BVerfG: Schulschliessungen während Bundesnotbremse zulässig

von Sibylle Schwarz, veröffentlicht am 30.11.2021
Rechtsgebiete: BildungsrechtCorona1|3301 Aufrufe

Mit heute veröffentlichtem Beschluss hat das Bundesverfassungsgericht mehrere Verfassungsbeschwerden zurückgewiesen, die sich gegen das vollständige oder teilweise Verbot von Präsenzunterricht an allgemeinbildenden Schulen zum Infektionsschutz („Schulschließungen“) nach der vom 22. April bis zum 30. Juni 2021 geltenden „Bundesnotbremse“ richten.

Eine Zusammenfassung der 71-seitigen Entscheidung. [Hervorhebungen und Markierungen durch Bloggerin]

 

BVerfG, Beschluss des Ersten Senats vom 19. November 2021

- 1 BvR 971/21 -, Rn. 1-222,

Siehe auch Pressemitteilung Nr. 100/2021 vom 30. November 2021

 

 

In den Verfahren über die Verfassungsbeschwerden 1 BvR 971/21 und 1 BvR 1069/21 auch von Minderjährigen, gesetzlich vertreten durch die Eltern, (1 BvR 971/21 und 1 BvR 1069/21)

gegen

§ 28b Absatz 3 Satz 1 Halbsatz 2, Satz 2, Satz 3, Satz 10, § 33 Nummer 1 des Infektionsschutzgesetzes (IfSG) in der Fassung des Vierten Gesetzes zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite vom 22. April 2021 (Bundesgesetzblatt I Seite 802), zuletzt geändert durch Gesetz vom 28. Mai 2021 (Bundesgesetzblatt I Seite 1174)

und

§ 28b Absatz 3 Satz 3 des Infektionsschutzgesetzes in der Fassung des Vierten Gesetzes zum Schutz der Bevolkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite vom 22. April 2021 (Bundesgesetzblatt I Seite 802), zuletzt geandert durch Gesetz vom 28. Mai 2021 (Bundesgesetzblatt I Seite 1174)

hat das Bundesverfassungsgericht - Erster Senat - am 19. November 2021 beschlossen und am heutigen 30. November 2021 veröffentlicht:

Die Verfassungsbeschwerden werden zurückgewiesen.

 

 

Wogegen richten sich Verfassungsbeschwerden?

Die Verfassungsbeschwerden richten sich gegen Verbot und Beschränkung von Präsenzunterricht an allgemeinbildenden Schulen zum Infektionsschutz in Gestalt eines Gebots von Wechselunterricht (Wechsel von Präsenzunterricht in der Schule und Distanzunterricht zuhause) oder einer vollständigen Untersagung des Präsenzschulbetriebs.

Das Verbot war als § 28b Abs. 3 des Infektionsschutzgesetzes (IfSG) Bestandteil eines Gesamtschutzkonzepts mit einem Maßnahmenbündel, das mit dem Vierten Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite vom 22. April 2021 (BGBl I S. 802) bundesweit zur Verhinderung der Ausbreitung des Coronavirus SARS-CoV-2 eingeführt und zuletzt mit Art. 1 Nr. 2, Art. 4 Abs. 4 des Zweiten Gesetzes zur Änderung des Infektionsschutzgesetzes und weiterer Gesetze vom 28. Mai 2021 (BGBl I S. 1174) mit Wirkung zum 4. Mai 2021 neu gefasst wurde („Bundesnotbremse“ nach § 28b IfSG).

 

 

Welches Gesetz steht im Streit?

I. 1. Mit den angegriffenen Vorschriften wurde der Präsenzunterricht an allgemein und berufsbildenden Schulen vollständig untersagt, wenn in einem Landkreis oder einer kreisfreien Stadt an drei aufeinanderfolgenden Tagen die Sieben-Tage-Inzidenz der Neuinfektionen mit dem Coronavirus SARS-CoV-2 den Schwellenwert von 165 je 100.000 Einwohner überschritt; ab einem Schwellenwert von 100 durfte Präsenzunterricht nur zeitlich begrenzt in Form von Wechselunterricht stattfinden (§ 28b Abs. 3 Satz 2 und 3 IfSG). Die Länder konnten Abschlussklassen und Förderschulen von dem Verbot von Präsenzunterricht ausnehmen (§ 28b Abs. 3 Satz 5 IfSG) und eine Notbetreuung nach von ihnen festgelegten Kriterien einrichten (§ 28b Abs. 3 Satz 6 IfSG). Die Durchführung von Präsenzunterricht war nur zulässig bei Einhaltung angemessener Schutz- und Hygienekonzepte (§ 28b Abs. 3 Satz 1 Halbsatz 1 IfSG). Schülerinnen und Schüler sowie Lehrkräfte durften nur dann am Präsenzunterricht teilnehmen, wenn sie zweimal in der Woche mittels eines anerkannten Tests auf eine Infektion mit dem Coronavirus SARS-CoV-2 getestet wurden (§ 28b Abs. 3 Satz 1 Halbsatz 2 IfSG). Untersagt war bei Überschreitung eines Schwellenwertes der Sieben-Tage-Inzidenz von 165 im jeweiligen Landkreis oder einer kreisfreien Stadt zudem unter anderem der Betrieb von Kindertageseinrichtungen (§ 28b Abs. 3 Satz 10, § 33 Nr. 1 IfSG). Bei Unterschreiten der relevanten Schwellen traten die Beschränkungen nach Maßgabe von § 28b Abs. 3 Satz 7 bis 9 IfSG außer Kraft.

§ 28b Abs. 10 IfSG begrenzte die Geltung der Vorschrift auf die Dauer der Feststellung einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite nach § 5 IfSG, längstens jedoch bis zum Ablauf des 30. Juni 2021. Dass eine epidemische Lage von nationaler Tragweite besteht, hatte der Bundestag erstmals mit Beschluss vom 25. März 2020 mit Wirkung zum 28. März 2020 festgestellt und diese Feststellung seitdem fortlaufend wiederholt. Der Geltungszeitraum des angegriffenen § 28b IfSG wurde über den 30. Juni 2021 hinaus nicht verlängert.

2. …

3. Die Verbote von Präsenzunterricht – auch durch die angegriffene Regelung des § 28b Abs. 3 Satz 2 und 3 IfSG – gingen mit der Einführung eines Distanzschulbetriebs einher, dessen Ausgestaltung und Umsetzung im Rahmen von Leitlinien der Kultusministerien weitgehend den Schulen oblag. Begleitet wurde die Beschränkung des Präsenzschulbetriebs zudem durch eine schulische Notbetreuung. Auch deren Ausgestaltung oblag den Ländern. Die Notbetreuung sollte vor allem die Berufstätigkeit der Eltern schulpflichtiger Kinder ermöglichen und für Schüler mit Behinderungen oder sonderpädagogischem Förderbedarf sowie in besonderen Härtefällen zur Verfügung stehen.

 

 

Wer sind die Beschwerdeführer?

II. 1. Die Beschwerdeführerinnen und der Beschwerdeführer des Verfahrens 1 BvR 971/21 wohnen in München. Der Beschwerdeführer zu 1. und die Beschwerdeführerin zu 2. sind beide in Vollzeit berufstätig. Ihre Kinder besuchten im Schuljahr 2020/2021 ein staatliches Gymnasium (Beschwerdeführerinnen zu 3. und 4.) und eine Grundschule (Beschwerdeführerin zu 5.); die Beschwerdeführerin zu 6. besuchte eine Kindertageseinrichtung.

Die Beschwerdeführerin zu 1. und der Beschwerdeführer zu 2. des Verfahrens 1 BvR 1069/21 leben im Landkreis Schwäbisch-Hall. Die Beschwerdeführerin zu 1. ist alleinerziehend und berufstätig. Ihr Sohn, der Beschwerdeführer zu 2., besuchte im Schuljahr 2020/2021 eine Grundschule in privater Trägerschaft.

 

Die beschwerdeführenden Schülerinnen und Schüler rügen insbesondere die Verletzung ihres Rechts auf Bildung, das sich aus dem Grundrecht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit nach Art. 2 Abs. 1 GG ergebe und auch völkerrechtlich anerkannt sei. Der Eingriff in dieses Grundrecht durch das Verbot von Präsenzunterricht sei unverhältnismäßig. ….

 

 

Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (formell)

B.

Die Verfassungsbeschwerden sind zulässig, soweit das Verbot schulischen Präsenzunterrichts nach § 28b Abs. 3 Satz 2 und 3 IfSG angegriffen wird.

… Im Ergebnis genügt die Verfassungsbeschwerde im Verfahren 1 BvR 971/21 diesen Begründungsanforderungen nicht, soweit die Regelungen zur Testobliegenheit (§ 28b Abs. 3 Satz 1 Halbsatz 2 IfSG) und zur inzidenzabhängigen Schließung von Kindertagesstätten (§ 28b Abs. 3 Satz 10, § 33 Nr. 1 IfSG) angegriffen werden; sie ist insoweit unzulässig (1, 2). …

2. Die Verfassungsbeschwerde ist auch insoweit unzulässig, als die Beschwerdeführerin zu 6. im Verfahren 1 BvR 971/21 das Verbot einer Öffnung von Kindertageseinrichtungen bei Überschreiten einer Sieben-Tage-Inzidenz von 165 gemäß § 28b Abs. 3 Satz 10, § 33 Nr. 1 IfSG angreift. … Sie verweist lediglich auf den Vortrag der Beschwerdeführerinnen zu 3. bis 5. zur schulischen Bildung, legt aber nicht dar, was daraus für eine Schließung von Kindertageseinrichtungen folgen sollte. …

 

 

Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (inhaltlich)

C.

Die Verfassungsbeschwerden bleiben ohne Erfolg. Zwar ist das Recht auf schulische Bildung grundrechtlich geschützt. Das Verbot von Präsenzunterricht nach § 28b Abs. 3 Satz 2 und 3 IfSG verletzte jedoch nicht das Recht auf schulische Bildung der beschwerdeführenden Schülerinnen und Schüler (I.). Es verletzte auch nicht das Recht der Beschwerdeführerin zu 1. im Verfahren 1 BvR 1069/21 auf freie Bestimmung des Bildungsganges ihres Sohnes (II.) oder das von dem Beschwerdeführer zu 1. und der Beschwerdeführerin zu 2. als Eltern schulpflichtiger Kinder im Verfahren 1 BvR 971/21 geltend gemachte Familiengrundrecht des Art. 6 Abs. 1 GG (III.).

 

I. Das Verbot von Präsenzunterricht griff in das nach Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 7 Abs. 1 GG geschützte Recht auf schulische Bildung ein (1). Der Eingriff war jedoch verfassungsrechtlich gerechtfertigt, weil die angegriffene Regelung sowohl formell (2) als auch materiell (3) verfassungsgemäß war (zu diesem Erfordernis grundlegend BVerfGE 6, 32 <40>; stRspr).

1. Die beschwerdeführenden Schülerinnen und Schüler können sich unter Berufung auf ihr grundrechtlich geschütztes Recht auf schulische Bildung gegen das infektionsschutzrechtliche Verbot von Präsenzunterricht gemäß § 28b Abs. 3 Satz 2 und 3 IfSG wenden.

Mit dem Auftrag des Staates zur Gewährleistung schulischer Bildung nach Art. 7 Abs. 1 GG korrespondiert ein im Recht der Kinder auf freie Entwicklung und Entfaltung ihrer Persönlichkeit nach Art. 2 Abs. 1 GG verankertes Recht auf schulische Bildung gegenüber dem Staat (in BVerfGE 45, 400 <417> noch ausdrücklich offen gelassen; a und b). Dieses Recht auf schulische Bildung nach Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 7 Abs. 1 GG weist verschiedene Gewährleistungsdimensionen auf (c).

 

Ihm kann im Grundsatz kein Anspruch auf eine bestimmte Form der Wahrnehmung des aus Art. 7 Abs. 1 GG folgenden Auftrags zur Gestaltung staatlicher Schulen entnommen werden (c aa und c bb). Es gewährleistet aber allen Kindern eine diskriminierungsfreie Teilhabe an den vom Staat zur Verfügung gestellten Schulen (c cc).

Schülerinnen und Schüler können sich darüber hinaus gegen staatliche Maßnahmen wenden, welche die ihnen an ihrer Schule eröffneten Möglichkeiten schulischer Bildung einschränken, ohne das Schulsystem selbst zu verändern. Solche Eingriffe in das Recht auf schulische Bildung sind am Maßstab des Verhältnismäßigkeitsgebots zu messen (c dd). Das Recht auf schulische Bildung vermittelt ein Abwehrrecht auch insoweit, als staatliche Maßnahmen die an Privatschulen eigenverantwortlich gestaltete und den Schülern vertraglich eröffnete Schulbildung einschränken (d). Diese Bestimmung des Schutzbereichs und der Gewährleistungsdimensionen des grundrechtlich geschützten Rechts auf schulische Bildung steht in Einklang mit dem völkerrechtlichen Verständnis eines „Rechts auf Bildung“ (e). Das infektionsschutzrechtliche Verbot von Präsenzunterricht nach § 28b Abs. 3 Satz 2 und 3 IfSG stellte einen Eingriff in das Recht der Kinder und Jugendlichen auf schulische Bildung dar … (Rn 41-45)

 

 

Im Einzelnen dazu:

a) … Das Recht der Kinder und Jugendlichen auf freie Entfaltung ihrer Persönlichkeit nach Art. 2 Abs. 1 GG enthält auch ein Recht gegenüber dem Staat, ihre Entwicklung zu einer eigenverantwortlichen Persönlichkeit auch in der Gemeinschaft durch schulische Bildung gemäß dem Bildungsauftrag nach Art. 7 Abs. 1 GG zu unterstützen und zu fördern (Recht auf schulische Bildung). … Nach Art. 7 Abs. 1 GG kommt dem Staat die Aufgabe zu, ein Schulsystem zu schaffen, das allen Kindern und Jugendlichen gemäß ihren Fähigkeiten die dem heutigen gesellschaftlichen Leben entsprechenden Bildungsmöglichkeiten eröffnet, um so ihre Entwicklung zu einer eigenverantwortlichen Persönlichkeit innerhalb der sozialen Gemeinschaft umfassend zu fördern und zu unterstützen (vgl. BVerfGE 34, 165 <182, 188 f.>; 47, 46 <72>; 93, 1 <20>). … Der Staat kommt also, wenn er gemäß dem Auftrag aus Art. 7 Abs. 1 GG die Schulbildung gewährleistet, zugleich seiner ihm nach Art. 2 Abs. 1 GG gegenüber den Kindern und Jugendlichen obliegenden Pflicht nach, sie bei ihrer Persönlichkeitsentwicklung zu unterstützen und zu fördern. Das durch Art. 2 Abs. 1 GG geschützte Recht der Kinder und Jugendlichen ist folglich das subjektiv-rechtliche „Gegenstück“ …

 

b) Der Schutzbereich dieses Rechts umfasst, soweit es nicht um die durch Art. 12 Abs. 1 GG geschützte berufsbezogene Ausbildung geht (vgl. dazu BVerfGE 58, 257 <273>), die Schulbildung als Ganze.

… Einen wesentlichen Beitrag hierzu leistet die Herausbildung sozialer Kompetenzen durch die in der Schule stattfindende soziale Interaktion der Schülerinnen und Schüler untereinander und mit dem Lehrpersonal (vgl. BVerfGK 1, 141 <143>; 8, 151 <155>).

Die Schulbildung erfüllt so auch die Aufgabe, die elterliche Pflege und Erziehung bei der Förderung der Entwicklung der Kinder zu einer eigenverantwortlichen Persönlichkeit zu ergänzen und durch die Herstellung gleicher Bildungschancen alle Kinder und Jugendlichen zu einer selbstbestimmten Teilhabe an der Gesellschaft zu befähigen (vgl. BVerfGE 34, 165 <189>).

 

c) Das Recht auf schulische Bildung umfasst verschiedene Gewährleistungsdimensionen.

 

aa) Das Recht auf schulische Bildung, das außerhalb von Privatschulen nur durch die Inanspruchnahme von Bildungsleistungen des Staates verwirklicht werden kann, gibt den einzelnen Schülerinnen und Schülern im Grundsatz keinen originären Leistungsanspruch auf eine bestimmte Gestaltung staatlicher Schulen. …

… Die dem Staat gemäß Art. 7 Abs. 1 GG obliegende Gestaltung des Schulsystems umfasst die organisatorische Gliederung der Schule, die strukturellen Festlegungen des Ausbildungssystems, das inhaltliche und didaktische Programm der Lernvorgänge und das Setzen der Lernziele, die Entscheidung darüber, ob und wieweit diese Ziele von den Schülern erreicht worden sind, sowie die Bestimmung der Voraussetzungen für den Zugang zur Schule, den Übergang von einem Bildungsweg zum anderen und die Versetzung innerhalb eines Bildungsganges (vgl. BVerfGE 34, 165 <182>; 45, 400 <415>; 53, 185 <196>). Darüber hinaus steht das Recht der Eltern auf Bestimmung des Bildungsweges ihrer Kinder unter dem Vorbehalt des Möglichen (vgl. BVerfGE 34, 165 <184>). …

… Auch aus diesem Recht können keine individuellen Ansprüche auf die wunschgemäße Gestaltung von Schule abgeleitet werden; dies wäre angesichts der Vielfalt der Bildungsvorstellungen der einzelnen Schülerinnen und Schüler auch schlicht nicht umzusetzen (vgl. BVerfGE 45, 400 <415 f.>). Die Schule soll vielmehr für alle Kinder und Jugendlichen eine Grundlage für ihre Entwicklung zu einer eigenverantwortlichen Persönlichkeit in der Gemeinschaft legen. Daher ist es auch Aufgabe des Staates, die verschiedenen Bildungsfaktoren wie die Erschließung und Förderung individueller Begabungen, die Vermittlung von Allgemeinbildung und von sozialen Kompetenzen bei der Festlegung schulischer Strukturen aufeinander abzustimmen. …

… Der Staat kann sich darüber hinaus auch hinsichtlich des Rechts auf schulische Bildung auf einen Vorbehalt des Möglichen berufen. … Denn in erster Linie hat der Gesetzgeber in eigener Verantwortung zu entscheiden, in welchem Umfang die vorhandenen Mittel unter Berücksichtigung anderer gleichrangiger Staatsaufgaben für Zwecke der Schulbildung eingesetzt werden sollen (vgl. BVerfGE 96, 288 <305 f.> m.w.N.). …

 

bb) Vor diesem Hintergrund kann zwar grundsätzlich keine bestimmte Gestaltung von Schule verlangt werden. Aus dem Recht auf schulische Bildung folgt jedoch ein grundrechtlich geschützter Anspruch von Schülerinnen und Schülern auf Einhaltung eines nach allgemeiner Auffassung für ihre chancengleiche Entwicklung zu einer eigenverantwortlichen Persönlichkeit unverzichtbaren Mindeststandards von Bildungsangeboten an staatlichen Schulen …

 

cc) Dem Recht auf schulische Bildung der Kinder und Jugendlichen kommt eine teilhaberechtliche Gewährleistungsdimension zu. Insoweit geht es schon wegen der von den Ländern normierten Schulpflicht nicht um ein Recht auf Zugang zu staatlichen Schulen überhaupt, sondern um den Zugang zu bestimmten Bildungsangeboten. … Der Zugang der Kinder und Jugendlichen zu den verschiedenen, an staatlichen Schulen angebotenen Bildungsgängen ist also Voraussetzung dafür, dass diese sich im Interesse ihrer Persönlichkeitsentwicklung nach eigenen Vorstellungen schulisch bilden können. Daher folgt aus dem Recht auf schulische Bildung in Verbindung mit dem allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG ein Recht auf gleiche Teilhabe an den staatlichen Bildungsleistungen (vgl. BVerfGE 33, 303 <332 ff.>; 134, 1 <13 Rn. 36> und 147, 253 <305 f. Rn. 103 f.> zum gleichen Zugang zum staatlichen Studienangebot). …

… Denn es besteht nur nach Maßgabe der vom Staat im Rahmen seiner bildungspolitischen Gestaltungsfreiheit zur Verfügung gestellten Bildungsgänge und Schulstrukturen sowie der Voraussetzungen, die er für den Zugang zur Schule, den Übergang von einem Bildungsweg zum anderen und die Versetzung innerhalb des Bildungsganges festgelegt hat …

 

dd) Schülerinnen und Schüler können sich darüber hinaus aber auch gegen staatliche Maßnahmen wenden, welche die ihnen an ihrer Schule eröffneten Möglichkeiten zur Wahrnehmung ihres Rechts auf schulische Bildung einschränken, ohne dass diese Maßnahmen das in Ausgestaltung von Art. 7 Abs. 1 GG geschaffene Schulsystem als solches betreffen.

… Wird diese spezifisch schulische Entfaltungsmöglichkeit durch staatliche Maßnahmen eingeschränkt, liegt darin – wie bei Beeinträchtigungen anderer Grundrechte auch – ein Eingriff, gegen den sich Schüler wenden können. … Daher können sich die Schülerinnen und Schüler nur gegen solche Maßnahmen wenden, die zwar die Ausübung des Rechts auf schulische Bildung einschränken, das vom Staat zur Wahrnehmung dieses Rechts bereitgestellte Schulsystem selbst jedoch unberührt lassen, wie …

 

d) Auch Schülerinnen und Schüler an Privatschulen können sich auf ein nach Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 7 Abs. 1 GG geschütztes Recht auf schulische Bildung berufen. …

 

e) Dieses im Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit der Kinder nach Art. 2 Abs. 1 GG verankerte, mit dem Bildungsauftrag aus Art. 7 Abs. 1 GG korrespondierende und in verschiedenen Dimensionen grundrechtlich gewährleistete Recht auf schulische Bildung steht in Einklang mit der völkerrechtlichen Gewährleistung eines „Rechts auf Bildung“ und Unionsrecht. …

 

f) Das Verbot von Präsenzunterricht gemäß § 28b Abs. 3 Satz 2 und 3 IfSG griff in das Recht der Schülerinnen und Schüler auf schulische Bildung nach Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 7 Abs. 1 GG ein.

… Von der Maßnahme betroffen ist nicht etwa der Zugang zur Schule oder zu bestimmten Bildungsgängen und Klassenstufen an sich. Die Maßnahme ist auch nicht auf eine Änderung der staatlichen Ausgestaltung von Unterricht gerichtet. Denn das Verbot von Präsenzunterricht beruhte weder auf schulgestalterischen Erwägungen, wie etwa einer Ausweitung von Distanzunterricht aus pädagogischen oder didaktischen Gründen, noch wurde damit auf eine Knappheit öffentlicher Mittel reagiert.

Vielmehr diente die Maßnahme allein dem gefahrenabwehrrechtlichen Ziel der Bekämpfung der Pandemie durch Verhinderung zwischenmenschlicher Kontakte an Schulen. Das zur Wahrnehmung des Rechts auf schulische Bildung geschaffene Schulsystem an sich, das den Präsenzunterricht als Regelunterrichtsform vorsieht, blieb dabei unverändert bestehen …

 

 

2. Der durch die Beschränkung des Präsenzunterrichts nach § 28b Abs. 3 Satz 2 und 3 IfSG bewirkte Eingriff in das Recht der Schülerinnen und Schüler auf schulische Bildung war formell verfassungsgemäß. Der Bund konnte sich insoweit auf eine Gesetzgebungskompetenz stützen (a). Dem Zustandekommen des Vierten Gesetzes zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite vom 22. April 2021 stand die fehlende Zustimmung des Bundesrates nicht entgegen (Art. 78 GG), weil es einer solchen nicht bedurfte (b).

 

a) Dem Bund stand für das Verbot von Präsenzunterricht durch § 28b Abs. 3 Satz 2 und 3 IfSG die konkurrierende Gesetzgebungszuständigkeit nach Art. 74 Abs. 1 Nr. 19 GG zu, weil es sich um eine Maßnahme gegen übertragbare Krankheiten bei Menschen handelte …

bb) Nach diesen Maßstäben handelte es sich beim Verbot von Präsenzunterricht nach § 28b Abs. 3 Satz 2 und 3 IfSG um eine Maßnahme gegen übertragbare Krankheiten beim Menschen. Sie war dem Kompetenztitel des Art. 74 Abs. 1 Nr. 19 GG zugeordnet. Der Bund hatte daher die Gesetzgebungszuständigkeit. …

 

… Ausgehend davon stellte das Verbot von Präsenzunterricht hier in Gestalt eines Gebots von Wechselunterricht (§ 28b Abs. 3 Satz 2 IfSG) und einer vollständigen Untersagung von Präsenzunterricht (§ 28b Abs. 3 Satz 3 IfSG) nach Regelungsgegenstand und Zweck eine ausschließlich auf die Bekämpfung von Erkrankungen durch das Coronavirus SARS-CoV-2 bezogene Maßnahme dar. Das Verbot galt nur dann und nur in dem Landkreis oder in der kreisfreien Stadt, in dem oder in der bestimmte Inzidenzschwellenwerte überschritten wurden; mit dem Unterschreiten der maßgeblichen Schwellenwerte trat das Verbot wieder außer Kraft, so dass Bundesrecht der Durchführung von Präsenzunterricht nicht mehr entgegenstand (vgl. § 28b Abs. 3 Satz 7 bis 9 IfSG). …

 

 

 3. Der Eingriff in das Recht auf schulische Bildung der Schülerinnen und Schüler aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 7 Abs. 1 GG durch das Verbot von Präsenzunterricht gemäß § 28b Abs. 3 Satz 2 und 3 IfSG stand auch materiell in Einklang mit der Verfassung.

Es diente verfassungsrechtlich legitimen Zwecken (a),

war zur Verfolgung dieser Zwecke geeignet (b)

und erforderlich (c)

sowie nach Maßgabe der bei Verabschiedung des Gesetzes vorliegenden Erkenntnisse seinerzeit angemessen (d).

(ab Rn 107)

 

a) Das Verbot von Präsenzunterricht diente verfassungsrechtlich legitimen Zwecken, die der Gesetzgeber in Erfüllung grundrechtlicher Schutzpflichten aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG erreichen wollte. … Auch das Verbot von Präsenzunterricht diente dazu, Infektionen zu vermeiden. Der Gesetzgeber ging davon aus, dass in Schulen aufgrund der Vielzahl von Personenkontakten sowie der räumlichen und sonstigen Rahmenbedingungen im Lehrbetrieb ein höheres Ansteckungsrisiko für eine größere Gruppe von Schulkindern und mittelbar auch deren Familienangehörige bestand. …

 

b) Der nach § 28b Abs. 3 Satz 2 und 3 IfSG bei Überschreiten hoher Inzidenzwerte angeordnete Wegfall von Präsenzunterricht war im verfassungsrechtlichen Sinne geeignet, Infektionen zu verhindern, um so einen Beitrag zum Schutz von Leib und Leben der Bevölkerung und der Aufrechterhaltung eines funktionsfähigen Gesundheitssystems zu leisten. … Der Gesetzgeber verfügt in der Beurteilung der Eignung einer Regelung über eine Einschätzungsprärogative. Es genügt grundsätzlich, wenn die Möglichkeit der Zweckerreichung besteht. …

… Die sachkundigen Dritten sind in ihren Stellungnahmen davon ausgegangen, dass sich bei allen bisher aufgetretenen Virusvarianten auch Kinder und Jugendliche mit dem Coronavirus anstecken und dann zu Überträgern dieses Virus werden können …

 

c) Das Verbot von Präsenzunterricht war zum Schutz der Bevölkerung vor infektionsbedingten Gefahren von Leib und Leben und zur Aufrechterhaltung eines funktionsfähigen Gesundheitssystems auch erforderlich. …

Grundrechtseingriffe dürfen nicht weitergehen, als es der Schutz des Gemeinwohls erfordert (vgl. BVerfGE 100, 226 <241>; 110, 1 <28>). Daran fehlt es, wenn ein gleich wirksames Mittel zur Erreichung des Gemeinwohlziels zur Verfügung steht, das den Grundrechtsträger weniger und Dritte und die Allgemeinheit nicht stärker belastet … Dem Gesetzgeber steht grundsätzlich auch für die Beurteilung der Erforderlichkeit ein Einschätzungsspielraum zu … Der Spielraum bezieht sich unter anderem darauf, die Wirkung der von ihm gewählten Maßnahmen auch im Vergleich zu anderen, weniger belastenden Maßnahmen zu prognostizieren. Der Spielraum kann sich wegen des betroffenen Grundrechts und der Intensität des Eingriffs verengen … Umgekehrt reicht er umso weiter, je höher die Komplexität der zu regelnden Materie ist (vgl. BVerfGE 122, 1 <34>; 150, 1 <89 Rn. 173> m.w.N.). Auch hier gilt, dass bei schwerwiegenden Grundrechtseingriffen tatsächliche Unsicherheiten grundsätzlich nicht ohne weiteres zulasten der Grundrechtsträger gehen dürfen. …

 

Allerdings hätte eine Pflicht, sich bei geöffneten Schulen wöchentlich zweimal auf das Vorliegen einer Infektion testen zu lassen, Schülerinnen und Schüler weniger belastet als der angeordnete Wegfall von Präsenzunterricht bei Überschreiten der maßgeblichen Schwellenwerte. Die nachteiligen Folgen des Wegfalls von Präsenzunterricht für die Persönlichkeitsentwicklung der Schüler (unten Rn. 136 ff.) wiegen im Regelfall offenkundig schwerer als etwaige Belastungen, die je nach Ausgestaltung des Verfahrens durch die Länder mit einer Testung verbunden sein mögen.

… Es kann aber nicht mit der gebotenen Eindeutigkeit festgestellt werden, dass es sich um eine mindestens gleich wirksame Alternative gehandelt hätte.

… Es fehlt auch jeder fachwissenschaftlich fundierte Anhaltspunkt dafür, dass bei Durchführung der genannten Alternativmaßnahmen Infektionen eindeutig mindestens gleich wirksam wie durch ein Verbot von Präsenzunterricht hätten eingedämmt werden können.  …

 

(ab Rn 133) d) Das Verbot von Präsenzunterricht nach § 28b Abs. 3 Satz 2 und 3 IfSG war gemessen an den zum maßgeblichen Zeitpunkt der Verabschiedung des Gesetzes verfügbaren Erkenntnissen verhältnismäßig im engeren Sinne. Allerdings beeinträchtigte es zusammen mit den seit Beginn der Pandemie bereits erfolgten Schulschließungen das der Persönlichkeitsentwicklung der Kinder dienende Recht auf schulische Bildung schwerwiegend. Auf der anderen Seite diente die Maßnahme jedoch Gemeinwohlbelangen von überragender Bedeutung.

 

… Die Angemessenheit und damit die Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne erfordern, dass der mit der Maßnahme verfolgte Zweck und die zu erwartende Zweckerreichung nicht außer Verhältnis zu der Schwere des Eingriffs …  Es ist Aufgabe des Gesetzgebers, in einer Abwägung Reichweite und Gewicht des Eingriffs in Grundrechte einerseits der Bedeutung der Regelung für die Erreichung legitimer Ziele andererseits gegenüberzustellen … Auch bei der Prüfung der Angemessenheit besteht grundsätzlich ein Einschätzungsspielraum des Gesetzgebers … Bei der Kontrolle prognostischer Entscheidungen setzt dies wiederum voraus, dass die Prognose des Gesetzgebers auf einer hinreichend gesicherten Grundlage beruht …

 

… Das Verbot von Präsenzunterricht stellte schon für sich genommen und erst recht wegen der kumulativen Wirkung aller seit Beginn der Pandemie erfolgten Schulschließungen eine schwerwiegende Beeinträchtigung des Rechts auf schulische Bildung der Schüler aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 7 Abs. 1 GG dar. …

… Die Lern- und Kompetenzverluste nehmen mit jedem Wegfall von Präsenzunterricht zu und verstärken sich. Jede weitere Schulschließung verschlechtert nochmals die Möglichkeiten zur Entwicklung und Entfaltung der Persönlichkeit der betroffenen Schüler; die Intensität der Beeinträchtigung wächst daher mit jedem Eingriff. Das gilt auch für den Erwerb sozialer Kompetenzen. Je länger die Schulschließungen andauern, desto mehr geht die für die Persönlichkeitsentwicklung wichtige Gruppenfähigkeit verloren. Denn es entfällt ein Raum, in dem die Kinder und Jugendlichen die Aufrechterhaltung sozialer Kontakte in Interaktion mit anderen einüben können. Dies gilt umso mehr, als infolge der zur Bekämpfung der Pandemie ergriffenen Maßnahmen für die Betroffenen auch andere Räume der Begegnung nur eingeschränkt oder gar nicht zur Verfügung standen. Dies konnten auch digitale Räume so nicht ersetzen. …

… Den Stellungnahmen der sachkundigen Dritten lässt sich weiter entnehmen, dass der Präsenzunterricht nicht vorwiegend durch Digitalunterricht, sondern durch die Bereitstellung von Aufgaben ersetzt worden ist …

… Nach sachkundiger Einschätzung ist davon auszugehen, dass der entfallene Präsenzunterricht zu Lernrückständen, negativen Effekten auf die fachspezifische Kompetenzentwicklung sowie Defiziten in der Persönlichkeitsentwicklung geführt hat (Bundeselternrat, BVÖGD, DAKJ, DGfE, ifo Institut und KSB). Das genaue Ausmaß dieser Nachteile ist insgesamt zwar schwer zu beurteilen. Lehrer schätzten aber die Bildungsrückstände schon im Dezember 2020 mehrheitlich als gravierend ein. Die Lernerfolge im Distanzunterricht werden von Schülern und dem Lehrpersonal als schlechter eingeschätzt als im Präsenzunterricht (BKJPP, DAKJ, DGfE und KSB). …

… Übereinstimmend weisen die sachkundigen Dritten darauf hin, dass mit dem Wegfall des Präsenzschulbetriebs ein wichtiger Sozialisationsraum für Kinder und Jugendliche entfallen sei. Kinder und Jugendliche benötigten soziale Kontakte insbesondere für ihre psychosoziale Entwicklung. …

…. Die sachkundigen Dritten weisen in ihren Stellungnahmen einhellig darauf hin, dass die Lernrückstände infolge des Wegfalls von Präsenzunterricht bei Kindern aus sozial benachteiligten Familien wie auch bei den Grundschülern besonders groß seien … Nach übereinstimmenden Aussagen der sachkundigen Dritten waren die etwa drei Millionen Schülerinnen und Schüler an Grundschulen durch das Verbot von Präsenzunterricht ungleich schwerwiegender betroffen als die Schülerinnen und Schüler weiterführender Schulen …

 

… Kindeswohlgefährdungen können insbesondere in der Schule als einem Raum staatlicher Aufsicht erkannt werden. Aus den Schulen erfolgen die zweithäufigsten Meldungen von Kindeswohlgefährdungen. Es ist daher anzunehmen, dass mit dem Wegfall des Präsenzunterrichts deutlich verringerte Möglichkeiten bestanden, frühzeitig entsprechende Anhaltspunkte zu erkennen …

 

… Sichere Erkenntnisse lagen dagegen in Bezug auf Übertragungswege des Virus vor, nämlich das Einatmen virushaltiger, beim Atmen, Husten, Sprechen, Singen und Niesen entstehender virushaltiger Partikel im Nahbereich und von virushaltigen Aerosolen in Räumen. Dementsprechend zielte das Maßnahmenbündel vornehmlich darauf, zwischenmenschliche Kontakte umfassend und effektiv an maßgeblichen Kontaktorten – unter anderem auch an Gemeinschaftseinrichtungen wie der Schule – „herunterzufahren“, um die exponentielle Ausbreitung des Virus möglichst rasch und verlässlich zu durchbrechen. …

… Die Situation im April 2021 war durch die exponentielle Ausbreitung von Infektionen, die Verbreitung neuer, infektiöser und tödlicher wirkender Virusvarianten, einer damit verbundenen Gefahr der nicht mehr möglichen Nachverfolgung von Infektionsketten und einen raschen Anstieg der Zahl infizierter Intensivpatienten geprägt. In dieser Situation musste davon ausgegangen werden, dass bei Untätigkeit viele Menschen infektionsbedingt schwer erkranken und sterben würden und dass in vielen Krankenhäusern eine Überlastung der Intensivstationen mit entsprechenden zusätzlichen Gefahren für Leib und Leben drohte. …

 

 

(ab Rn 159) Sein Schutzkonzept gab nicht einseitig nur dem Gemeinwohlbelang des Schutzes von Leib und Leben Vorrang. Vielmehr enthielt es Regelungen, die diesen Belang gegenüber dem Interesse der von Schulschließungen betroffenen Schüler zurücktreten ließen (unten 1). Der Bundesgesetzgeber durfte zudem davon ausgehen, dass die Länder wegfallenden Präsenzunterricht durch Distanzunterricht teilweise kompensieren würden (unten 2). Das Verbot von Präsenzunterricht war auch nicht deshalb unangemessen, weil die Pandemie bei einer vorgelagerten Mitwirkung des Staates an der Verbesserung der Erkenntnislage (3) oder anderen staatlichen Vorkehrungen (4) möglicherweise weniger belastend hätte bekämpft werden können. Schließlich hat der Gesetzgeber durch die kurze Befristung der Maßnahme der notwendigen Vorläufigkeit seiner Abwägung der gegenläufigen Interessen Rechnung getragen, die den Besonderheiten einer lang andauernden, dynamisch fortwirkenden und mit vielen Ungewissheiten behafteten Gefahrenlage geschuldet ist (5).

 

(1) Zu berücksichtigen ist zunächst, dass der Gesetzgeber auf einen Ausgleich der Individual- und Allgemeininteressen gerichtete Regelungen normiert hat.

(a) Die Reichweite der Maßnahmen war – wie bei anderen Maßnahmen der „Bundesnotbremse“ – von vornherein begrenzt, weil der Präsenzunterricht nur in Landkreisen oder kreisfreien Städten verboten war, in denen der maßgebliche Schwellenwert der Sieben-Tage-Inzidenz überschritten wurde. …

(b) Zum angemessenen Ausgleich der gegenläufigen Interessen trug des Weiteren bei, dass die Länder gemäß § 28b Abs. 3 Satz 6 IfSG eine Notbetreuung „nach von ihnen festgelegten Kriterien“ einrichten konnten. Auch insoweit hat der Bundesgesetzgeber den Belang der Infektionsbekämpfung gegenüber dem Interesse an schulischer Bildung zurücktreten lassen. Die Notbetreuung war zwar vor allem darauf ausgerichtet, zur Entlastung der Familien die an sich durch den Präsenzunterricht geleistete Betreuung der noch betreuungsbedürftigen Schüler in den Fällen zu übernehmen, in denen die Eltern ihrer Berufstätigkeit nicht in der Wohnung nachkommen konnten …

 

(2) Für die Zumutbarkeit des Verbots von Präsenzunterricht spielte darüber hinaus eine maßgebliche Rolle, dass wenigstens die Durchführung von Distanzunterricht im Rahmen des trotz fehlender Kompetenz des Bundes zur Gestaltung schulischen Unterrichts Möglichen gewährleistet war.

… Zwar kann Distanzunterricht den Präsenzunterricht nur begrenzt ersetzen. Die sachkundigen Dritten weisen einhellig darauf hin, dass der Präsenzunterricht wegen der Möglichkeit zur direkten Interaktion zwischen Schülern und Lehrern besonders gut geeignet sei, um Bildung und soziale Kompetenzen erfolgreich und chancengerecht zu vermitteln … Den Stellungnahmen der sachkundigen Dritten kann aber auch entnommen werden, dass Bildungsdefizite und Lerneinbußen infolge von Schulschließungen in erheblichem Umfang verringert werden, wenn Distanzunterricht stattfindet. Bei guter digitaler Ausstattung von Schülern und Lehrkräften und angepassten pädagogischen Konzepten können nach sachkundiger Einschätzung zumindest Fertigkeiten und Wissen auch im Rahmen von Distanzunterricht erfolgreich vermittelt werden …

… Allerdings konnte der Bundesgesetzgeber mangels schulrechtlicher Kompetenzen selbst nicht gewährleisten, dass nach Möglichkeit Distanzunterricht stattfindet, wenn aufgrund der von ihm getroffenen Regelung der Präsenzunterricht entfällt; … Die Länder sind nach Art. 7 Abs. 1 GG verpflichtet, dafür zu sorgen, dass bei einem Verbot von Präsenzunterricht nach Möglichkeit Distanzunterricht stattfindet. …

 

… Nach Art. 7 Abs. 1 GG hat der Staat die Aufgabe, ein Schulsystem zu gewährleisten, das allen Kindern und Jugendlichen gemäß ihren Fähigkeiten die dem heutigen gesellschaftlichen Leben entsprechenden Bildungsmöglichkeiten eröffnet und ihnen so eine möglichst ungehinderte Entfaltung ihrer Persönlichkeit und damit ihrer Anlagen und Befähigungen ermöglicht … Eine solche Situation war hier wegen des pandemiebedingten Wegfalls von Präsenzunterricht über einen längeren Zeitraum gegeben. Die Länder waren auch während der Geltung des § 28b Abs. 3 Satz 2 und 3 IfSG nach Art. 7 Abs. 1 GG verpflichtet, wegfallenden Präsenzunterricht möglichst durch Distanzunterricht zu ersetzen. …

 

Die Erteilung von Unterricht im Austausch zwischen Lehrern und Schülern ist Kernbestandteil des staatlichen Auftrags aus Art. 7 Abs. 1 GG zur Gewährleistung schulischer Bildung. Der für die Persönlichkeitsentwicklung der Schülerinnen und Schüler unverzichtbare Mindeststandard staatlicher Bildungsleistungen wäre evident unterschritten, wenn über einen längeren Zeitraum keinerlei Unterricht stattfände. Das schließt nicht aus, dass – wie hier – aus überwiegenden Gründen des Schutzes von Leib und Leben der Bevölkerung die Durchführung von Präsenzunterricht zur Eindämmung von Infektionen verboten wird. Die Länder sind dann aber aus Art. 7 Abs. 1 GG verpflichtet, die verbleibenden Möglichkeiten zur Wahrung eines Mindeststandards schulischer Bildung zu nutzen. Dazu gehört vor allem der Distanzunterricht. Er ist aus Sicht der Infektionsbekämpfung unproblematisch, da er keine zusätzlichen zwischenmenschlichen Kontakte auslöst. Die Kompensationswirkung des Distanzunterrichts mag zwar für die Grundschüler eingeschränkt sein, weil bei ihnen die erfolgreiche Vermittlung der grundlegenden Kompetenzen wie Lesen und Schreiben von der Möglichkeit direkter und persönlicher Interaktion mit den Lehrern abhängt (DAKJ und DGfE). Der Distanzunterricht ist aber nach sachkundiger Einschätzung jedenfalls für die Schüler ab der Sekundarstufe das wesentliche Mittel, um Bildungsdefizite und Lerneinbußen infolge der Schulschließungen wenigstens teilweise vermeiden zu können (BKJPP, DAKJ sowie Leopoldina, Kinder und Jugendliche in der Coronavirus-Pandemie, 21. Juni 2021, S. 8 f.). Die den Ländern eröffnete Gestaltungsfreiheit bei der Ausgestaltung des Bildungsauftrags nach Art. 7 Abs. 1 GG gab ihnen daher nicht die Befugnis zu entscheiden, ob wegfallender Präsenzunterricht durch Distanzunterricht ersetzt wird oder nicht. Denn insoweit ging es darum, als Mindestvoraussetzung schulischer Bildung zu sichern, dass überhaupt ein Unterricht stattfand, soweit dies aus Gründen des Infektionsschutzes möglich war. Diese verfassungsrechtliche Pflicht der Länder bestand unabhängig davon, ob Präsenzunterricht von ihnen selbst oder durch den Bund untersagt wurde.

 

(3) Der Gesetzgeber war – jedenfalls zum Entscheidungszeitpunkt – nicht deshalb an einem Verbot von Präsenzunterricht gehindert, weil möglicherweise die damit verbundenen Belastungen der Schülerinnen und Schüler bei früherer Verbesserung der Kenntnislage zur Bedeutung des Präsenzunterrichts für das Pandemiegeschehen hätten geringer gehalten werden können. (a) Eine Pandemie bewirkt eine lange andauernde, sich dynamisch entwickelnde und mit vielen Ungewissheiten behaftete Gefährdung von Leib und Leben. …

 

(4) Gegen die Zumutbarkeit des Verbots von Präsenzunterricht spricht im Ergebnis nicht, dass die Bekämpfung von Infektionen im staatlich verantworteten Bereich der Schule grundrechtsschonender hätte ausgestaltet werden können, wenn der Staat hierfür rechtzeitig Vorkehrungen getroffen hätte.

 

(5) Schließlich hat der Gesetzgeber durch die kurze Befristung der „Bundesnotbremse“ verfassungsrechtlich hinreichend darauf reagiert, dass die der gesetzgeberischen Abwägung zugrundeliegende Einschätzung der Gemeinwohlbedeutung und der Eingriffsintensität des Verbots von Präsenzunterricht und damit dessen Verfassungsmäßigkeit angesichts der Dynamik des Infektionsgeschehens und der beginnenden Impfkampagne von Verfassungs wegen zwangsläufig vorläufiger Natur sein musste.

… Die Vorläufigkeit der verfassungsrechtlichen Bewertung der angegriffenen Maßnahmen ergab sich auch aus der damals beginnenden Impfkampagne. Der Gesetzgeber musste davon ausgehen, im weiteren Verlauf der Pandemie eine erneute Abwägung der gegenläufigen Interessen vornehmen zu müssen, weil die Bedeutung der Maßnahmen für den Schutz von Leib und Leben mit zunehmender Immunisierung der Bevölkerung abnehmen und bei einem Impfangebot an alle impffähigen Personen von erheblich geringerem Gewicht sein würde als bei Verabschiedung des Gesetzes.

Das trifft im Besonderen für das Verbot von Präsenzunterricht zu. Denn die ungeimpften schulpflichtigen Kinder erkranken selbst – anders als noch nicht geimpfte Erwachsene – nach bisheriger sachkundiger Einschätzung bei einer Infektion nur selten und im Regelfall nur dann schwer, wenn eine Vorerkrankung vorliegt …

… Zwar ist der Gesetzgeber dann, wenn er eine Maßnahme auf unsicherer Tatsachen und Prognosengrundlage trifft, ohnehin verpflichtet, die weitere Entwicklung zu beobachten und das Gesetz nachzubessern, falls zu befürchten ist, dass die Maßnahme wegen veränderter tatsächlicher Bedingungen oder einer veränderten Erkenntnislage in die Verfassungswidrigkeit hineinwächst (vgl. BVerfGE 56, 54 <78 ff.>; 110, 141 <158>). … Danach trug die kurzzeitige Befristung der Maßnahme wesentlich dazu bei, dass der schwerwiegende Eingriff in das Recht auf schulische Bildung durch die Anordnung des Wegfalls von Präsenzunterricht bei Erreichen hoher Inzidenzen noch zumutbar war.

 

 

weiterlesen:

70 Jahre Grundgesetz - aber enthält es etwa kein Recht auf Bildung?

von Sibylle Schwarz, veröffentlicht am 23.05.2019

„… hat das Recht auf Bildung“ formulierten die Vereinten Nationen schon 1948 in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte und auch im Jahr 1989 in der Kinderrechtskonvention ebenso die Mitgliedsstaaten der Europäischen Union im Jahr 2000 in der Grundrechte-Charta. Und das Grundgesetz?

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1 Kommentar

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Unklar und eventuell besorgniserregend ist allerdings Tz 68 mit Tz 66: Das BVerfG sieht das deutschrechtliche verfassungsrechtliche Recht "im Einklang" mti angeblich völkerrechtlichen Gewährleistungen, so in Tz 68 mit einer VN-"Kinderrechtskonvention". Verschiedene Schulen, anscheinend auch Eliteschulen , sollen "ALLEN" Kindern "verfügbar" sein. Nun ahnt man, dass ein solches Grundrecht nicht beim Abitur endet, sondern auch Hochschulausbildung umfassen wird. Vollidioten und Personen mit IQ unterhalb 50 sollen also a) alle Abitur machen können  b) letztlich Verfassungsrichter werden können; alles (!!) muss ihnen ja "verfügbar" sein.  Das berührt laufenden Prozess, so zu dem Lufthanse-Alpenabsturz durch einen Geisteskranken Piloten, dem die Flugerlaubnis denn ja auch ebenso "verfügbar" sein müsste wie Blinden die Busfahrerlaubnis. Mir scheint eher, dass die Formulierung jener "Kinderrechtskonvention" entweder totaler Blödsinn ist oder wenigstens sehr zurückhaltend zu interpretieren sein sollte.

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