AG Bernau: Bei eso ES 8.0 Akteneinsicht in die Messreihe

von Carsten Krumm, veröffentlicht am 26.12.2021
Rechtsgebiete: Verkehrsrecht1|3076 Aufrufe

Die Rechtsprechung arbeitet sich weiter an der Frage des Akteneinsichtsrechtes ab. Blogleser*innen wissen: Derzeit ist die Messreihe das "heiße Thema". Das AG Bernau war hier richtigerweise großzügig und hat die Akteneinsicht bejaht. Interessant auch, dass im Tenor die Durchführung der Akteneinsicht näher konkretisiert ist:

 

Die Akteneinsicht ist durch Übersendung in die Kanzleiräume, in geeigneten Fällen, nachdem der Verteidiger ein entsprechend geeignetes Speichermedium zur Verfügung gestellt hat, oder, wenn dies technisch nicht anders möglich ist, in den Räumen einer entsprechenden Verwaltungsbehörde in unmittelbarer Nähe zu den Kanzleiräumen des Verteidigers zu gewähren. Die Kosten des Verfahrens und die notwendigen Auslagen der Betroffenen trägt die Staatskasse.

 Gründe: 

 I.

 Die Zentrale Bußgeldstelle des Landes Brandenburg, Zentraldienst der Polizei, (im Folgenden als Verwaltungsbehörde / ZBSt bezeichnet), erließ am 09.08.2021 einen Bußgeldbescheid gegen die Betroffene. Der Vorwurf lautete auf fahrlässige Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit außerhalb geschlossener Ortschaften am 17.05.2021. Die Messung erfolgte mit ES 8.0. Der Verteidiger beantragte bereits am 15.06.2021 gegenüber der ZBSt u. a. Einsichtnahme in die in die digitale Messserie einschließlich der entschlüsselten Rohmessdaten und die gesamte digitale Messserie der verfahrensgegenständlichen Messung. Mit Schreiben vom 29.07.2021 übersandte die Verwaltungsbehörde dem Privatsachverständigen daraufhin u. a. 1 CD mit Falldaten in jpg-Format mit Signatur, viewer und verwies hinsichtlich der Messserie auf die Einsichtnahme in die Räumlichkeiten der ZBSt. Der Verteidiger beantragte unter dem 20.08.2021 im Hinblick auf die verwehrte Übersendung der Falldatei nebst Token und Passwort und der Messreihe der Messung vom 17.05.2021 die gerichtliche Entscheidung.

 II.

 Der Antrag auf gerichtliche Entscheidung ist gemäß § 62 Abs. 1 Satz 1 OWiG zulässig und begründet.

 Der Betroffenen steht ein Anspruch auf Einsicht in die Messserie des Tattages sowie in die gegenständliche xml-Datei nebst Überlassung von Passwort und Token aus dem Recht auf faire Verfahrensgestaltung zu. Sie kann ein Interesse daran haben, den Vorwurf betreffende Informationen, die nicht zur Bußgeldakte genommen wurden, eigenständig auf Entlastungsmomente hin zu untersuchen. Wird ihr ein Geschwindigkeitsverstoß angelastet, muss sie deshalb selbst nach Entlastungsmomenten suchen können, die zwar fernliegen mögen, aber nicht schlechthin auszuschließen sind (vgl. OLG Jena, Beschluss vom 17.03.2021, Az.: 1 OLG 331 Ss Bs 23/20, zitiert nach juris, m. w. N.). Dieses ihr zustehende Informationsrecht kann damit einerseits deutlich weiter gehen als die Amtsaufklärungspflicht, die das Gericht trifft, bedarf aber andererseits gerade im Bereich massenhaft vorkommender Ordnungswidrigkeiten auch einer sachgerechten Begrenzung, um uferloser Ausforschung, erheblicher Verfahrensverzögerung und Rechtsmissbrauch vorzubeugen (vgl. BVerfG Beschluss vom 12.11.2020 Az. 2 BvR 1616/18 zitiert nach juris). Die begehrten, hinreichend konkret benannten Informationen außerhalb der Akte müssen deshalb in einem sachlichen und zeitlichen Zusammenhang mit dem jeweiligen Ordnungswidrigkeitenvorwurf stehen, und sie müssen erkennbar eine Relevanz für die Verteidigung aufweisen. Maßgeblich ist insoweit die Perspektive der Betroffenen bzw. ihres Verteidigers; sie muss diese Informationen verständlicherweise als für die Beurteilung des Ordnungswidrigkeitsvorwurfs bedeutsam ansehen dürfen, wobei sie grundsätzlich auch berechtigt ist, bloß theoretischen Aufklärungschancen nachzugehen (BVerfG, Beschluss vom 12.11.2020, a.a. 0.). Ob sich das betreffende Gesuch innerhalb des vorbeschriebenen Rahmens hält, haben Bußgeldbehörde und Gericht im jeweiligen Einzelfall zu beurteilen und dabei auch etwa entgegenstehende und schützenswerte Interessen Dritter oder die Funktionsfähigkeit der Rechtspflege zu berücksichtigen.

 Die geforderten Informationen stehen vorliegend in einem sachlichen und zeitlichen Zusammenhang mit dem der Betroffenen angelasteten Geschwindigkeitsverstoß und können aus Sicht des Betroffenen für die Beurteilung der Erfolgsaussichten seiner Verteidigung bedeutsam sein. Dies trifft auf die verfahrensgegenständliche Messung zu. Aber auch die Kenntnis der dort zeitnah gewonnenen Messdaten, die sich nicht auf die ihr vorgeworfene Tat beziehen, verschafft der Betroffenen eine breitere Grundlage für die Prüfung, ob im konkreten Fall tatsächlich ein standardisiertes Messverfahren ordnungsgemäß zur Anwendung gekommen ist und das Messgerät fehlerfrei funktioniert hat.

 Das Einsichtsrecht in verfahrensfremde Messdaten ist nicht wegen entgegenstehender Interessen der betreffenden Verkehrsteilnehmer abzulehnen. Bei der vorzunehmenden Abwägung zwischen dem aus dem fairtrial-Anspruch resultierenden Einsichtsrecht der Betroffenen mit dem Persönlichkeitsrecht der anderen, in der Messserie abgebildeten Verkehrsteilnehmer ist zu berücksichtigen, dass diese sich durch ihre Teilnahme am öffentlichen Straßenverkehr selbst der Wahrnehmung und Beobachtung durch andere Verkehrsteilnehmer und der Kontrolle ihres Verhaltens durch die Polizei ausgesetzt haben und der festgehaltene Lebenssachverhalt jeweils auf einen sehr kurzen Zeitraum begrenzt ist, so dass die Aufzeichnung nicht den Bereich der engen Privatsphäre berührt (vgl. BVerfG, Beschluss vom 20.05.2011 Az.: 2 BvR 2071/10, Juris). Es kann daher für diese Personen keinen tiefgreifenden Eingriff in ihr Persönlichkeitsrecht darstellen, wenn sie im Zusammenhang mit einer polizeilichen oder ordnungsbehördlichen Maßnahme mit einer äußerst geringen Wahrscheinlichkeit dem Risiko  ausgesetzt sind, zufällig erkannt zu werden (vgl. OLG Jena, Beschluss vom 17.03.2021 a. a. O.). Die konkrete Gefahr einer nachhaltigen Bloßstellung Dritter, die nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts trotz des anzuerkennenden Entlastungsinteresses der Betroffenen die Zurückhaltung verfahrensfremder Informationen rechtfertigen kann, ist deshalb nicht zu besorgen. Das gilt auch deshalb, weil die Messdaten lediglich an den Verteidiger und einen von ihm beauftragten Sachverständigen herausgegeben werden, was datenschutzrechtliche Bedenken weiter verringert.

 Von dem Recht auf Akteneinsicht sind auch Token und Passwort erfasst, da anderenfalls die Datei zum Zweck vorgerichtlicher Sachverständiger Auswertung nicht geöffnet werden kann.

 Die Unterlagen sind, soweit keine wichtigen Gründe entgegenstehen, die hier nicht ersichtlich sind, dem Verteidiger in den Kanzleiräumen zur Verfügung zu stellen gern. § 46 Abs. 1 OWiG i. V. m. § 147 Abs. 4 S. 1 StPO.

 Die Kostenentscheidung beruht auf § 62 Abs. 2 Satz 2 OWiG, entsprechend § 467 Abs. 1 StPO.

AG Bernau Beschl. v. 9.9.2021 – 2 OWi 79/21, BeckRS 2021, 32495

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Wie ist aus Ihrer Sicht der Fall zu bewerten, dass die Messerie herausgegeben wurde, aber - wie eigentlich immer - daraus bereits etliche Falldatensätze gelöscht wurden, weil die diesbezüglichen Bußgeldbescheide bereits rechtskräftig wurden? So fehlt in der Regel bereits rund ein Viertel bis die Hälfte der Falldatensätze der Messreihe vom Tattag, wenn die Messreihe dem Verteidiger übersandt wird.

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