AG Wiesbaden: Keine Akteneinsicht in die Messreihe

von Carsten Krumm, veröffentlicht am 30.11.2021
Rechtsgebiete: Verkehrsrecht|2774 Aufrufe

Das AG Wiesbaden war mit der gerade heiß umstrittenen Akteneinsichtsproblematik befasst. Ein Einsichtrecht des Verteidigers in die Messreihe hat es abgelehnt. Sicher nach dem derzeitigen Stand der Rechtsprechung vertretbar, auch wenn ich das anders sehe (so etwa dargelegt in Staub/Lerch/Krumm, DAR 2021, 125). 

 

Der Antrag des Betroffenen auf gerichtliche Entscheidung wird als unbegründet zurückgewiesen.

 Die Kosten des Verfahrens trägt der Betroffene.

 Die Entscheidung ist unanfechtbar.

 Gründe:

 Der Antrag des Betroffenen gemäß § 62 OWiG ist zulässig, aber unbegründet.

 In vorgenanntem Bußgeldverfahren hat sich der Verteidiger mit Schriftsatz vom 09.08.2021 für den Betroffenen legitimiert und Akteneinsicht beantragt. Hierauf hat die Verwaltungsbehörde ihm am 17.08.2021 Akteneinsicht gewährt und dem Verteidiger mit der Akte unter anderem die folgenden Unterlagen zur Verfügung gestellt:

 -Das Messfoto

 -Das Messprotokoll

 -Den Eichschein

 -Den Schulungsnachweis des Messbeamten

 -Die Falldatei/digitale Rohmessdaten zur Messung des Betroffenen

 -Onlinezugang zum Downloadportal für die Bedienungsanleitung des Messgeräts

 -Den Beschilderungsplan

 -Dienstliche Stellungnahmen

 Mit Schriftsatz vom 07.09.2021 hat der Verteidiger die Entscheidung durch das Gericht hinsichtlich des nicht gewährten Zugangs zur kompletten Messreihe beantragt.

 Das Regierungspräsidium Kassel hat unter dem 10.09.2021 dem Antrag nicht abgeholfen und das Verfahren an das zuständige Gericht abgegeben.

 Der Antrag ist gemäß § 62 OWIG i.V.m. der Rechtsprechung des BVerfG, Beschluss vom Beschluss vom 12.11.2020 – 2 BvR 1616/18 zulässig, aber unbegründet.

 Dem Verteidiger sind bereits alle relevanten Unterlagen zu dem Messgerät, welche der Verwaltungsbehörde zur Verfügung stehen, zur Verfügung gestellt worden. Insbesondere ist dem Verteidiger die Falldatei nebst Token zur Verfügung gestellt worden, aus welcher das Messbild reproduzierbar ist, als auch die Bedienungsanleitung zum Messgerät.

 Auch unter Beachtung der Entscheidung des BVerfG vom 12.11.2020, BvR 1616/18 steht dem Betroffenen über die gewährte Einsicht hinaus ein Recht auf Zugang zu weiteren, außerhalb der Akte befindlichen Informationen, insbesondere der vollständigen Rohmessdaten der Messreihe nicht zu (vgl. BayObLG, Beschluss v. 04.01.2021, 202 ObOWi 1532/20, zitiert nach juris). Einen Anspruch auf Einsicht in die gesamte Messreihe hat der Betroffene nicht.

 Zum einen bringt die gesamte Messreihe selbst dann keine verwertbare Aussage, wenn eine Einzelmessung deutlich außerhalb des Bereichs von Geschwindigkeiten fällt, die üblicherweise am jeweiligen Messort gefahren werden (siehe insoweit: Physikalisch-Technische Bundesanstalt, Der Erkenntniswert von Statistikdatei, gesamter Messreihe und Annulationsrate in der amtlichen Geschwindigkeitsüberwachung in der Fassung vom 30. März 2020, http://doi.org/10.7795/520.20200330). Zum anderen ist es mit dem Bundesverfassungsgericht aus datenschutzrechtlichen Gründen nicht zulässig, mit der gesamten Messreihe oder Teilen davon die Kfz-Kennzeichen anderer gemessener Fahrzeuge, wie auch Fotos von Insassen anderer Fahrzeuge dem Betroffenen notgedrungen zugänglich zu machen, nur, weil sie integraler Bestandteil der originalen Falldateien sind. Denn diese Daten Dritter haben keinerlei Bezug zum konkreten verfahrensgegenständlichen Tatvorwurf des Betroffenen (vgl. PTB a.a.O.).

 Abschließend ergibt sich auch aus den durch den Verteidiger angeführten Beschlüssen des BVerfG kein Anspruch auf die begehrten Unterlagen. Dies auch nicht aus den neueren Entscheidungen vom 04.05.2021, BvR 868/2020 und vom 28.04.2021, BvR 1451/18.

 Diese Entscheidungen stellen lediglich klar, dass aus dem Recht auf ein faires Verfahren für den Betroffenen grundsätzlich ein Anspruch auf Zugang zu den nicht bei der Bußgeldakte befindlichen, aber bei der Bußgeldbehörde vorhandenen Informationen folgen kann. Schon das Bestehen dieses Anspruchs steht damit nicht allgemein fest, sondern muss im Einzelfall geprüft werden. Aus diesem Grund verstößt lediglich „die generelle Versagung des Begehrens des Betroffenen auf Informationszugang“ gegen den Grundsatz des fairen Verfahrens (BVerfG a.a.O. jeweils Rn. 5).

 Aus diesen Entscheidungen folgt demnach nicht das grundsätzliche Recht auf Zugang zu den Informationen, sondern vielmehr auf einzelfallbezogene und konkrete Prüfung, ob und falls ja, in welchem Umfang ein solches Recht besteht und zu gewähren ist.

 Aus diesen Gründen ist dem Informationsinteresse des Betroffenen unter Berücksichtigung seiner Verteidigungsinteressen, des standardisierten Messverfahrens und der Wissensparität durch die Akteneinsicht der Verwaltungsbehörde bereits in ausreichendem Umfang entsprochen worden.

 Ein weitergehender Anspruch auf Informations- und Zugangsgewährung besteht nicht.

 Diese Entscheidung ist gemäß §§ 52, 62 Abs. 2 S. 3 OWiG unanfechtbar.

 Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 62 Abs. 2 S. 2 OWiG, 473 Abs. 3, 4 StPO.

AG Wiesbaden Beschl. v. 18.10.2021 – 90 OWi 24/21, BeckRS 2021, 32489 

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