EuGH zur Leiharbeitsrichtlinie

von Prof. Dr. Markus Stoffels, veröffentlicht am 17.03.2022
Rechtsgebiete: Bürgerliches RechtArbeitsrecht|2283 Aufrufe

Der EuGH (Urteil vom 17.3.2022 - C‑232/20, Daimler) hat auf Vorlage des LAG Berlin-Brandenburg einige Auslegungsfragen betreffend die Leiharbeitsrichtlinie 2008/104 geklärt. Teils haben die Aussagen grundsätzliche Bedeutung, teils betreffen sie aber auch das vor dem 1.4.2017 geltende Recht bzw. das Übergangsrecht. In der Sache geht es um den Schutz des Leiharbeitnehmers vor missbräuchlichem Einsatz aufeinander folgender Überlassungen.

Von grundsätzlicher Bedeutung ist zunächst folgende Erkenntnis:

1. Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie 2008/104/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 19. November 2008 über Leiharbeit ist dahin auszulegen, dass der in dieser Bestimmung verwendete Begriff „vorübergehend“ der Überlassung eines Arbeitnehmers, der einen Arbeitsvertrag oder ein Arbeitsverhältnis mit einem Leiharbeitsunternehmen hat, an ein entleihendes Unternehmen, die zur Beschäftigung auf einem Arbeitsplatz erfolgt, der dauerhaft vorhanden ist und der nicht vertretungsweise besetzt wird, nicht entgegensteht. Das war bislang umstritten.

Der EuGH betont, dass der Unionsgesetzgeber nicht die Absicht hatte, den Einsatz von Leiharbeit zu beschränken, indem er dem Leiharbeitnehmer nur die Beschäftigung auf einem Arbeitsplatz mit vorübergehendem Charakter gestattete.

 

2. Art. 1 Abs. 1 und Art. 5 Abs. 5 der Richtlinie 2008/104 sind dahin auszulegen, dass es einen missbräuchlichen Einsatz aufeinanderfolgender Überlassungen eines Leiharbeitnehmers darstellt, wenn diese Überlassungen auf demselben Arbeitsplatz bei einem entleihenden Unternehmen für eine Dauer von 55 Monaten verlängert werden, falls die aufeinanderfolgenden Überlassungen desselben Leiharbeitnehmers bei demselben entleihenden Unternehmen zu einer Beschäftigungsdauer bei diesem Unternehmen führen, die länger ist als das, was unter Berücksichtigung sämtlicher relevanter Umstände, zu denen insbesondere die Branchenbesonderheiten zählen, und im Kontext des nationalen Regelungsrahmens vernünftigerweise als „vorübergehend“ betrachtet werden kann, ohne dass eine objektive Erklärung dafür gegeben wird, dass das betreffende entleihende Unternehmen auf eine Reihe aufeinanderfolgender Leiharbeitsverträge zurückgreift. Diese Feststellungen zu treffen, ist Sache des vorlegenden Gerichts.

Im Rahmen der zweiten Antwort weist der Gerichtshof u.a. darauf hin, dass die Richtlinie keine Dauer festlege, bei deren Überschreitung eine Überlassung nicht mehr als „vorübergehend“ eingestuft werden könne. Ebenso wenig würden die Mitgliedstaaten durch die Richtlinie verpflichtet, im nationalen Recht eine solche Dauer vorzusehen. Die Mitgliedstaaten müssten jedoch dafür Sorge tragen, dass Leiharbeit bei demselben entleihenden Unternehmen nicht zu einer Dauersituation für einen Leiharbeitnehmer werde. (RN 56)

 

3. Die Richtlinie 2008/104 ist dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung entgegensteht, die eine Höchstdauer der Überlassung desselben Leiharbeitnehmers an dasselbe entleihende Unternehmen festlegt, wenn sie durch eine Übergangsvorschrift die Berücksichtigung von vor dem Inkrafttreten dieser Regelung liegenden Zeiträumen bei der Berechnung dieser Dauer ausschließt und dem nationalen Gericht die Möglichkeit nimmt, die tatsächliche Dauer der Überlassung eines Leiharbeitnehmers zu berücksichtigen, um festzustellen, ob diese Überlassung im Sinne der Richtlinie „vorübergehend“ war; dies festzustellen, ist Sache dieses Gerichts. Ein nationales Gericht, bei dem ein Rechtsstreit ausschließlich zwischen Privatpersonen anhängig ist, ist nicht allein aufgrund des Unionsrechts verpflichtet, eine solche unionsrechtswidrige Übergangsvorschrift unangewendet zu lassen.

Hier ist der letzte Satz von Bedeutung, da zuletzt die Tendenz beim EuGH erkennbar, richtlinienwidrige Recht der Mitgliedstaaten für Unanwendbar zu erklären, insbesondere wenn ein Primärrechtsverstoß vorliegt.

 

4. Art. 10 Abs. 1 der Richtlinie 2008/104 ist dahin auszulegen, dass in Ermangelung einer nationalen Rechtsvorschrift, die eine Sanktion für die Nichteinhaltung dieser Richtlinie durch Leiharbeitsunternehmen oder entleihende Unternehmen vorsieht, der Leiharbeitnehmer aus dem Unionsrecht kein subjektives Recht auf Begründung eines Arbeitsverhältnisses mit dem entleihenden Unternehmen ableiten kann.

Im Rahmen der vierten Antwort führt der Gerichtshof u.a. aus, dass die Richtlinie 2008/104 keine genauen Regeln für die Festlegung der Sanktionen enthalte, sondern es den Mitgliedstaaten überlasse, unter den Sanktionen diejenigen auszuwählen, die zur Erreichung des Ziels der Richtlinie geeignet seien.

Die durch die Unvereinbarkeit des nationalen Rechts mit dem Unionsrecht geschädigte Partei könne sich jedoch auf die Francovich-Rechtsprechung berufen, um gegebenenfalls vom Staat Ersatz des entstandenen Schadens zu erlangen.

 

5. Die Richtlinie 2008/104 ist dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung nicht entgegensteht, die die Tarifvertragsparteien ermächtigt, auf der Ebene der Branche der entleihenden Unternehmen von der durch eine solche Regelung festgelegten Höchstdauer der Überlassung eines Leiharbeitnehmers abzuweichen.

 

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