Der Entwurf des neuen EU Chips Act: Ein Framework aus Förderung, Überwachung und europäischer Koordination

von Prof. Dr. Dennis-Kenji Kipker, veröffentlicht am 15.02.2022

Am 15. September 2021 adressierte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen in ihrer „State of the Union“-Ansprache das Thema digitale Souveränität als eine der Schlüsselfragen der 2020er-Jahre, die jedoch immer mehr vom Funktionieren weltweiter Lieferketten abhängig ist. Das ist eine Aufgabe, die in einem Zeitalter von wachsenden politischen Spannungen erhebliche Herausforderungen mit sich bringt. Vor allem die Versorgung mit wichtigen Halbleiterprodukten unterlag zuletzt immer wieder Einschränkungen, zum Teil auch hervorgerufen durch die pandemiebedingten weltweiten Unterbrechungen in den Lieferketten. In Deutschland war durch die fehlende Verfügbarkeit von Halbleitern vor allem der Automobilsektor betroffen, sodass es zu Produktionskürzungen mit erheblicher wirtschaftlicher Relevanz kam. Um die Halbleiterversorgung auf ein solides Fundament zu stellen, hat sich die Europäische Kommission dazu entschlossen, in einem eigenständigen Gesetz, dem „Chips Act“, die Rahmenbedingungen für eine technologiesouveräne Halbleiterentwicklung und -herstellung in der EU zu schaffen. Zurzeit liegt das Gesetz in einer Entwurfsfassung vor – nach seinem Inkrafttreten wird der EU Chips Act jedoch in allen europäischen Mitgliedstaaten unmittelbar gelten.

Das Gesetz steht dabei nicht separat für sich, sondern ist in einen größeren regulatorischen, politischen, strategischen und wirtschaftlichen Rahmen einzuordnen. Nur auf diese Weise lässt sich das ehrgeizige Ziel, in der Europäischen Union bis zum Jahr 2030 über einen globalen Marktanteil von 20% in der Halbleiterfertigung zu verfügen, erreichen. Das Rahmenwerk rund um den EU Chips Act setzt sich aus verschiedenen weiteren Maßnahmen zusammen, so unter anderem einer Mitteilung der Kommission, die die Gesamtstrategie beschreibt, aus einem konkretisierenden Annex zum Gesetz sowie aus der so genannten „common Union toolbox“ als einer Empfehlung der Kommission für kurzfristige Maßnahmen zur Behebung von Lieferengpässen bei Halbleitern inkl. eines EU-Mechanismus zur Überwachung des Halbleiter-Ökosystems.

Bei dem Chips Act selbst handelt es sich in seiner vorliegenden Entwurfsfassung um ein insgesamt 101 Seiten langes Dokument, das langfristig und strategisch vertiefend den Ansatz der „common Union toolbox“ fortführen soll. So werden zu Beginn zentrale Begriffsdefinitionen festgeschrieben, beispielsweise zu „Halbleiter“, „Chip“, Halbleiter-Lieferkette“, „Halbleiter-Wertschöpfungskette“ und „Krisenrelevantes Produkt“.

Die weitergehend beschriebene „Chips for Europe“-Initiative zielt auf die Förderung der Entwicklung neuer Halbleiterkapazitäten im europäischen Raum unter Einbeziehung der Förderprogramme „Horizon Europe“ und „Digital Europe“ ab. Insgesamt werden dabei fünf Zielsetzungen verfolgt: der Aufbau fortgeschrittener, in der Breite angelegter Entwurfskapazitäten für integrierte Halbleitertechnologien; die Verbesserung bestehender und Entwicklung neuer fortschrittlicher Pilotlinien; der Aufbau neuer Entwicklungskapazitäten für Quanten-Chips; der Aufbau eines Netzwerks von Kompetenzzentren für Halbleiter in der EU und die Einrichtung des „EU Chips Fund“, um insbesondere Start-ups, Scale-ups und KMUs einen erleichterten Zugang zu Finanzierungsmöglichkeiten zu gewähren. Ein „European Chips Infrastructure Consortium“ (ECIC) begleitet die Durchführung von förderfähigen Maßnahmen und erstellt einen jährlichen Tätigkeitsbericht. Spezielle Produktionsanlagen mit besonderer Fähigkeit zur Innovationsschöpfung, Nachhaltigkeit und Versorgungssicherheit für die europäische Halbleiterstrategie werden als so genannte „Integrated Production Facilities“ und „Open EU Foundries“ besonders gefördert.

Denknotwendigerweise dürfen auch im EU Chips Act Maßnahmen zur Marktüberwachung und zum Krisenmanagement nicht fehlen. So müssen Versorgungsengpässe möglichst zeitnah festgestellt und für diesen Fall mitgliedstaatenübergreifende Gegenmaßnahmen koordiniert werden. Dazu werden Frühwarnindikatoren etabliert und Nachfrageschwankungen sowie Unterbrechungen der Lieferkette in die Betrachtung einbezogen. Mitgliedstaaten müssen überdies ihre wichtigsten Marktteilnehmer ermitteln. Gesetzt den Fall, dass eine sogenannte „Halbleiterkrise“ eintritt, können beispielsweise Produktionskapazitäten in Richtung kritischer Sektoren umgelagert werden oder die Beschaffung von Halbleitern kann europäisch koordiniert werden.

In der Gesamtbetrachtung stellt der Entwurf des neuen EU Chips Act inklusive seiner flankierenden Maßnahmenkataloge zunächst einmal ein adäquates Mittel dar, um der gegenwärtigen schwierigen Beschaffungslage auf dem globalen Halbleitermarkt kurzfristig zu begegnen. Mittel- und langfristig muss sich aber zeigen, ob die angestrebten Förder- und Überwachungsmaßnahmen tatsächlich zu einem signifikanten Mehr an europäischer Technologiesouveränität im Halbleitersegment führen können oder ob darüber hinaus noch weitergehende Maßnahmen notwendig sind.

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