Glass-Lewis-Richtlinien für die Hauptversammlungssaison 2022

von Dr. Cornelius Wilk, veröffentlicht am 02.12.2021

Der Stimmrechtsberater Glass Lewis hat am 24. November 2021 seine Policy Guidelines Germany 2022 veröffentlicht. Parallel aktualisiert wurden die übergreifenden Policy Guidelines Continental Europe (beide Guidelines hier abrufbar). Für deutsche Gesellschaften ergeben sich im Vergleich zu 2021 u. a. Änderungen in Bezug auf die Amtszeit von Aufsichtsratsmitgliedern, Gender Diversity sowie die Vorstandsvergütung.

Aufsichtsrat: Fünfjährige Amtszeit rechtfertigungsbedürftig

Glass Lewis erwartet („in line with evolving market practice“), dass Aufsichtsratsmitglieder grundsätzlich auf Amtszeiten von weniger als fünf Jahren bestellt werden – also das rechtlich mögliche Maximum (§ 102 AktG) nicht ausgeschöpft wird (S. 19 f.). Eine strengere Handhabung dieses Punktes hatte sich bereits im letzten Jahr angedeutet (siehe mein Beitrag vom 14. Dezember 2020). Für den Fall, dass eine DAX-Gesellschaft das Maximum ohne überzeugende Begründung ausschöpft, kündigt Glass Lewis eine Empfehlung gegen die Wiederwahl des Vorsitzenden des Nominierungsausschusses an. Dasselbe gilt für eine MDAX-Gesellschaft, falls darüber hinaus die Zusammensetzung oder Leistung des Nominierungsausschusses Bedenken aufwirft.

Gender Diversity im Aufsichtsrat und Vorstand

Aufsichtsräte von DAX- und MDAX-Gesellschaften sollen spätestens zur Jahreshauptversammlung 2022 aus mindestens 30 % Gender-diversen Mitgliedern bestehen. Eingerechnet werden dabei alle Mitglieder, die sich selbst nicht mit dem männlichen Geschlecht identifizieren (S. 15). Eine Änderung in diese Richtung hatte Glass Lewis bereits im letzten Jahr angekündigt; Ausnahmen sind unter gleichbleibenden Voraussetzungen möglich (z. B. wenn der Aufsichtsrat aus weniger als fünf Mitgliedern besteht und die Gesellschaft überzeugende Gründe für das Verfehlen der Vorgaben nennt; siehe mein Beitrag vom 14. Dezember 2020).

In Bezug auf Gesellschaften, die gesetzlich verpflichtet sind, Zielgrößen für den Frauenanteil im Vorstand und/oder Aufsichtsrat festzulegen, kündigt Glass Lewis unverändert eine einzelfallbezogene Analyse der offengelegten Erwägungen an. Bei nicht zufriedenstellendem Ergebnis – dazu zählt jetzt auch die Wahl einer Null-Prozent-Zielgröße – wird eine Empfehlung gegen den Vorsitzenden des Nominierungsausschusses in Betracht gezogen (S. 17).

Überwachung von sozialen und Umweltrisiken

Für den Fall, dass eine DAX-Gesellschaft keine klaren Informationen darüber offenlegt, in welcher Weise der Aufsichtsrat soziale und Umweltrisiken überwacht, kündigt Glass Lewis eine Empfehlung gegen den Vorsitzenden des für die Governance zuständigen Ausschusses an (S. 17).

Ausschussmitglied büßt für Ausschussvorsitzenden

Allgemein ergänzt wird der an verschiedenen Stellen der Guidelines gewählte Mechanismus, nach dem das Verfehlen einer bestimmten Erwartung (z. B. zur Aufsichtsratsamtszeit) mit einer Empfehlung gegen die Wiederwahl des Vorsitzenden des verantwortlichen Ausschusses sanktioniert wird. Falls der Ausschussvorsitzende in diesen Fällen (noch) nicht feststeht oder nicht zur Wiederwahl ansteht, kündigt Glass Lewis an, sich ersatzweise gegen die Wiederwahl eines oder mehrerer anderer langjähriger Mitglieder des Ausschusses auszusprechen (S. 18).

Prüfungsausschuss: Transparenz der fachlichen Qualifikation

In Bezug auf die sog. Finanzexperten im Aufsichtsrat und Prüfungsausschuss (§ 100 Abs. 5 AktG) erwartet Glass Lewis, dass der relevante Sachverstand klar aus den offengelegten Informationen hervorgeht. Andernfalls steht eine Empfehlung gegen die Wiederwahl des Prüfungsausschussvorsitzenden und/oder anderer Prüfungsausschussmitglieder in Aussicht (S. 18).

Vorstandsvergütung

Verschiedene weitere Änderungen betreffen die Gestaltung und Offenlegung der Vorstandsvergütung. U. a. erwartet Glass Lewis künftig, dass im Vergütungsbericht für variable Vergütungsbestandteile die im abgelaufenen Geschäftsjahr verdiente (anstelle der tatsächlich ausbezahlten) Vergütung angegeben wird, und kündigt Opposition beim Votum über den Bericht an, wenn der Aufsichtsrat übermäßige Abfindungszahlungen genehmigt (S. 27). Unverändert ist die Aufforderung geblieben, bei der Offenlegung der Vorstandsvergütung die Mustertabellen des DCGK 2017 zu verwenden (S. 27).

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