ZPO-Probleme: Aktuelle Fragen und Antworten

von Gastbeitrag, veröffentlicht am 09.12.2021
Rechtsgebiete: Zivilverfahrensrecht|4268 Aufrufe

Im folgenden Gastbeitrag erhalten Sie einen Überblick über aktuelle ZPO-Probleme – und dazu einige Argumente, diese Probleme mit dem neuen Anders/Gehle (vormals Baumbach/Lauterbach/Hartmann/Anders/Gehle), ZPO in der 80. Auflage zu lösen.

Ein Beitrag von Dr. Monika Anders, Präsidentin des LG Essen a.D.

1. Seit der 78. Auflage 2019 wird der Kommentar (in der Tradition des Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann) von einem 10-köpfigen Autorenteam bearbeitet und erscheint weiterhin jährlich in einer neuen Auflage. Die Autoren haben langjährige praktische Erfahrungen  in Zivilsachen, in der Justizverwaltung, als Ausbilder sowie als Prüfer in den beiden juristischen Staatsexamina, teilweise auch in der Notariellen Fachprüfung, in der Rechtsanwaltsprüfung nach EURAG und im Rechtspflegerexamen.

2. Durch die einheitliche Systematik in allen Vorschriften und durch zahlreiche ABC-Reihen findet der Anwender in dem ZPO-Kommentar schnell die gesuchten Antworten.

3. Berücksichtigt werden in allen Bereichen die neuen Entscheidungen,  die aktuelle Literatur und die  rechtspolitischen Entwicklungen. Soweit Meinungsstreitigkeiten bestehen, werden sie mit Argumenten aufgezeigt und der Autor nimmt Stellung dazu.

 

4. Alle aktuellen Probleme, die schon in der Einleitung (Einl. I Rn. 4 – 8) mit Fundstellen erwähnt sind, werden behandelt, wie zB. die Digitalisierung in der Justiz ( → §§ 128a, 130a – 130d ZPO), die alternative Streitschlichtung, wie z.B. die Mediation (so in  §§ 278, 278a ZPO), die Musterfeststellungsklage (§§ 606 ff. ZPO) und der Dieselskandal sowie die sekundäre Darlegungslast (so in  § 138 ZPO).

  1. Grundsatz des rechtlichen Gehörs

Durch zahlreiche Entscheidungen des BVerfG hat der Grundsatz des rechtlichen Gehörs zunehmende Bedeutung gewonnen und zu praktischen Änderungen im einstweiligen Rechtsschutz geführt (so Vor § 128 ZPO, Vor § 916 ZPO, § 937 ZPO).

Vor § 916 ZPO Rn. 15, der in § 937 Rn. 4, 5 vertieft wird, lautet:

Die im einstweiligen Rechtsschutzverfahren zu treffende Entscheidung ergeht nach § 922 I 1 im Falle der mündlichen Verhandlung durch Endurteil, ohne mündliche Verhandlung durch Beschluss. Im Beschlussverfahren, das wohl in der Praxis wegen der Eilbedürftigkeit den Regelfall darstellt, ist eine schriftliche Anhörung des Gegners möglich, aber nicht nötig.

Nach ständiger Rechtsprechung des BVerfG ist jedoch wegen des Grundsatzes der prozessualen Waffengleichheit im Verfahren der einstweiligen Verfügung und selbst dann, wenn eine Verfügung wegen der besonderen Dringlichkeit ohne mündliche Verhandlung ergehen darf, eine Einbeziehung der Gegenseite im Verfahren geboten, BVerfG BeckRS 2020, 13380 = WRP 2020, 1177 („Ibiza-Videos“); BeckRS 2020, 17728 = WRP 2020, 1179; NJW 2020, 2021; NJW 2018, 3631 und 3634. Den Prozessparteien muss gleichermaßen die Möglichkeit eingeräumt werden, alles für die gerichtliche Entscheidung Erhebliche vorzutragen und alle für die Abwehr des gegnerischen Angriffs erforderliche Verteidigungsmittel selbständig geltend zu machen, BVerfG BeckRS 2020, 13380 = WRP 2020, 1177Petersenn/Peters NJW 2021, 725 (728); Muckel JA 2020, 790.

Demnach verlangt auch das Eilverfahren im Regelfall die Einbeziehung der Gegenseite. Dies dürfte aber nur in den Fällen gelten, in denen eine Einbeziehung der Gegenseite möglich ist, ohne die Zielsetzung des einstweiligen Verfügungsverfahrens zu vereiteln. So wird in Fällen, in denen eine Anhörung zeitlich nicht mehr erfolgen kann, ohne dass ein schädigendes Ereignis bereits eintritt -wie zB Veröffentlichungen in Printmedien –, weiterhin als Ausnahmefall auf eine Anhörung verzichtet werden können.

Hierbei müsste aber die Handlung der Gegenpartei die Besorgnis der Gefährdung rechtfertigen, BVerfG NJW 2018, 3631Petersenn/Peters NJW 2021, 725 (728). Im einstweiligen Rechtsschutzverfahren kann auch ein Vergleich über den Hauptsacheanspruch abgeschlossen werden, auch wenn der durch den Vergleich erledigte Rechtsstreit (Streitgegenstand) gar nicht Gegenstand des Eilverfahrens ist. Die stattgebende Entscheidung gibt einen Vollstreckungstitel. Die Entscheidungen des einstweiligen Rechtsschutzes erwachsen in formelle Rechtskraft, soweit keine Rechtsmittel mehr zulässig sind.

§ 937 Rn. 4, 5:

Eine mündliche Verhandlung ist nach II jedenfalls der Regelfall, BVerfG BeckRS 2016, 110261 Rn. 12; KG NJW-RR 2019, 1231; Hmb MDR 2013, 1122. Nach überwiegender Meinung darf im einstweiligen Verfügungsverfahren hiervon nur in den Ausnahmefällen des II abgewichen werden, BGH NJW 2020, 2474 Rn. 12; Oldb NJW 2017, 1250; Düss BeckRS 2017, 130449; Zweibr NJOZ 2015, 188; MüKoZPO/Drescher Rn. 5; Zöller/Vollkommer Rn. 3 f; Schneider NJW 2018, 523 (zum Gebührentatbestand des Nr. 3104 I VV-RVG).

Das BVerfG verlangt wegen des Rechts auf prozessuale Waffengleichheit zumindest eine Einbindung des Antragsgegners, sei es durch eine vorgerichtliche Abmahnung oder durch eine Anhörung des Antragsgegners, soweit der Zweck des Verfahrens nicht vereitelt wird, BVerfG BeckRS 2020, 13380 = WRP 2020, 1177; BeckRS 2020, 17728 = WRP 2020, 1179; NJW 2020, 2021; NJW 2018, 3631 und 3634 (jeweils in Pressesachen); → Rn. 5.

Im Presse- und Äußerungsrecht kann nicht als Regel von einer Erforderlichkeit der Überraschung des Gegners bei der Geltendmachung von Ansprüchen ausgegangen werden, BVerfG NJW 2021, 2020 Rn. 21; NJW 2021, 1587 Rn. 29; NJW 2018, 3634 Rn. 31. Speziell im Gegendarstellungsrecht ist das vorherige Veröffentlichungsverlangen eine materiell-rechtliche Voraussetzung für den Gegendarstellungsanspruch, BVerfG NJW 2021, 1587. Diese Rechtsprechung des BVerfG in Pressesache gilt grds. auch für wettbewerbsrechtliche Streitigkeiten, BVerfG NJW 2020, 3023; Düss BeckRS 2019, 5570 = WRP 2019, 773; → Rn. 5; dort besteht jedoch die Möglichkeit, den Antragsgegner in anderer Weise entsprechend einzubinden, wie zB in Lauterkeitsstreitigkeiten durch vorgerichtliche Abmahnung, durch Anhörung oder durch Einreichung einer Schutzschrift. Auch wenn die Sache aufgrund einer sofortigen Beschwerde gegen den erstinstanzlichen Beschluss angefallen ist, kann das Beschwerdegericht nach mündlicher Verhandlung durch Urteil entscheiden, KG NJW-RR 2019, 1231. Von dieser Regel gibt es zwei Ausnahmen: der besonders dringliche Fall und die Zurückweisung des Antrags.

Für die Beurteilung, wann ein dringender Fall nach II vorliegt und damit auf eine mündliche Verhandlung verzichtet werden kann, haben die Gerichte einen weiten Wertungsrahmen, BVerfG NJW 2020, 2021; NJW 2018, 3631 und 3634. Thematisiert wird die Frage, ob die Gesundheitsgefährdung durch die Covid-19-Pandemie die Entscheidung zugunsten eines Verzichts auf die mündliche Verhandlung wegen besonderer Dringlichkeit beeinflussen könnte, Rauscher COVuR 2020, 2. Eine solche mögliche Beschränkung der Rechte des Antragsgegners wäre mit Blick auf die genannten Entscheidungen des BVerfG zur prozessualen Waffengleichheit nicht hinnehmbar, so im Ergebnis auch Rauscher COVuR 2020, 2; → Vor § 128a Rn. 38a und Rn. 45 „einstw. Verfg“; → § 922 Rn. 15; aM ArbG Ros NZA-RR 2020, 437.

Ausnahmsweise ist eine mündliche Verhandlung zunächst dann entbehrlich, wenn eine besondere bzw. gesteigerte Dringlichkeit iSd II vorliegt, BVerfG BeckRS 2016, 110261; BGH NJW 2020, 2474, Karlsr NJW-RR 1987, 1206; Hamm FamRZ 1986, 75; LAG Kiel NZA-RR 2011, 664 (zu § 62 II ArbGG).

Eine Dringlichkeit macht eine mündliche Verhandlung auch dann entbehrlich, wenn in derselben Sache schon eine mündliche Verhandlung oder eine Verweisung stattgefunden hatte. Nun setzt allerdings jede einstweilige Verfügung eine Dringlichkeit voraus → Rn. 2. Denn sonst würde der Verfügungsgrund nach §§ 917936 fehlen. Deshalb meint II mit dem Ausdruck „in dringenden Fällen“ eine gesteigerte zusätzliche Dringlichkeit, BVerfG BeckRS 2016, 110261; Köln NJW-RR 2002, 1596; Karlsr NJW-RR 1987, 1206Fritze GRUR 1979, 292; aM Pietzcker GRUR 1978, 526. Das Gericht prüft, ob die besondere Dringlichkeit vorliegt und ob es dann von der mündlichen Verhandlung absehen will.

Nach dem Grundsatz der prozessualen Waffengleichheit kommt eine stattgebende Entscheidung grds. nur in Betracht, wenn die Gegenseite zuvor die Möglichkeit hatte, auf das mit dem Antrag geltend gemachte Vorbringen zu erwidern, BVerfG NJW 2020, 2021; NJW 2018, 3634; Möller NJW 2019, 1645. Diese vom BVerfG aufgestellten Maßstäbe zur Handhabung der prozessualen Waffengleichheit und des rechtlichen Gehörs im einstweiligen Verfügungsverfahren sind zunächst in presse- und äußerungsrechtlichen Verfahren entwickelt worden, BVerfG NJW 2018, 3634 und 3631; BeckRS 2020, 13380; NJW 2020, 2021; NJW 2021, 615; ZUM 2021, 345; NJW 2021, 1587Sajuntz NJW 2021, 592 (599).

Diese Maßstäbe gelten im Grundsatz auch für einstweilige Verfügungsverfahren im Lauterkeitsrecht, BVerfG NJW 2020, 3023; Düss BeckRS 2019, 5570 = WRP 2019, 773. Jedoch kann nicht jede Verletzung prozessualer Rechte unter Berufung auf die prozessuale Waffengleichheit im Wege einer Verfassungsbeschwerde geltend gemacht werden; hierzu bedarf es schon eines hinreichend gewichtigen Feststellungsinteresses, BVerfG NJW 2020, 3023; BeckRS 2019, 30365; NJW 2018, 3631 und 3634; NJW 2017, 2985; kritisch: Möller NJW-aktuell 41/2020, 3 (der hierin wohl einen Widerspruch sieht). Das Gericht muss den Prozessparteien im Rahmen der Verfahrensordnung gleichermaßen die Möglichkeit einräumen, alles für die gerichtliche Entscheidung Erhebliche vorzutragen, BVerfG NJW 2021, 1587.

Von der Frage der Anhörung und Einbeziehung der Gegenseite ist aber die Frage zu unterscheiden, wann ein dringender Fall iSd II vorliegt und damit – im Ausnahmefall – auf eine mündliche Verhandlung verzichtet werden kann.

Hier besteht für die Fachgerichte ein weiter Wertungsrahmen, der allerdings auch eine zügige Verfahrensdurchführung voraussetzt, BVerfG NJW 2021, 2020 Rn. 22; NJW 2021, 615; NJW 2018, 3631. Die nachträgliche Feststellung eines Verstoßes gegen die prozessuale Waffengleichheit setzt ein besonderes Feststellungsinteresse voraus, dass besonders bei Wiederholungsgefahr gegeben sein kann, BVerfG NJW 2021, 618.

Ein besonders dringender Fall liegt vor, wenn der Zeitverlust oder die Benachrichtigung des Gegners den Zweck der einstweiligen Verfügung gefährden könnten, wenn also der Verfügungsgrund die Überraschung der Gegenseite verlangt, Karlsr NJW-RR 1987, 1206Teplitzky NJW 1980, 1666 oder wenn durch die vorherige Anhörung der Verfahrenszweck gar vereitelt würde, Stein/Jonas/Kern vor § 128 Rn. 2937.

Das kann sich auch erst im Lauf des Eilverfahrens ergeben, Köln NJW-RR 2002, 1596. Rechtsmissbrauch macht stets besonders dringlich, LG Mü MDR 2017, 603. Die Dringlichkeitsvermutung kann jedoch durch Zeitablauf oder zögerliches Verhalten des Antragstellers wiederlegt sein; zB wenn der Antragsteller auf das Berühmen des Verletzers hin, sich in der beanstandeten Weise zu verhalten, längere Zeit untätig bleibt, Ffm GRUR-RR 2020, 368 (zu § 140 III MarkenG). Die Dringlichkeit kann jedoch wiederaufleben, wenn der Verletzer sich später tatsächlich in dieser Weise verhält und damit ein „Qualitätssprung“ im Vergleich zu der Situation nach dem Berühmen verbunden ist, Ffm GRUR-RR 2020, 368.

Gehör ist zu gewähren, wenn dem Antragsgegner das Verlangen nicht in gehöriger Form zugeleitet wurde oder das Gericht dem Antragsteller Hinweise nach § 139 erteilt, von denen die Gegenseite erst nach Erlass der stattgebenden Entscheidung erfährt, BVerfG NJW 2018, 3634 (Prozessuale Waffengleichheit); Mantz NJW 2019, 953Teplitzky GRUR 2008, 34.

Entbehrlich ist eine vorherige Anhörung nur in Ausnahmefällen. Voraussetzung der Verweisung auf eine nachträgliche Anhörung ist, dass sonst der Zweck der einstweiligen Verfügung vereitelt würde, BVerfG NJW 2020, 2021 (äußerungsrechtliche Ansprüche). Die Rechtsprechung des BVerfG zur prozessualen Waffengleichheit, die presserechtliche Verfahren betreffen, gelten auch für wettbewerbliche Streitigkeiten, Düss WRP 2019, 773. Die besonders dringliche Situation muss auch bei § 12 UWG, der in der neuen Fassung von § 13 UWG ergänzt wird, vorliegen.

Denn die Dringlichkeitsvermutung dieser Vorschrift – wie auch im Fall der §§ 885899 BGB – befreit nicht von II, sondern stellt lediglich eine Vermutung für den Verfügungsgrund dar, KG DB 1979, 642Teplitzky NJW 1980, 1667Drettmann GRUR 1979, 602. Das Gericht kann für die Gewährung des rechtlichen Gehörs die Möglichkeit einbeziehen, die der Gegenseite erlauben, sich vorprozessual zu dem Antragsverlangen zu äußern, BVerfG NJW 2018, 3634Möller NJW 2019, 1245.

Dies ist häufig der Fall im Presserecht, im Recht des UWG, des gewerblichen Rechtsschutzes und des Urheberrechts, Mantz NJW 2019, 953Roth Anm. zu BVerfG NJW 2018, 3636. Gerade in diesen Streitigkeiten hat der Antragsgegner nämlich die Möglichkeit, eine Schutzschrift zu hinterlegen. Seitdem der Gesetzgeber mit §§ 945a945b die Möglichkeit geschaffen hat, vorbeugende Verteidigungsschriften gegen erwartete Anträge auf einstweilige Verfügungen zum Gegenstand des einstweiligen Verfügungsverfahrens zu machen, und ein zentrales, länderübergreifendes elektronisches Register hierfür eingeführt hat, ist gewährleistet, dass eine Schutzschrift dem letztlich entscheidenden Gericht zur Kenntnis gelangt, BVerfG NJW 2018, 3634Mantz NJW 2019, 953.

  1. ZPO und die Corona-Pandemie

An vielen Stellen wird auf die rechtlichen Probleme im Zusammenhang mit der Pandemie eingegangen (so in §§ 128, 128a, 245 -247,335 ZPO, §§ 169, 172, 176 GVG), die in nicht unerheblichen Maße die Gestaltung des Zivilprozesses beeinflussen.  § 176 GVG Rn. 6 „Infektionsschutz“) lautet hierzu:

Sitzungspolizeiliche Anordnungen, die die Sitzordnung sowohl der Verfahrensbeteiligten, als auch der Saalöffentlichkeit betreffen, um die zum Schutz vor Ansteckungen gebotenen Abstände einzuhalten, sind rechtlich unbedenklich, BVerfG BeckRS 2020, 25212 = MDR 2020, 1523; Kulhanek NJW 2020, 1183. Auch die Anordnung zum Tragen einer höheren Schutzklasse kann vom Ermessen des Vorsitzenden gedeckt sein, LG Ffm BeckRS 2020, 30205 = AnwBl 2021, 111 (LS.); → Rn. 7 „Mund- Nasenschutz“. Auch weitere Infektionsschutzvorkehrungen dürften, soweit sie sachgerecht und nicht willkürlich sind, unproblematisch sein, SächsVerfGH NJW 2020, 1285; Gehrlein ZMR 2020, 257; Kulhanek NJW 2020, 1184; auf der Heiden NJW 2020, 1023; Rauscher COVuR 2020, 2.

Die Anordnung, zum Infektionsschutz während einer Pandemie eine Atemschutzmaske zu tragen, stieß anfangs auf erhebliche Bedenken, insbesondere wenn nicht sicher ist, ob der Anwesende krankheits- oder ansteckungsverdächtig iSd IfSG ist, auf der Heiden NJW 2020, 1023 (zu einem Fall am AG Hagen). Nachdem jedoch das Tragen von Masken vom Robert-Koch-Institut empfohlen und durch Verordnungen der meisten Bundesländer in Ausführung des IfSG nach § 28 IfSG in öffentlichen Gebäuden verpflichtend ist, dürften diese Bedenken nicht mehr bestehen, Metz DRiZ 2020, 256. Die Anordnung, eine auch zum Infektionsschutz getragene Atemschutzmaske abzunehmen, ist hingegen unter den Voraussetzungen des II zulässig; → „Atemschutzmaske“.

  1. Renaissance der Relation

An vielen Stellen wird die Relationsmethode besprochen (so in §§ 139, Vor § 253, Vor § 284). Diese Methode hat durch die Einfügung von Satz 3 in § 139 I und durch die aktuelle Diskussion über eine Strukturierung des Zivilprozesses im Zeitalter der Digitalisierung eine Renaissance erfahren. Zu § 139 I 3 ZPO  ist in § 139 Rn.  35c-35e Folgendes ausgeführt:

Das Hinwirken auf Strukturierung und Abschichtung ist für das Gericht unter Effizienzgesichtspunkten verpflichtend; jedoch ist dem Gericht ein Beurteilungsspielraum zuzugestehen, weil es auf die jeweilige Bewertung der Rechtslage ankommt; dabei sind Grenzen gesetzt bei einem offenkundig widersprechenden Fehlgebrauch, zB bei unnötigen Verzögerungen oder bei Missachtung des Grundsatzes des fairen Verfahrens, Gaier NJW 2020, 177. Die Verletzung der Pflicht zur materiellen Prozessleitung kann als Verfahrensfehler zur Aufhebung des Urteilsführen, Zöller/Greger Rn. 20.

Inhaltlich muss der Hinweis des Gerichts zur Abschichtung und Strukturierung so ausführlich sein, dass sich die Parteien in der gegebenen Situation darauf einstellen und entsprechend handeln können; in der Regel wird ein Beschluss des jeweiligen Prozessgerichts erforderlich sein, wobei sich auch eine Fristsetzung nach § 273 II Nr. 1 empfiehlt, Gaier NJW 2020, 177. I 3 berührt den Beibringungsgrundsatz der Partei nicht; die Parteien bleiben für das Einbringen des Prozessstoffes verantwortlich und alle Maßnahmen des § 139 sind (nur) Hilfestellungen für die Parteien, → Rn. 13. § 296 greift nicht ein, wenn die Partei ihre Mitwirkung an der Strukturierung oder Abschichtung verweigert; auch das Überschreiten einer Frist nach § 273 II Nr. 1 führt nicht zur Präklusion, Gaier NJW 2020, 177.

Es gelten auch weiterhin §§ 130253 II, so dass für die vorbereitenden Schriftsätze in inhaltlicher Hinsicht nicht mehr und nicht weniger erforderlich ist als bisher, Gaier NJW 2020, 179.

35d Das Gericht hat aber die Möglichkeit, Maßnahmen des Verfahrensmanagement zu ergreifen und zB in einem gut vorbereiteten frühen ersten Termin auf Abschichtung und insbesondere Strukturierung hinzuwirken, Gaier NJW 2020, 177Schultzky MDR 2020, 1Greger NJW 2019, 3429, plädiert dafür, dass das Gericht mit Hinweisen nach I 3 und mit Hilfe der Digitaltechnik anhand der vorgetragenen Tatsachen ein umfassendes Basisdokument entwickelt, mit dem der Tatsachenstoff für alle Instanzen konzentriert wird (Einführung eines digitalen Vorverfahrens), vgl. auch Gomm JM 2021, 266; Köbler NJW-aktuell 52/2020, 19.

Das ist sicherlich wünschenswert und auch hilfreich, kann aber nach unserer Auffassung jedenfalls nach der derzeitigen Gesetzeslage nicht zu einer Bindungswirkung, d. h. zu einer frühen Festlegung des maßgeblichen Sachverhalts führen.

Auch nach Erstellung eines Basisdokumentes, an dem alle beteiligt waren, müssen die Parteien schon mit Blick auf Art. 19 IV GG die Möglichkeit zu weiterem, auch geänderten Vortrag haben, soweit nicht das Gesetz unter bestimmten Voraussetzungen einen Ausschluss regelt, wie zB durch die Verspätungsvorschriften oder durch § 529.

Auch müssen die Prozessbeteiligten, insbesondere die Richter, weiterhin in der Lage sein, ihre rechtlichen Wertungen im Laufe des Prozesses zu überdenken und zu ändern; dann aber sind möglicher Weise andere Tatsachen entscheidungserheblich; das Gericht muss dann einen entsprechenden Hinweis erteilen und die Parteien zur Ergänzung bzw zum Überdenken ihres Vortrages auffordern. Jedoch können durch ein einvernehmlich hergestelltes Basisdokument mit Hilfe der modernen Technik auch ohne Bindungswirkung eine bessere Strukturierung sowie eine Effizienzsteigerung erreicht werden.

35e Eine Arbeitsgruppe zur „Modernisierung des Zivilprozesses“, die von den Präsidentinnen und Präsidenten der Oberlandesgerichte, des Kammergerichts, des BayOlG und des BGH eingesetzt wurde, schlägt ebenfalls ein verbindliches elektronisches Basisdokument vor, das von den Parteien anstelle der Schriftsätze erstellt und ergänzt werden soll, und zwar in einer vorgegebenen Relationstabelle in chronologischer Reihenfolge, zum Muster einer Relationstabelle vgl. Anders/Gehle Assessorexamen ZivilR A Rn. 2a, 38a; dabei sollen sich Vortrag und Gegenvortrag unmittelbar gegenüber stehen; späterer Vortag soll nicht angefügt, sondern ergänzend in das jeweilige Feld eingetragen werden, vom Stein NZA 2021, 1057 (1060); Streyl NJW 2021 Heft 8 Editorial.

Dieser Vorschlag sowie andere Vorschläge der Arbeitsgruppe wurden in dem virtuellen Zivilrichtertag am 2.2.2021 in Nürnberg vorgestellt und von den Präsidentinnen und Präsidenten auf einer Tagung am 8.6.2021 weitgehend gebilligt, vgl. beck-online FD-ZVR 2021, 439564; → Einl. I Rn. 5.

Ob das wünschenswerte Ziel der Strukturierung und Effizienzsteigerung des Zivilprozesses durch ein solches Basisdokument erreicht werden kann, erscheint nicht ganz unproblematisch. Auch der Sachvortrag in einer vorgegebenen Relationstabelle kann durch eine falsche Einordnung, durch eine Vermengung von Tatsachen und Rechtsansichten, durch den Vortrag nicht entscheidungserheblicher Tatsachen sowie durch eine Überfrachtung mit teilweise nicht relevanten Textbausteinen unstrukturiert sein.

Außerdem ist allein das Gericht für die tatsächliche und rechtliche Wertung zuständig und erst mit dieser Wertung wird verdeutlicht, welche Tatsachen entscheidungserheblich sind, → Vor § 128 Rn. 32. Durch umfassende sachdienliche Hinweise des Gerichts auf der Grundlage des § 139 und auch mit Hilfe der Elektronik kann eine effektive Strukturierung durch das Gericht auch ohne zwingende Relationstabelle veranlasst und erreicht werden. Das sieht auch die Arbeitsgruppe der Präsidentinnen und Präsidenten der OLG, des KG und des BGH mit ihrem Vorschlag zu einer „zivilprozessualen Revolution“, Streyl NJW 2021 Heft 8 Editorial. Sicherlich ist eine elektronische Relationstabelle mit Vorgaben hilfreich.

Fraglich ist, ob die von der Arbeitsgruppe vorgeschlagene Verbindlichkeit des durch die Parteien erstellten Basisdokuments, das den Tatbestand ersetzen soll, mit Art. 19 IV GG, dem Grundsatz des rechtlichen Gehörs und dem Grundsatz der Waffengleichheit, → Einl. II Rn. 17, 21; → Vor § 128 Rn. 18 ff. (Grundsätze des Zivilprozesses), vollständig vereinbar sind, vgl. hierzu auch Heil ZIP 2021, 502. Darüber hinaus muss den Anwälten auch eine gewisse Prozesstaktik in den Grenzen der gesetzlichen Vorgaben, so nach § 138, zugestanden werden, ohne dass von vorneherein eine später nicht mehr wünschenswerte Bindung entsteht.

Insoweit scheint der Vorschlag von Horwath, NJW 2021 Heft 25, IT-Special, S. 26, überlegenswert, mit Hilfe eines digitalen Strukturierungstool die aus den Aktendokumenten relevanten Informationen in Relationsstrukturen zu überführen; dabei können nach seiner Ansicht ein gemeinsam von Gericht und Anwälten genutzter Aktenspiegel sowie die Information des Anwalts an das Gericht über die von ihm bei der Erstellung des Schriftsatzes berücksichtigte Relationsstruktur hilfreich sein.

Wir stimmen Horwath auch zu, dass den Richtern die Aufgabe der Strukturierung des Parteivortrages aus den dargelegten Gründen überlassen bleiben muss, jedoch das Gericht dabei durch eine Strukturierungssoftware und semantische Textanalyse unterstützt werden sollte.

Die spannende Diskussion über die Vorschläge der Arbeitsgruppe sowie über andere Vorschläge zur Strukturierung und Effizienzsteigerung des Zivilprozesses im Zeitalter der Digitalisierung bleibt abzuwarten. Die schlichte Abbildung der Papierakte in elektronischer Form sollte auf keinen Fall ausreichen.

Ein Muster eines relationsmäßigen Basisdokumentformulars ist im Anders/Gehle Assessorexamen, 15. Aufl. 2023, A - Rn. 38a, abgedruckt.

  1. Zulassung einer „Dissenting Opinion“

Auch die Entwicklung im schiedsgerichtlichen Verfahren wird ständig aktualisiert. Zu nennen ist z.B. die Frage einer Zulassung einer „Dissenting Opinion“ ( § 1054 ZPO, Vor § 192 GVG). Hierzu ist in § 1054 ZPO Rn. 8 ausgeführt:

Ob ein Schiedsrichter ein Sondervotum, dh eine sog Dissenting Opinion („abweichende Meinung/Sondervotum“) erstellen und veröffentlichen kann und ob ein solches Vorgehen einen Aufhebungsgrund nach § 1059 II Nr. 1d oder 2b darstellt, war zum alten Recht streitig, vgl. zum Problem Bartels SchiedsVZ 2014, 133Schütze SchiedsVZ 2008, 13Westermann FS Kerameus, 2009, 1571 und SchiedsVZ 2009, 102Wilske FS Schütze, 2014, 738. In ausländischen und internationalen Schiedsordnungen ist eine Dissenting Opinion zulässig oder sogar üblich, Escher SchiedsVZ 2018, 219Sunaric SchiedsVZ 2021, 35.

Diejenigen, die eine Dissenting Opinion bei inländischen Schiedsgerichten für zulässig erachten, berufen sich darauf sowie auf das Bestreben bei der Gesetzesänderung 1998, die Attraktivität des Schiedsortes Deutschland zu fördern; zudem verweisen sie darauf, dass der Gesetzgeber bei der Reform des Schiedsgerichtswesens 1998 bewusst von einer Regelung zu der Dissenting Opinion abgesehen hat, BT-Drs. 13/5274, 56; nach dieser Meinung ist es allein Aufgabe der Parteien, die Unzulässigkeit des Sondervotums durch eine Vereinbarung zu regeln, Groh/Gigga NZG 2020, 125 (1253); Bartels SchiedsVZ 2014, 133Sunaric SchiedsVZ 2021, 35Wilske FS Schütze 729.

In der Mehrheit werden jedoch Sondervoten grundsätzlich abgelehnt, wobei ein Teil sie für zulässig erachtet, wenn nicht nur die Parteien, sondern auch die Schiedsrichter zustimmen, Stein/Jonas/Schlosser § 1054 Rn. 20; das Verbot eines Sondervotums wird mit dem nach deutschem Recht geltenden Beratungsgeheimnis begründet, MüKoZPO/Münch Rn. 24; Musielak/Voit/Voit § 1052 Rn. 3; Saenger/Saenger/Saenger § 1052 Rn K4; Zöller/Geimer § 1052 Rn. 5.

Das OLG Frankfurt, NZG 2020, 1280 = BeckRS 2020, 4606 mBespr. Korte GWR 2020, 30, hat nun in einem obiter dictum ausgeführt, dass vieles dafür spricht, dass ein Sondervotum und damit eine Verletzung des Beratungsgeheimnisses auch nach der Gesetzesänderung 1998 einen Aufhebungsgrund nach § 1059 II Nr. 2b darstellt.

Es hat sich ua auf BGH, SchiedsVZ 2016, 41, berufen, wonach bei Beteiligung eines erfolgreich abgelehnten Schiedsrichter an dem Schiedsspruch die Möglichkeit besteht, dass das Schiedsgericht ohne den Verfahrensverstoß anders entschieden hätte und deshalb § 1059 II Nr. 1d zu bejahen ist.

Inhaltsverzeichnis, Leseprobe und Sachverzeichnis zum Anders/Gehle, ZPO erhalten Sie hier. 

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