bei der Zuständigkeit gegenüber dem anzuwendenden Verfahrensrecht dominieren.

Waßmuth: Bei der Musterfeststellungsklage obliegt die Prozessführung einem Verbraucherverband, unter dem KapMuG dem aus der Gruppe der selbst Anspruchsberechtigten ausgewählten Musterkläger. Ist eines der beiden Konzepte vorzugswürdig? Wie bewerten Sie das Konzept einer Gruppenklage?

Hirsch: Was verstehen Sie unter Gruppenklage? Ich verstehe darunter, dass eine Klage anhängig ist, entschieden wird, und dann aber alle diejenigen, die die gleichen Voraussetzungen erfüllen wie der Kläger, in den Genuss der Rechtskraft kommen, obwohl sie gar nicht an dem Verfahren beteiligt waren. Oder meinen Sie was anderes?

Waßmuth: Sie haben völlig recht, da geht die Terminologie schnell durcheinander. So wie der Begriff im politischen Prozess geprägt wurde, vor allen Dingen von den Grünen, die für die Gruppenklage sind, ist die Gruppenklage das Konzept des KapMuG. Nicht ausschließlich eine klagequalifizierte Einrichtung, sondern eine Klägergruppe wird in die Lage versetzt, ein Musterverfahren zu initiieren.

Hirsch: Also nicht gemeint ist das US-Vorbild der class action. Diese sieht ja vor, dass auch Personen, die in keiner Weise an der Klage beteiligt waren, in den Genuss des Urteils kommen, das gesprochen wird. Dagegen hätte ich Bedenken. Bei einem Vergleich der unterschiedlichen Beteiligtenregelungen im KapMuG und im MFKG würde ich eine Regelung vorziehen, nach der sich alle, deren Ansprüche von den Feststellungszielen abhängen, zum Klageregister eintragen können. Diese im MFKG gewählte Regelung hat eine erheblich größere Breitenwirkung.

Asmus: In Deutschland plädiert für die Übernahme der class action nach US-Vorbild meines Wissens auf politischer Ebene niemand.

Hirsch: Das würde auch dem deutschen System grundlegend widersprechen. Denn es ist das Grundprinzip unseres Zivilprozessrechts, dass zwei Parteien kontradiktorisch miteinander streiten und nur zwischen diesen beiden Parteien die Entscheidungen dann in Rechtskraft erwachsen. Dass in der Praxis, wenn der BGH eine Grundsatzfrage entschieden hat, sich auch alle Gerichte daran halten, ist ein gutes und ausreichendes Korrelat. Es gibt wenige Ausnahmen, die sind dann auch berechtigt. Aber im Prinzip sollte die Rechtskraft, die Wirkung eines Urteils, auf die Beteiligten begrenzt sein. Das ist unser kontinentales System. Dabei sollte es bleiben.

Lesen Sie das gesamte Interview im Kommentar Kollektive Rechtsdurchsetzung.

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