Lieber nach Hause! - ängstliche Polizistinnen in Schwelm

von Carsten Krumm, veröffentlicht am 12.01.2022
Rechtsgebiete: Verkehrsrecht13|4293 Aufrufe

Irgendwie gar nicht lustig. Dieser Fall lief (zumindest in NRW) durch die Tagespresse. Zwei Polizistinnen ließen ihre Kollegen bei einer Schießerei im Stich. Wahrscheinlich hätte es jeder verstanden, wenn sie sich hinter irgendeine Ecke gelegt hätten um dort abzuwarten. Sie aber hielten ein Fahrzeug an und fuhren mit dem weg. 1 Jahr Freiheitsstrafe gab es dafür in 1. Instanz. Hier die Urteilsgründe:

 

Die Angeklagten sind schuldig der gemeinschaftlichen versuchten gefährlichen Körperverletzung im Amt durch Unterlassen.

 Es werden verurteilt

 1. die Angeklagte y2 einer Freiheitsstrafe von 1 Jahr deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wird,

 2. die Angeklagte T einer Freiheitsstrafe von 1 Jahr deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wird.

 Die Angeklagten tragen gesamtschuldnerisch die Kosten des Verfahrens und ihre notwendigen Auslagen.

 Angewandte Vorschriften: §§ 223 Abs. 1, 224 Abs. 1 Nr. 2, Nr. 5, Abs. 2, 340 Abs. 1, 2, 13 Abs. 1, 22, 23 Abs. 1, 25 Abs. 2 StGB.

 Gründe: 

 I.

 1. Die am ... 1983 in B. geborene Angeklagte C ist verheiratet und Mutter eines 3 ½ Monate alten Kindes. Nach dem Abitur hat sie zunächst den Beruf der Grafikdesignerin erlernt und dann eine Ausbildung bei der Polizei begonnen und beendet. Seit 2013 ist sie Polizistin. Derzeit erhält sie Elterngeld in Höhe von 1.800,00 Euro.

 Die Angeklagte C ist nicht vorbestraft.

 2. Die am ... 1988 in H. geborene Angeklagte ist ledig und kinderlos. Nach dem Abitur erlernte sie den Beruf der kaufmännischen Angestellten. Im Anschluss erfolgte eine Ausbildung zur Polizistin, die sie 2016 beendete. Als Polizistin verdient die Angeklagte T ca. 3.600,00 Euro netto monatlich.

 Die Angeklagte T ist nicht vorbestraft.

 II.

 In der Tatnacht gegen 23:41 Uhr führten die beiden Polizeibeamten E und y3 in der M. straße eine Verkehrskontrolle bei dem gesondert Verfolgten L durch. Der gesondert Verfolgte verhielt sich gegenüber den Beamten zunächst kooperativ, um dann zu seinem Fahrzeug zu laufen und die im Seitenfach befindliche Pistole Walther P 99 an sich zu nehmen. Aus kürzester Entfernung eröffnete er das Feuer auf den Polizeibeamten E, der von dem Schuss in Höhe der Milz getroffen wurde. Ein Eintreten des Projektils in den Oberkörper konnte durch die schusssichere Weste verhindert werden, jedoch wurde der Beamte durch die Wucht des Aufpralls nach hinten geschleudert und ging verletzt zu Boden.

 Sodann gab der gesondert Verfolgte weitere Schüsse in Richtung des auf dem Boden befindlichen Beamten ab. Nachdem der Beamte y3 nun seinerseits auf das Fahrzeug des gesondert Verfolgten geschossen hatte, feuerte jener auch in Richtung des Geschädigten y3, ohne diesen jedoch zu treffen.

 Bei dem Feuergefecht zwischen den beiden Polizeibeamten und dem gesondert Verfolgten, dem letztlich die Flucht gelang, wurden insgesamt 21 Schüsse abgegeben.

 Die beiden angeklagten Polizeibeamtinnen, die zwischenzeitlich den von ihnen geführten Polizeiwagen ca. zwei Fahrzeuglängen hinter der Kontrollstelle geparkt hatten, flohen vom Einsatzort, obwohl sie den Schusswechsel bemerkten und zudem ausdrücklich um Hilfe gebeten wurden, anstatt ihrerseits das Feuer auf den Angreifer zu eröffnen bzw. einen Warnschuss abzugeben und diesen so an einer weiteren Schussabgabe zu hindern bzw. zu hindern zu versuchen. Die geladenen Maschinenpistolen und das Einsatzfahrzeug ließen sie zurück. Dabei war beiden bewusst, ihre Kollegen damit zumindest der Gefahr erheblicher Verletzungen durch Schüsse des gesondert Verfolgten auszusetzen.

 III.

 Zu ihren persönlichen Verhältnissen haben sich die Angeklagten so eingelassen, wie festgestellt.

 Die Feststellungen zu den früheren Strafverfahren beruhen auf den in der Hauptverhandlung verlesenen Bundeszentralregisterauszügen.

 Die Feststellungen zur Tat ergeben sich aus der geständigen Einlassung der Angeklagten, an deren Wahrheitsgehalt zu zweifeln keinerlei Veranlassung bestand sowie aus den Angaben der Zeugen E, y3, T3, S und C2 und der Inaugenscheinnahme der Videoaufzeichnungen aus dem Streifenwagen E/y3 und den Lichtbildern Bl. 163 ff. d.A. und der Verlesung von Bl. 503 - 505 d.A. und Bl. 774ff. d.A..

 1. Die Angeklagten haben sich im Rahmen der Hauptverhandlung geständig zur Sache eingelassen. Die Angeklagte C führte aus, dass sie bei dem Einsatz Todesangst gehabt hätte. In der Nacht sei sie mit der Kollegin Streife gefahren. Die Kollegin sei gefahren. Sie hätten dann einen Einsatz bekommen. Das sei „An der Drehbank“ bei der Gocartbahn gewesen. Sie hätten ein Fahrzeug mit Warnblinklicht gesehen. Die Kollegin habe dann den Bully gestoppt und dabei geschrien: „Raus C.“ Sie sei dann perplex gewesen. Sie habe ihre Weste zugemacht, beide seien dann hinter das Fahrzeug gelaufen, in Deckung hinter die Motorhaube. Das Funkgerät sei im Fahrzeug verblieben. Es seien Schüsse gefallen. Sie habe damit gerechnet, dass der Täter in ihre Richtung käme und auf sie schießen würde. Ihre Kollegin habe gerufen: „Lauf, lauf.“ Sie habe die ganze Zeit gedacht, dass sie von hinten eine Kugel treffen würde. Sie habe absolute Todesangst gehabt. Dann sei ihnen ein Fahrzeug entgegen gekommen. Sie habe den Kollegen E auf der Straße liegen sehen. Sie habe dann das Auto gestoppt und der Fahrerin gesagt, dass sie einsteigen würden und sie fahren sollte. Das habe die Fahrerin dann auch gemacht. Die Kollegin habe dann um deren Handy gebeten und mit der Leitstelle telefoniert. Sie habe damit gerechnet, verfolgt zu werden. Nach 2 Minuten Fahrzeit hätten sie dann gestoppt. Die Leitstelle habe sie angewiesen, zurückzufahren. Die Fahrerin habe sie dann wieder raus gelassen. Herr y3 habe auf sie und ihre Kollegin gewartet. Sie hätten sich dann erstmal auf Verletzungen untersucht.

 Weiter führte die Angeklagte C aus, dass die letzten Monate schwierig für sie gewesen seien. Sie sei sonst immer handlungssicher gewesen. An dem Tag sei es anders gewesen. Sie habe nicht gewusst, woher die Schüsse gekommen seien. Sie habe um ihr Leben gefürchtet und instinktiv gehandelt. Man übe nicht, auszusteigen und in einen Kugelhagel zu geraten. Sie habe erst menschlich gehandelt, erst hinterher wieder als Polizistin. Es habe sich um einen taktischen Rückzug gehandelt, um hinterher wieder funktionieren zu können.

 Das Fahrzeug sei verschlossen gewesen.

 2. Die Angeklagte T führte aus, dass sie Streife mit ihrer Kollegin gefahren sei. Sie habe das Fahrzeug geführt und dann ein Fahrzeug mit Warnblinker gesehen. Sie hätten dann erkannt, dass das ein Streifenwagen gewesen sei, C sei an ihrem Handy gewesen. Die Kollegen E und y3 hätten vor dem Streifenwagen gestanden. E habe seine Hand hochgezogen. Sie habe gedacht, er wolle grüßen, sie hätte zurück gegrüßt.

 Der L habe dann die Arme in Richtung des Kollegen bewegt. E habe sich die Hände vor das Gesicht gehalten. Sie hätte das Fahrzeug dann gebremst und gesagt: „Raus, Raus, Widerstand.“

 Die Kollegen hätten in Höhe der Fahrzeugtür gestanden. Andere Personen habe sie nicht gesehen. Es habe dann einen lauten Knall gegeben. Man habe in dem Moment nicht damit gerechnet. Sie habe nicht gewusst, woher das gekommen sei. Es sei kein Mündungsfeuer zu sehen gewesen. Sie sei dann stehen geblieben. Ihre Kollegin sei einige Meter hinter ihr gewesen. Sie habe dann den Kollegen auf dem Boden liegen sehen. Es sei dann ein Schuss nach dem anderen gekommen. Es habe laut gehallt. Sie habe so etwas noch nie gehört. Der Kollege y3 sei dann seitlich weggegangen. Es habe überall geknallt. Sie sei von einem Hinterhalt ausgegangen. Sie habe gedacht, sie stünden auch unter Beschuss. Sei sei der Situation nicht gewachsen gewesen. Sie habe erstmal in Deckung gehen wollen, um dann Unterstützung rufen zu können. Sie habe im Laufen gesagt: „Lauf C, lauf“. Leider hätte sie ihr Funkgerät nicht an der Schulter getragen. Es habe keine Möglichkeit bestanden, miteinander zu kommunizieren. Sie hätten nur die Wahl gehabt, Unterstützung anzufordern. Im Hintergrund seien immer noch Schüsse gewesen. Es habe geklungen, als würde es immer näher kommen. Sie habe damit gerechnet, in den Hinterkopf getroffen zu werden. An der M. straße seien sie dann runter und hätten das Fahrzeug angehalten. Sie sei dann zur Fahrerseite gegangen.

 Sie habe während des Einsteigens nach einem Mobiltelefon gefragt. Die Durchwahl der Leitstelle sei ihr nicht eingefallen. Sie habe dann die 110 gewählt und der Leitstelle erklärt, was passiert sei. Was im Fahrzeug gesprochen wurde, hätte sie gar nicht mitbekommen. Sie habe dann bemerkt, dass sie sich schon weit von der Örtlichkeit entfernt hätten. Die Leitstelle habe dann gesagt, sie sollen zurückfahren. Sie seien dann nach der Rückkehr direkt zu y3 gelaufen. Die Dienstwaffe von dem anderen Kollegen hätten sie entgegengenommen und in den Streifenwaren getan. Der Wagen sei verschlossen gewesen.

 3. Der Zeuge E führte aus, dass es einen Abend zuvor Sprengungen von Geldautomaten gegeben habe. Deshalb sei der L kontrolliert worden.

 Sie hätten ihn angehalten und herausbekommen, dass er einen Haftbefehl offen hatte. Sie hätten den Haftbefehl durchsetzen wollen. Die Kolleginnen seien an der Kontrollstelle vorbeigefahren. Er habe eine winkende Handbewegung gemacht, damit sie anhalten. Die Angeklagte T habe das Fahrzeug dann abgebremst. Die Situation sei in dem Moment eskaliert.

 Er und sein Kollege hätten den L an der Fahrertür festhalten können. Er habe sich dann aber in das Fahrzeug geworfen und unter dem Sitz etwas gesucht. Der Kollege habe dann mit Pfefferspray in das Auto gesprüht. Der L habe trotzdem auf ihn schießen können. Er sei nach hinten gestrauchelt. Sein Kollege habe den Täter dann unter Druck setzen wollen. Das Fahrzeug der Kolleginnen sei leicht hinter seinem Wagen gewesen. Sie hätten sich mitten im Geschehen befunden. Die Kolleginnen seien unter Beschuss gewesen, der L habe mindestens einen Schuss in Richtung der Kolleginnen abgegeben. Die Entfernung müsse so ungefähr 20 m betragen haben. Er habe keine Schäden davongetragen und könne ganz normal seinen Dienst versehen. Er mache den Kolleginnen absolut keinen Vorwurf. Es tue ihm leid, dass die Kolleginnen in dieser Situation gewesen seien.

 4. Der Zeuge y3 führte aus, dass sie Sichtkontakt zu den Kolleginnen gehabt hätten, als der L den Urinbbecher gefüllt habe. Die Kolleginnen seien langsam gefahren. Es habe keinen Einsatz für die Kolleginnen gegeben. Der L habe dann den Urinbecher in Richtung Gesicht des E geworfen. Er habe versucht, den L festzuhalten.

 Sie hätten ihn nicht aus dem Fahrzeug ziehen können. Der L habe dann nach unten gegriffen. Er habe dann mit Pfefferspray gesprüht. Sein Kollege E habe die Waffe gezogen gehabt. Es hätte einen Knall gegeben und er habe sehr lautes Schreien gehört. Er habe daraufhin das Pfefferspray fallen lassen und die Waffe gezogen. Dann habe er einen Positionswechsel gemacht. Beim Positionswechsel hätte er Sichtkontakt zu den Kolleginnen gehabt. Er habe gesehen, dass die Kolleginnen fußläufig in die andere Richtung gerannt seien. Herr E habe sich Richtung Parkplatz geschleppt. Der L sei dann geflüchtet. Er habe im Anschluss gefunkt und gefragt: „C, T, wo seid ihr?“

 Der Rettungswagen sei dann gekommen und habe die Erstversorgung gemacht. Dann seien die Kolleginnen zurückgekommen. Sie hätten sich dann gemeinsam über das weitere Vorgehen, Fahndung, Absperrung u.s.w., unterhalten.

 Der Zeuge führte weiter aus, dass der L nach hinten geschossen hätte. Die Kolleginnen seien in Gefahr gewesen und wenn die Kolleginnen geschossen hätten, hätten sie auch ihn und seinen Kollegen treffen können.

 5. Der Zeuge S führte aus, dass er der Dienstgruppenleiter gewesen sei, er sei aber nicht im Dienst gewesen. Er sei dann aber nach Ennepetal gekommen, um zu unterstützen. Er habe durch Gespräche von dem Einsatz erfahren. In der Nacht habe er keinen Kontakt zu den Angeklagten gehabt. Am Tag darauf habe es ein erstes Gespräch mit den Angeklagten gegeben. Er habe sich erstmal nach dem Zustand der Kollegen y3 und E erkundigt.

 Er führte weiter aus, dass er denke, dass jeder versucht hätte, in dieser Situation weg zu kommen, um Deckung zu suchen.

 6. Der Zeuge T3 führte aus, dass er zu dem Tatzeitpunkt Dienstgruppenleiter gewesen sei und sich auf der Wache befunden habe. Über Funk habe er von dem Schusswechsel erfahren.

 Er sei dann auf das verunfallte Täterfahrzeug getroffen. Ungefähr eine Stunde nach dem Schusswechsel sei er eingetroffen. Es seien Sicherungsmaßnahme zu treffen gewesen. Die Kollegen hätten ihm mitgeteilt, dass die Kolleginnen wohl unter Schock stünden. Er habe sie dann ins dienstfrei versetzt.

 Weiter führte er aus, dass der Zeuge y3 ihm gesagt habe: „Die sind einfach weggelaufen.“ Er habe das nicht richtig verstanden und habe das nicht richtig einordnen können. Als er zum Tatort gekommen sei, sei das Täterfahrzeug bereits weggewesen. Der Bully habe mit Abstand zu dem Streifenwagen von E und y3 gestanden. Er habe die Waffen im Kofferraum gefunden.

 7. Die Zeugin C2 führte aus, dass sie sich auf dem Weg von der Arbeit nach Hause befunden habe. Sie habe dann zwei Personen gesehen, die hin- und her gerannt seien. Die seien dann auf ihr Auto zu gerannt. Sie habe die Fensterscheibe runter gemacht. Die Dunkelhaarige habe sich hinten reingesetzt. Die beiden seien versetzt eingestiegen. Erst sei die blonde, dann die dunkelhaarige Polizistin eingestiegen. Eine habe gesagt, dass sie sie mitnehmen müsse. Genau könne sie das aber nicht mehr sagen, auch nicht, welche das gewesen sei. Das sei so lange her. Es habe Gespräche zwischen den beiden gegeben, wo sie hinfahren solle.

 Die beiden hätten panisch und ängstlich um den Kollegen gewirkt.

 Von einer Schießerei habe sie nicht sofort erfahren. Ob im Fahrzeug schon über Schüsse gesprochen worden sei, wisse sie nicht. Sie habe nur mitbekommen, dass jemand zu Boden gegangen sein soll. Sie sei über Rot gefahren, weil ihr das von einer der Beiden gesagt worden sei. Wer das gewesen sei, könne sie nicht sagen. Irgendwann habe eine der beiden gesagt, sie solle zurückfahren.

 8. Der Geschehensablauf wird von den Beteiligten übereinstimmend geschildert. Auch die Verlesung der Mitschnitte des Funkverkehrs und die Inaugenscheinnahme der Videodatei stützt die Angaben der Beteiligten. Das Gericht hat keine Veranlassung, daran zu zweifeln, dass es sich so zugetragen hat.

 IV.

 Die Angeklagten haben sich durch die festgestellte Tat der gemeinschaftlichen versuchten gefährlichen Körperverletzung im Amt durch Unterlassen schuldig gemacht; strafbar gemäß §§ 223 Abs. 1, 224 Abs. 1 Nr. 2, Nr. 5, Abs. 2, 340 Abs. 1, 2, 13 Abs. 1, 22, 23 Abs. 1, 25 Abs. 2 StGB.

 Die Angeklagten haben eine gemeinschaftliche versuchte Körperverletzung im Amt durch Unterlassen begangen, dadurch dass sie aus ihrer Deckung heraus keine Abwehrmaßnahmen und sonstige Hilfemaßnahmen getroffen haben.

 Das Delikt ist nicht vollendet, ein Körperverletzungserfolg durch das Unterlassen der Angeklagten ist gerade nicht eingetreten. Der Versuch ist auch strafbar.

 Das Unterlassungsdelikt kann in Versuchsform begangen werden. Eine Versuchsstrafbarkeit kommt insbesondere dann in Betracht, wenn der tatbestandliche Erfolg trotz Untätigkeit des Garanten ausbleibt. Der Tatentschluss muss sich auf sämtliche objektive Unrechtselemente des Unterlassungsdelikts beziehen (Gercke/Hembach in Leipold/Tsambikakis/Zöller, Anwaltskommentar StGB, 3. Aufl. 2020, § 13 Rn. 23).

 Die Angeklagten hatten jedenfalls bedingten Vorsatz in Bezug auf die Körperverletzung eines anderen Menschen und die Körperverletzung durch Unterlassen. Sie wussten, dass der Kollege E durch Schüsse verletzt werden könnte und nahmen dies in Kauf. Sie haben sich mit dem möglichen Erfolgseintritt abgefunden. In Abgrenzung zu einem Fahrlässigkeitsvorwurf, bei dem der Täter die Möglichkeit des Erfolgseintritts erkennt, sich aber mit dieser gerade nicht abfindet, sondern vielmehr darauf vertraut, der Erfolg werde nicht eintreten. Die Angeklagten hatten Todesangst im Hinblick auf ihre eigene Person, aber auch um den Kollegen E. Aus der Situation wollten sie aus Fluchtreflex einfach nur weg.

 Hier kommt es insbesondere darauf an, dass in ihrer Vorstellung eine Möglichkeit der Erfolgsabwendung bestanden hat. Die Angeklagten haben vorgetragen, Todesangst aufgrund der Schüsse gehabt zu haben, auch in dem Wissen, dass keinerlei Kenntnis über den Täter und mögliche weitere Täter bestanden hätte. Ihnen war daher nicht bewusst, dass der Angriff unmittelbar nach der begonnenen Flucht beendet war, vielmehr bestand gerade in ihrer Vorstellung die Möglichkeit von weiteren Tätern und weiteren Schüssen. Der Täter und auch mögliche Mittäter hätte gegebenenfalls durch Warnschüsse vertrieben werden können. Außerdem wäre das sofortige Hinzurufen von Hilfe möglich gewesen, auch dieses hätte den Täter und mögliche Mittäter zum Aufgeben verleiten können. Die Funkgeräte befanden sich zwar von beiden Angeklagten im Fahrzeug, über die Seitentüren hätte die Möglichkeit bestanden, diese wieder an sich zu nehmen, außerdem trug die Angeklagte C ihr Mobiltelefon am Körper. Des Weiteren bedarf es der Nichtvornahme der erfolgsabwendenden Handlung. Eine solche erfolgsabwendende Handlung liegt einerseits eben im Abgeben eines oder mehrerer Warnschüsse und andererseits in einem über Funk oder Mobiltelefon Verstärkung rufen. Diese Handlungen wurden seitens der Angeklagten nicht vorgenommen.

 Darüber hinaus oblag den Angeklagten eine Garantenpflicht. Die Angeklagten waren als Polizeibeamtinnen im Einsatz und unterliegen damit der Garantenpflicht. Zudem war die ihnen obliegende Handlung auch zumutbar. Die Angeklagten hatten nicht die Pflicht, dem Schützen entgegen zu rennen und sich dadurch in Gefahr zu bringen. Aus der Position heraus, in der sich die Angeklagte C auch zunächst befunden hatte, hätten beide aber sehr wohl zum Schutze der Kollegen agieren können. Hinter dem eigenen Fahrzeug in Deckung bestand die Möglichkeit, Warnschüsse in die Luft abzugeben und auch, Verstärkung zu rufen. Auch wenn beide Angeklagten ihr Funkgerät im Fahrzeug liegen ließen, bestand die Möglichkeit in ihrer Deckung hinter dem eigenen Fahrzeug sich einen Überblick über die Situation zu verschaffen, nämlich das Mitsichführen von Funk oder Mobiltelefonen. Die Angeklagte C hatte ein Mobiltelefon bei sich, welches sie zum Rufen von Verstärkung hätte benutzen können. Die Angeklagten befanden sich jedenfalls 25 Meter entfernt von dem Schützen L. Es war ihnen zuzumuten, auch in der Ausnahmesituation, in der sie sich befanden, sich nicht weiter von dem Tatort zu entfernen.

 V.

 Bei der Strafzumessung hinsichtlich der festgestellten Tat ging das Gericht vom Strafrahmen des § 224 Abs. 1 StGB aus, der Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu zehn Jahren androht. Innerhalb dieses Strafrahmens waren folgende Umstände für die Zumessung der Strafe bestimmend:

 Bei der Bemessung der konkreten Strafe war zu Gunsten beider Angeklagten zu berücksichtigen, dass sie nicht vorbestraft sind, dass sie ein vollumfängliches Geständnis abgelegt haben und dass die Tat schon einige Zeit zurückliegt. Außerdem war zu berücksichtigen, dass die Tat im Versuchsstadium stecken geblieben ist. Weiter war zu berücksichtigen, dass die Angeklagten durch die vorprozessuale Berichterstattung in den Medien vorverurteilt wurden und sich gewaltigen Anfeindungen gegenüber sahen. Weiter war zu ihren Gunsten zu berücksichtigen, dass eine Verurteilung auch dienstrechtliche Folgen bis hin zu einer Entfernung aus dem Dienstverhältnis für die Angeklagten haben kann. Außerdem war zu berücksichtigen, dass der Zeuge E keinerlei Strafverfolgungsinteresse gegen die Angeklagten hat.

 Zu ihren Lasten ist zu berücksichtigen, dass die Angeklagten die Möglichkeit sahen, dass die Zeugen E und y3 in die Gefahr des Todes gebracht wurden.

 Unter Berücksichtigung der vorgenannten Erwägungen hielt das Gericht die Verhängung einer Freiheitsstrafe in Höhe von einem Jahr sowohl für die Angeklagte C als auch für die Angeklagte T für tat- und schuldangemessen.

 Gemäß § 56 Abs. 1 StGB konnte diese Freiheitsstrafe zur Bewährung ausgesetzt werden. Das Gericht geht davon aus, dass sich die Angeklagten schon die Verurteilung zur Warnung dienen lassen und künftig auch ohne die Einwirkung des Strafvollzuges keine Straftaten mehr begehen werden. Den Angeklagten war im Zeitpunkt der Hauptverhandlung eine positive Sozialprognose zu stellen.

 VI.

 Die Kostenfolge beruht auf §§ 464, 465 StPO.

AG Schwelm Urt. v. 16.11.2021 – 500 Js 551/20, BeckRS 2021, 39526

 

 

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13 Kommentare

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Unsere moderne Gesellschaft prägt junge Menschen dahingehend, stets vorrangig den eigenen Vorteil im Auge zu haben.

Wer sich solchen Prägungsversuchen entzieht, der wird in unserer durch und durch durchökonomisierten opportunistischen Gesellschaft wird als dumm und als unopportunistisch und als zu wenig korrumpierbar und als politisch unzuverlässig und somit als Risiko oder gar als Gefahr für alle Opportunisten (und damit für die Mehrheit des Establishments) betrachtet.

Straftatbestände wie unterlassene Hilfeleistung passten in die Haltungen des 19. und 20. Jahrhunderts, aber in unserer heutigen gesellschaftlichen Realität wirken sie anachronistisch.

Es wird zwar immer noch von Dingen wie Verantwortung und Solidarität und Zivilcourage und Idealismus gesprochen, aber wer so etwas lebt der macht sich bei denen die die Macht haben nur unbeliebt und wird als Störfaktor oder Risikofaktor betrachtet.

Sowohl die Schulen als auch der öffentliche Dienst trimmen die Menschen auf möglichst reibungsloses Funktionieren, und daher werden die Menschen in Richtung Egoismus und Opportunismus erzogen (homo oeconomicus), denn der Egoismus und Opportunismus möglichst vieler Menschen erleichtert denjenigen die die Macht haben bzw. an der Macht beteiligt sind ihre Macht zu behalten und weitgehend störungsfrei auszuüben.

Vielleicht klingt meine Sichtweise sehr pessimistisch oder gar distopysch oder zu sehr nach Hendry Ibsen, aber so, wie junge Menschen heutzutage vom Mainstream getrimmt und ausgerichtet und geprägt werden, dürfte es heutzutage für junge Menschen viel schwierigerer sein, nicht egoistisch und opportunistisch zu handeln, als noch vor fünfzig Jahren. 

Das Verhalten, das die beiden Polizistinnen gezeigt haben, ist vermutlich ein "folgerichtiges" Resultat einer Haltung und Prägung, die heutzutage wohl mehrheitlich politisch gewollt ist, auch wenn das im vorliegenden Fall ganz konkret angeklagte Verhalten sicherlich nicht gewollt und gewünscht war (aber solche Konsequenzen werden wohl billgend in Kauf genommen).

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Das Urteil erspart NW wenigstens den Aufwand eines Disziplinarverfahrens. Immerhin etwas. Denn solche Kolleginnen möchte ja ohnehin kein Beamter an seiner Seite wissen. Und als Bürger stellt man sich unter Staatsgewalt - ausgeübt durch drei Beamte gegen einen Kriminellen - auch etwas anders vor.

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Verurteilung, Strafe und Begründung des Urteils wirken auf mich als Nichtjuristen plausibel. Die pauschale Verurteilung einer gesamten Generation möchte ich - und ich bin älter - nicht teilen. Interessanter und zielführender fände ich Nachbetrachtungen:

1. Hätte man durch anderes/ besseres Training mithelfen können diese Fehlhandlungen zu vermeiden?

2. Wenn man in extremen Situationen bestimmte Handlungsweisen erwartet, wie wählt man hierzu die richtigen Personen aus?

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Zu 1. Solche Situationen werden durchaus in der Ausbildung trainiert, es ist also nicht so das die beiden Damen hier unvorbereitet in die Situation geschickt wurden. Die Frage eines anderen / besseren Trainings stellt sich im Übrigen nicht: Polizisten werden in NRW ausschließlich ab der Laufbahngruppe 2 1. Einstiegsamt beschäftigt, was ein entsprechendes Studium voraussetzt. Deshalb kann auch vorausgesetzt werden das Traningsinhalte auch auf bisher unbekannte Situationen sachgerecht angewendet werden können. Wir reden in diesem Fall m.E. nicht von mangelhafter Ausbildung, worauf sich die Damen im Übrigen nicht berufen haben, sondern etwas mit der Persönlichkeit der beiden Damen zu tun hat. Ggf. kann man hier über Änderungen in den Personalauswahlverfahren nachdenken.

Zu 2. Ich weiß ja nicht wie Sie sich Polizeiarbeit vorstellen. I.d.R. wird zunächst kein Arbeitskreis gebildet oder eine andere Art Personalauswahlverfahren betrieben. Grundsätzlich werden Polizeibeamte als Universalisten innerhalb ihrer Laufbahn ausgebildet, so dass im Grundsatz jeder Polizist jederzeit in eine solche Situation geschickt werden kann. Das macht eine gute Polizei aus.

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Das Argument mit dem Studium ist mE nicht stichhaltig. Ein Studium befähigt jetzt nicht gerade zwingend zur "Übertragung von Trainingsinhalten auf unbekannte Situationen", in denen der phyisologisch nicht steuerbare Adrenalinkick und eine freeze/fight/flight-Reaktion einsetzt. Klar kann man Situationen trainieren, Garantien gibt es aber nicht, und mit dem Schulniveau hat das wohl gar nichts zu tun...

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Doch genau dazu sind die Trainings da, in sehr stark mit Stress behafteten Situationen angemessen zu agieren.

Mit der Schulniveau hat das auch nichts zu tun, dass war aber auch nicht Aussage meines Beitrages.

Nochmal: Auf mangelhafte Ausbildung haben sich die Damen in ihrer Verteidigung nicht berufen.

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Ein wirklich sehr interessanter Fall; vielen Dank für`s Veröffentlichen Herr Krumm.

Mir stellen sich beim Lesen des Urteils allerdings die folgenden zwei Fragen, wobei ich meine Einschätzung natürlich nur auf das Urteil und nicht die Hauptverhandlung stützen kann ...

1) Warum wird auf eine Unterlassensstrafbarkeit nach § 13 StGB abgestellt? § 340 I StGB enthält doch als Tatvariante ausdrücklich das "begehen lassen", was u. a. das Unterlassen mit dem aktiven Tun gleichstellt.

2) Was ist mit einer Strafbarkeit wegen vollendeter Aussetung gem. § 221 I Nr. 2 StGB? Der Gefahr einer schweren Gesundheitsschädigung, wenn nicht sogar des Todes waren die beiden Polizisten sicherlich ausgesetzt. So klingt es ja auch bei der Strafzumessung an.

Gibt es vielleicht jemanden, der diese Einschätzung teilt?

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Weglaufen, wie im vorliegenden Fall, ist das Eine. Überreagieren, wie im Fall Tennessee Eisenberg, den Polizisten mit 16 Schüssen (folgen- und straflos) durchsiebt und getötet haben, weil er ohne jemand zu verletzen wild mit einem Messer herumgefuchtelt hatte, ist das Andere. Und Wehleidigkeit ist das dritte Übel, wenn Polizisten wegen jeden blauen Flecks in Ausübung des Dienstes Schmerzensgeld einklagen, wegen Widerstands Strafanzeigen und wegen jedes "Bullen" Beleidigungsanzeigen erstatten. Ein gehöriges antrainiertes Maß an Resilienz gehört nach meinem Verständnis zum Polizeiberuf schon dazu. Verweichlichte und Überreaktionen schaden dem Ansehen und dem Respekt nur.

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Ich weiß nicht wie sich Polizeiarbeit vorstellen, m.E. erscheint es sinvoll sich mal den Alltag eines Polizisten anzuschauen.

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Der Alltag eines Polizisten unterscheidet sich recht unterschiedlich. Es gibt Beamte die ihre Arbeit gewissenhaft machen, andere je nach Laune, und besonders einige die das Ansehen der aufrichtigen Kollegen zerstoeren. 

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Das Ueberreagieren der Beamten im Fall Eisenberg war unglaublich, ebenso sind es die Rechtfertigungen der Gerichte in Nuernberg und Karlsruhe. 

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Die Polizistin, die nicht nur selber geflohen ist, und die Kollegen damit im Stich gelassen und quasi ausgesetzt hat, bzw. einer zwar bereits vor ihrem Eintreffen bereits begonnenen jedoch noch fortdauernden Gefahr, gegen die sie hätte einschreiten können, ausgesetzt hat, sondern die auch noch der anderen Kollegin, die zunächst nicht fliehen wollte, sondern die lediglich in Deckung gegangen ist, dazu angestiftetet hat, ebenfalls zu fliehen, hat eine im Vergleich zu ihrer Kollegin höhere Schuld.

Beide Polizistinnen sollten glücklich sein, daß der von den Kugeln des mit Haftbefehl gesuchten Rauschgifthändlers getroffene Kollege nicht gestorben ist, und die Polizistinnen sollten auch glücklich sein, daß der keinen Fürherschein besitzende Verbrecher bei seiner wilden Fahrerfucht vom Tatort keine Passanten überfahren hat sondern in eine leere Verkehrsinsel raste die sei Auto stoppte und zerstörte, und glücklich sein, daß der Verbrecher zwar vom Tatort fliehen konnte, dann nach seinem schweren Autounfall einige Straßen weiter von einem Polizeihund aufgespürt und von Kollegen nach einem weiteren Schusswechsel zu Boden gebracht und überwältigt und festgenommen werden konnte.

Hätte der Verbrecher den Polizei-Kollegen im Laufe der Schießerei tödlich getroffen, oder hätte der führerscheinlose und durch Pfefferspray akut halb-blinde Verbrecher auf seiner wilden Flucht einen Fußgänger oder Fahrradfahrer überfahren, oder hätte der später durch den Polizeihund aufgespürte Verbrecher bei der zweiten Schießerei einen Polizei-Kollegen getötet, dann wären die beiden Polizistinnen womöglich auch noch auf Schadenersatz und Schmerzensgeld in Anspruch genommen worden, und ihr Gewissen wäre dann wohl von ihrem Versagen vor ihrer Verantwortung zeitlebens schwer belastet geblieben.

Der Fall ist aber ja zum Glück noch einmal relativ glimpflich ausgegangen.

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Für Autofahrer die von der Polizei angehalten werden sollte es besser strengere regeln geben, ähnlich wie es in den USA praktiziert wird. Die Risiken für die Polizisten sollten reduziert werden. Es ist schlimm und unerträglich, daß es heute früh offenbar einem mutmaßlicher Wildieb bzw. Wilderer im normalerweise friedlichen und braven und beschaulichlichen pfälzischen Landkreis Kusel gelang, zwei Polizisten die ihn mit frisch erlegtem Wild im Kofferaum ertappten, in Verdeckungsabsicht zu ermorden. Für Autofahrer die von der Polizei angehalten werden sollte zukünfitg besser grundsätzlich die Regel "keine Bewegung!" gelten, und die Hände sollten immer für die Polizisten sichtbar bleiben, ähnlich wie es in Texas praktiziert wird. Das ist zwar für die 99,9999 % unschuldigen Autofahrer lästig, aber aus Solidarität mmit der Polizei, die unser aller Sicherheit dient, sollten wir solche Sicherheitsregeln alle lernen und akzeptieren.

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