BGH hebt Verurteilung eines Drogendealers wegen möglicher rechtsstaatswidriger Tatprovokation auf!

von Dr. Jörn Patzak, veröffentlicht am 30.01.2022

Das Landgericht verurteilte einen Drogendealer wegen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in vier Fällen und Handeltreibens mit Betäubungsmitteln u.a. in sieben Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und zwei Monaten.

In den Fällen 1 bis 6 hatte der Angeklagte (in den folgenden Urteilsgründen als Angeklagter H bezeichnet) zwischen 5 Gramm und 20 Gramm Kokain und teilweise zusätzlich 50 Marihuana erworben, welches er jeweils zur Hälfte gewinnbringend weiterverkaufte und zur Hälfte selbst konsumierte.

In den Fällen 7 bis 10 verkaufte der Angeklagte aus einer Flüchtlingsunterkunft heraus zwischen 10 Gramm und 89,75 Gramm Marihuana sowie in einem dieser Fälle zusätzlich 0,3 Gramm Kokain an einen Verdeckten Ermittler.

Auf wiederholte Nachfragen des Verdeckten Ermittlers, ob auch die Lieferung von Marihuana in einer Größenordnung von drei Kilogramm und Kokain bis zu 100 Gramm möglich sei, ließ der Angeklagte zwar ein gewisses Interesse an der Abwicklung eines solchen Geschäfts erkennen. Er gab aber auch zu verstehen, dass er über die Beschaffungsmöglichkeiten und die bei derartigen Liefermengen üblichen Preise nicht informiert sei. Nach mehreren Telefonaten mit dem Verdeckten Ermittler sagte der Angeklagte schließlich in Fall 11 die Lieferung von 3 Kilogramm Marihuana und 100 Gramm Kokain zu. Hierfür konnte der Angeklagte jedoch zunächst keinen eigenen Lieferanten finden. Er wandte sich an den Angeklagte Hö, der die Lieferung des Marihuanas und des Kokains durch andere Beteiligte organisierte. Bei der Auslieferung von 2,8 Kilogramm Marihuana, an der der Mitangeklagte I durch Abwiegen der Betäubungsmittel beteiligt war, kam es – noch vor Anlieferung des Kokains - zur Verhaftung der Beteiligten.

Der 1. Strafsenat des BGH beanstandet auf die Revision des Angeklagten die Verurteilung in Fall 11, da eine den Grundsatz des fairen Verfahrens verletzende Tatprovokation in Bezug auf den Angeklagten wegen einer möglicherweise unzulässigen Einflussnahme des Verdeckten Ermittlers auf das Tatgeschehen nicht ausgeschlossen werden könne (BGH Urt. v. 16.12.2021 – 1 StR 197/21, BeckRS 2021, 42005). Der 1. Strafsenat gab dem neuen Tatgericht auf, Feststellungen zu treffen, in welchem Umfang eine Verstrickung des Angeklagten und des Mitangeklagten I. in den Betäubungsmittelhandel bestand, wie weit deren Tatgeneigtheit vor der Einflussnahme des Verdeckten Ermittlers ging und wo diese ihre Grenzen fand. Ggf. sei das Verfahren sogar gem. §§ 206a, 260 Abs. 3 StPO einzustellen:

Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass das Tatgeschehen insoweit von einer rechtsstaatswidrigen Tatprovokation geprägt ist und dem diesbezüglichen Verfahren daher wegen Verletzung von Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG sowie Art. 6 Abs. 1 EMRK ein - von Amts wegen zu beachtendes - Verfahrenshindernis entgegensteht. …

aa) Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist das Gebot des fairen Verfahrens gemäß Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG und Art. 6 Abs. 1 EMRK durch eine polizeiliche Tatprovokation verletzt, wenn eine unverdächtige und zunächst nicht tatgeneigte Person durch einen Amtsträger oder eine von diesem geführte Vertrauensperson in einer dem Staat zurechenbaren Weise zu einer Straftat verleitet wird und dies zu einem Strafverfahren führt (vgl. BGH, Urteile vom 7. Dezember 2017 - 1 StR 320/17, BGHR MRK Art. 6 Abs. 1 Satz 1 fair-trial 13 Rn. 17 und vom 10. Juni 2015 - 2 StR 97/14, BGHSt 60, 276 Rn. 24; Beschlüsse vom 19. Januar 2016 - 4 StR 252/15 Rn. 3 und vom 19. Mai 2015 - 1 StR 128/15, BGHSt 60, 238 Rn. 24 f.).

(a) Ein in diesem Sinne tatprovozierendes Verhalten ist anzunehmen, wenn ein Verdeckter Ermittler oder eine polizeiliche Vertrauensperson mit dem Ziel, eine Tatbereitschaft zu wecken oder die Tatplanung zu intensivieren, über das bloße „Mitmachen“ hinaus mit einiger Erheblichkeit stimulierend auf den Täter einwirkt (BGH, Urteile vom 10. Juni 2015 - 2 StR 97/14, BGHSt 60, 276 Rn. 24 und vom 30. Mai 2001 - 1 StR 116/01 Rn. 15 mwN). Auch bei bereits bestehendem Anfangsverdacht kann die Rechtsstaatswidrigkeit einer Tatprovokation dadurch begründet sein, dass die Einwirkung im Verhältnis zum Anfangsverdacht „unvertretbar übergewichtig“ ist (vgl. BGH, Urteile vom 7. Dezember 2017 - 1 StR 320/17, BGHR MRK Art. 6 Abs. 1 Satz 1 fair-trial 13 Rn. 17; vom 10. Juni 2015 - 2 StR 97/14, BGHSt 60, 276 Rn. 24 und vom 11. Dezember 2013 - 5 StR 240/13, BGHR MRK Art. 6 Abs. 1 Satz 1 fair-trial 8 Rn. 34 mwN; Beschlüsse vom 19. Januar 2016 - 4 StR 252/15 Rn. 3 und vom 19. Mai 2015 - 1 StR 128/15, BGHSt 60, 238 Rn. 24 f. mwN). Im Rahmen der erforderlichen Abwägung sind insbesondere Grundlage und Ausmaß des gegen den Betroffenen bestehenden Verdachts, aber auch Art, Intensität und Zweck der Einflussnahme sowie die eigenen, nicht fremdgesteuerten Aktivitäten des Betroffenen in den Blick zu nehmen (BGH, Urteile vom 7. Dezember 2017 - 1 StR 320/17, BGHR MRK Art. 6 Abs. 1 Satz 1 fair-trial 13 Rn. 17; vom 10. Juni 2015 - 2 StR 97/14, BGHSt 60, 276 Rn. 24 und vom 23. Mai 1984 - 1 StR 148/84, BGHSt 32, 345, 346 f.).

(b) Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte verletzt eine polizeiliche Provokation Art. 6 Abs. 1 EMRK, wenn sich die Ermittlungsperson nicht auf eine „weitgehend passive“ Strafermittlung beschränkt hat (EGMR, Urteile vom 15. Oktober 2020 - 40495/15, 40913/15, 37273/15 Rn. 112 und vom 23. Oktober 2014 - 54648/09 Rn. 48). Dabei ist zu prüfen, ob es objektive Anhaltspunkte für den Verdacht gab, dass der Täter an kriminellen Aktivitäten beteiligt oder tatgeneigt war (vgl. EGMR, Urteile vom 15. Oktober 2020 - 40495/15, 40913/15, 37273/15 Rn. 115 und vom 23. Oktober 2014 - 54648/09 Rn. 48 ff.; vgl. auch BGH, Urteile vom 7. Dezember 2017 - 1 StR 320/17, BGHR MRK Art. 6 Abs. 1 Satz 1 fair-trial 13 Rn. 18 und vom 19. Mai 2015 - 1 StR 128/15, BGHSt 60, 238 Rn. 27 mwN). Für die Frage, ob eine Person tatgeneigt war, ist - im Anschluss an den Gerichtshof - im Einzelfall u.a. die erwiesene Vertrautheit des Betroffenen mit aktuellen Preisen von Betäubungsmitteln, dessen Fähigkeit, solche kurzfristig zu beschaffen, sowie seine Gewinnbeteiligung bedeutsam (vgl. EGMR, Urteile vom 23. Oktober 2014 - 54648/09 Rn. 49 ff. mwN und vom 15. Oktober 2020 - 40495/15, 40913/15, 37273/15 Rn. 115; vgl. auch BGH, Urteil vom 7. Dezember 2017 - 1 StR 320/17, BGHR MRK Art. 6 Abs. 1 Satz 1 fair-trial 13 Rn. 18).

Bei der Differenzierung zwischen einer rechtmäßigen Infiltrierung durch eine Ermittlungsperson und der (konventionswidrigen) Provokation einer Straftat ist weiterhin maßgeblich, ob auf den Angeklagten Druck ausgeübt wurde, die Straftat zu begehen. Dabei ist unter anderem darauf abzustellen, ob die Ermittlungsperson von sich aus Kontakt zu dem Täter aufgenommen, ihr Angebot trotz anfänglicher Ablehnung erneuert oder den Täter mit den Marktwert übersteigenden Preisen geködert hat (vgl. EGMR, Urteile vom 23. Oktober 2014 - 54648/09 Rn. 52 mwN und vom 15. Oktober 2020 - 40495/15, 40913/15, 37273/15 Rn. 116; vgl. auch BGH, Urteil vom 7. Dezember 2017 - 1 StR 320/17, BGHR MRK Art. 6 Abs. 1 Satz 1 fair-trial 13 Rn. 18).

(c) Eine Straftat kann auch dann auf einer rechtsstaatswidrigen Tatprovokation beruhen, wenn sich der Täter aufgrund der Einwirkung des Verdeckten Ermittlers auf die ihm angesonnene Intensivierung der Tatplanung einlässt oder hierdurch seine Bereitschaft wecken lässt, eine Tat mit einem erheblich höheren Unrechtsgehalt zu begehen („Aufstiftung“; vgl. BGH, Beschluss vom 28. Februar 2018 - 4 StR 640/17; Urteile vom 30. Mai 2001 - 1 StR 42/01, BGHSt 47, 44, 51 und vom 30. Mai 2001 - 1 StR 116/01 Rn. 17 f.). In einem solchen Fall kommt es darauf an, ob der Täter auf die ihm angesonnene Intensivierung der Tatplanung ohne Weiteres eingeht, beziehungsweise sich geneigt zeigt, die Tat mit dem höheren Unrechtsgehalt zu begehen oder an ihr mitzuwirken (BGH, Urteil vom 30. Mai 2001 - 1 StR 42/01, BGHSt 47, 44, 51). Eine derartige - auf eine Tat mit erheblich höherem Unrechtsgehalt - gerichtete Tatgeneigtheit ist durch das Tatgericht gesondert festzustellen. Geht die qualitative Steigerung der Verstrickung des Täters mit einer Einwirkung durch die Ermittlungsperson einher, die von einiger Erheblichkeit ist, so liegt ein Fall der unzulässigen Tatprovokation vor. In diesem Falle kann ein Konventionsverstoß angenommen werden, dem entsprechend Rechnung zu tragen ist (vgl. BGH, Urteil vom 30. Mai 2001 - 1 StR 42/01, BGHSt 47, 44, 51).

bb) Nach den vorgenannten Maßstäben kann hier eine den Grundsatz des fairen Verfahrens und das Rechtsstaatsprinzip verletzende Tatprovokation in Bezug auf den Angeklagten H. nicht ausgeschlossen werden. Die bisherigen Feststellungen lassen nicht die Beurteilung zu, ob sich die den Polizeibehörden zuzurechnende Einflussnahme auf das Tatgeschehen im Rahmen des rechtlich Zulässigen hielt.

Der nicht wegen Verstoßes gegen das Betäubungsmittelgesetz vorbestrafte Angeklagte H. handelte bis zum ersten Verkaufsvorgang an den Verdeckten Ermittler zwar mit Cannabisprodukten und auch mit Kokain, dies aber nur in Mengen, die den Grenzwert der nicht geringen Menge nicht überstiegen. Er war damit zwar bereits (auf unterer Ebene des Vertriebsgeschehens) in den Betäubungsmittelhandel verstrickt, weshalb insoweit auch ein greifbarer Anfangsverdacht weiterer Tatneigung bestand, dies aber bis zum Eingreifen des Verdeckten Ermittlers nur bezüglich überschaubarer Betäubungsmittelmengen im zweistelligen (Verkauf/Handeltreiben einerseits und Besitz zwecks Eigenkonsums andererseits) und niedrigen dreistelligen (Einkauf für Handeltreiben und Eigenkonsum) Grammbereich.

(a) Anhaltspunkte dafür, dass der Angeklagte auch hinsichtlich deutlich oberhalb der geltenden Grenzwerte für nicht geringe Mengen, insbesondere um einen „Quantensprung“ (vgl. hierzu BGH, Urteile vom 30. Mai 2001 - 1 StR 42/01 BGHSt 47, 44, 51 und vom 30. Mai 2001 - 1 StR 116/01 Rn. 17 f.) über den bisher gehandelten Mengen liegender und damit qualitativ gänzlich anders einzuordnender Geschäfte tatgeneigt gewesen sein könnte, als der Verdeckte Ermittler ihn anlässlich des ersten verfahrensgegenständlichen Betäubungsmittelgeschäfts darauf ansprach, ob er auch „größere“ Mengen verkaufen könne, ergeben sich aus dem landgerichtlichen Urteil nicht.

Insbesondere die Reaktion des Angeklagten auf die erste Anfrage des Verdeckten Ermittlers, dass er auch „100 Gramm Marihuana oder mehr“ (UA S. 8) sowie Kokain von mehr als fünf Gramm verkaufen könne, gibt keinen Hinweis darauf, dass der Angeklagte H. bereits zu diesem Zeitpunkt hinsichtlich einer ganz erheblich über dem Grenzwert der nicht geringen Menge liegenden Lieferung von mehreren Kilogramm Cannabis und erheblichen Mengen an Kokain tatgeneigt gewesen sein könnte. Der Angeklagte H. kam nach der ersten Anfrage des Verdeckten Ermittlers auch nicht etwa selbst auf das vom Ermittler bekundete Erwerbsinteresse größeren Umfangs zurück; vielmehr war es der Verdeckte Ermittler, der den Angeklagten nachfolgend wiederholt auf die Möglichkeit der Abwicklung eines größeren Betäubungsmittelgeschäfts in der Größenordnung von drei Kilogramm Marihuana und 50 bis 100 Gramm Kokain ansprach. Auf diese weiteren Nachfragen ließ der Angeklagte zwar jeweils ein gewisses Interesse an der Abwicklung eines solchen Geschäfts erkennen; er gab aber gleichzeitig zu verstehen, dass er über die Beschaffungsmöglichkeiten und die bei derartigen Liefermengen üblichen Preise nicht informiert war. Tatsächlich gelang es dem Angeklagten nach den getroffenen Feststellungen auch nicht, die vom Verdeckten Ermittler abgefragte Liefermenge von seinem bisherigen Lieferantenkreis zu beschaffen, weshalb er schließlich an den Angeklagten Hö. herantrat, der schlussendlich den Einkauf der abgefragten Menge organisierte.

(b) Im Übrigen teilt das landgerichtliche Urteil nur mit, dass der Angeklagte und der Verdeckte Ermittler nach dem 29. April 2020 mehrmals telefonierten und sich auf die vom Verdeckten Ermittler erwünschte Lieferung einigten. Wer die Telefonate jeweils initiierte und was genau deren Gegenstand und Inhalt war, lässt sich den Urteilsgründen indes nicht entnehmen. Der Senat vermag danach auf der Grundlage der bislang getroffenen Feststellungen nicht zu beurteilen, ob die Einwirkung des Verdeckten Ermittlers auf den Angeklagten H. noch in unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten angemessenem Verhältnis zu dem sich auf Betäubungsmittelgeschäfte von deutlich geringerem Umfang beziehenden Anfangsverdacht stand oder ob diese Einwirkung „erheblich“ im Sinne der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs war. Insbesondere ist dem Senat eine Beurteilung nicht möglich, ob die Einwirkung des Verdeckten Ermittlers auf den Angeklagten in einer Gesamtbetrachtung als „Druck“ im Sinne der vorgenannten Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte und des Bundesgerichtshofs zu bewerten ist und ob sich das Verhalten des Verdeckten Ermittlers trotz dessen festgestellter - wiederholter - Nachfragen nach einem „größeren“ Geschäft in der Gesamtschau noch als „weitgehend passive Ermittlungstätigkeit“ im Sinne der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte und des Bundesgerichtshofs darstellt.

(c) Eine Einwirkung von einigem Gewicht liegt in Ansehung des wiederholten Nachfragens des Verdeckten Ermittlers wegen einer größeren Lieferung im Kilogrammbereich, aber auch deshalb jedenfalls nicht fern, weil der Verdeckte Ermittler nach der vom Landgericht zugrunde gelegten Einlassung des Angeklagten H. „immer“ auf die gemeinsame Herkunft aus dem afghanischen/pakistanischen Raum hingewiesen und „irgendwas von zusammenhalten“ erzählt hatte (UA S. 15). Hinzu kommt, dass der Verdeckte Ermittler den Angeklagten nach dessen vom Landgericht als glaubhaft gewerteter Einlassung darauf hingewiesen hatte, dass er „Probleme mit früheren Lieferanten“ habe (UA S. 15), was sich - eine belastbare Beurteilung ist dem Senat wegen der nur rudimentären Darstellung im Urteil auch insoweit nicht möglich - als zusätzlicher Druck auf den Angeklagten ausgewirkt haben könnte.

cc) Ob von einer rechtsstaatswidrigen Tatprovokation auszugehen ist, die zu einem Verfahrenshindernis führt, hat das Revisionsgericht zwar grundsätzlich selbst aufgrund der getroffenen oder von ihm noch zu treffenden ergänzenden Feststellungen und des Akteninhalts zu entscheiden (vgl. BGH, Urteil vom 4. Juli 2018 - 5 StR 650/17 Rn. 28). Auch eine Einsichtnahme des Senats in die Verfahrensakten, insbesondere in die Vermerke des Verdeckten Ermittlers, würde aber eine Beurteilung, ob sich das Verhalten des Verdeckten Ermittlers in den zulässigen, vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, dem Bundesverfassungsgericht und dem Bundesgerichtshof gezogenen rechtsstaatlichen Grenzen halten würde, nicht erlauben; vielmehr bedarf es hierfür weiterer in einem tatgerichtlichen Beweisverfahren zu gewinnender Feststellungen sowie einer Würdigung der vom Tatgericht erhobenen Beweise. In einem solchen Fall ist es dem Revisionsgericht nicht verwehrt, die Sache zur Nachholung fehlender Feststellungen an das Tatgericht zurückzuverweisen (BGH, Urteil vom 4. Juli 2018 - 5 StR 650/17 Rn. 28 mwN).

b) Das neue Tatgericht wird ausgehend von den zum Vorliegen einer rechtsstaatswidrigen Tatprovokation entwickelten Maßstäben Feststellungen zu treffen haben, die eine belastbare Beurteilung ermöglichen, in welchem Umfang eine Verstrickung des Angeklagten H. und des Mitangeklagten I. in den Betäubungsmittelhandel bestand, wie weit deren Tatgeneigtheit vor der Einflussnahme des Verdeckten Ermittlers ging und wo diese ihre Grenzen fand. Weiter wird es sich damit auseinanderzusetzen haben, ob sich das Verhalten des Verdeckten Ermittlers als „weitgehend passive“ Ermittlungstätigkeit im Sinne der genannten Rechtsprechung darstellt. Dabei wird es auch in den Blick zu nehmen haben, ob das stimulierende Verhalten des Verdeckten Ermittlers nach einer vorzunehmenden Gesamtschau eine solche Erheblichkeit erreicht, dass sich dieses im Verhältnis zu dem den Ermittlungseinsatz etwa rechtfertigenden Anfangsverdacht einer bestehenden Tatgeneigtheit als „unvertretbar übergewichtig“ darstellt. Hierfür sind nicht nur konkrete Feststellungen zu Grundlage und Ausmaß des gegen den jeweiligen Angeklagten bestehenden Anfangsverdachts sowie dazu zu treffen, in welchem genauen Umfang dieser gegebenenfalls - ohne staatliche Einflussnahme - bereits eigene Aktivitäten im Bereich des Betäubungsmittelhandels entfaltet hatte, sondern auch zu Art, Intensität und Zweck der Einflussnahme des Verdeckten Ermittlers. Insoweit wird es insbesondere darauf Bedacht zu nehmen haben, ob die Einwirkung des Verdeckten Ermittlers - unter Berücksichtigung der von diesem entwickelten Initiativen zur Abwicklung eines größeren Betäubungsmittelgeschäfts, dessen Anspielung auf den gemeinsamen Migrationshintergrund und den Hinweis, dass er Probleme mit früheren Lieferanten habe - als „Druck“ im Sinne der vorgenannten Rechtsprechung zu bewerten sein könnte. All diese vorbezeichneten Umstände bilden die Grundlage für eine durch das neue Tatgericht vorzunehmende Gesamtbewertung, ob wegen einer rechtsstaatswidrigen Tatprovokation ein Verfahrenshindernis anzunehmen ist.

c) Sollte das Verhalten des Verdeckten Ermittlers als rechtsstaatswidrige Tatprovokation zu werten sein, stünde dem Verfahren insoweit ein Verfahrenshindernis entgegen, so dass das Verfahren hinsichtlich der Tat II. 11. der Urteilsgründe gemäß §§ 206a, 260 Abs. 3 StPO einzustellen wäre; für eine Berücksichtigung dieses Umstands über ein Beweisverwertungsverbot (vgl. BGH, Urteil vom 10. Juni 2015 - 2 StR 97/14, BGHSt 60, 276 Rn. 49 ff.) oder im Rahmen der Strafzumessung wäre kein Raum (vgl. EGMR, Urteile vom 15. Oktober 2020 - 40495/15, 40913/15, 37273/15 Rn. 123 f. und vom 23. Oktober 2014 - 54648/09 Rn. 68; BGH, Urteil vom 10. Juni 2015 - 2 StR 97/14, BGHSt 60, 276 Rn. 36 ff.).

Diesen Beitrag per E-Mail weiterempfehlenDruckversion

Hinweise zur bestehenden Moderationspraxis
Kommentar schreiben

1 Kommentar

Kommentare als Feed abonnieren

Gut, dass es da so eine Rechtsprechung gibt. Ich finde derartiges polizeiliches Verhalten auch skandalös. 

Kommentar hinzufügen