Was denn nun?! 46 km/h zu viel oder doch nur 28 km/h zu viel?

von Carsten Krumm, veröffentlicht am 28.03.2022
Rechtsgebiete: Verkehrsrecht|1363 Aufrufe

Das AG hatte in sein Urteil einen Widerspruch eingebaut. Vielleicht ein Schreibfehler, ein Diktierfehler, vielleicht aber auch ein Ablesefehler? Man weiß es nicht. Und das BayObLG durfte selbst nicht die Akte insoweit überprüfen und die darin befindlichen Beweise würdigen:

 

I. Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen wird das Urteil des Amtsgerichts vom 18.10.2021 mit den Feststellungen sowie in der Kostenentscheidung aufgehoben.

 II. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens, an das Amtsgericht zurückverwiesen.

 Gründe: 

 I.

 Das Amtsgericht hat den Betroffenen am 18.10.2021 wegen einer am 11.04.2021 als Führer eines Pkws begangenen Ordnungswidrigkeit des fahrlässigen Überschreitens der zulässigen Höchstgeschwindigkeit außerhalb geschlossener Ortschaften um 46 km/h zur Geldbuße von 160 Euro verurteilt und gegen ihn ein einmonatiges Fahrverbot nach Maßgabe des § 25 Abs. 2a StVG verhängt. Mit seiner gegen diese Verurteilung gerichteten Rechtsbeschwerde rügt der Betroffene die Verletzung materiellen Rechts.

 II.

 Die zulässige Rechtsbeschwerde ist aufgrund der Sachrüge begründet.

 1. Die Urteilsgründe sind zur Höhe der vom Betroffenen gefahrenen Geschwindigkeit in sich widersprüchlich und können daher nicht Grundlage für die Verurteilung sein.

 a) Zwar wird im Rahmen der tatsächlichen Feststellungen eine mit der Geschwindigkeitsmessanlage TRAFFIPAX Traffistar S. 330 ermittelte Geschwindigkeitsüberschreitung um „mindestens 46 km/h (nach Toleranzabzug)“ bei einer erlaubten Höchstgeschwindigkeit von 100 km/h geschildert, was mit der Urteilsformel in Einklang steht. Im weiteren Verlauf der Urteilsgründe wird jedoch ausgeführt, dass die Messtoleranz von 5 km/h „von der gemessenen Geschwindigkeit von 133 km/h abgezogen“ worden sei, so dass unter Berücksichtigung dieser Feststellung lediglich eine Überschreitung um 28 km/h gegeben wäre.

 b) Soweit die Generalstaatsanwaltschaft unter Hinweis auf diesen Widerspruch konstatiert, es handele es sich um offensichtliche Schreibversehen, trifft dies zwar zu, rechtfertigt aber keineswegs den Schluss, dass der höhere Wert maßgeblich sei. Der Senat kann bei den widersprüchlichen Tatsachenfeststellungen nicht ausschließen, dass möglicherweise der höhere Wert fehlerhaft ist.

 c) Ebenso wenig kann der Widerspruch der Urteilsgründe durch einen Rückgriff auf den Akteninhalt ausgeräumt werden, weil sich dies aus prozessualen Gründen verbietet. Die Ermittlung des Sachverhalts und dessen Darstellung in den Urteilsgründen ist ausschließlich Aufgabe des Tatrichters. Eine Nachbesserung unzulänglicher Urteilsgründe durch den Akteninhalt ist dem Rechtsbeschwerdegericht schon deshalb verwehrt, weil ein Urteil aus sich heraus verständlich sein muss (st.Rspr., vgl. nur BGH, Urt. v. 20.10.2021 - 6 StR 319/21; 20.01.2021 - 2 StR 242/20 = MMR 2021, 639; 13.10.2016 - 4 StR 248/16 bei juris; Beschluss vom 29.12.2015 - 2 StR 322/15 = NStZ-RR 2016, 147; OLG Bamberg, Beschluss vom 07.08.2017 - 3 Ss OWi 996/17 = Blutalkohol 55 [2018], 78; 14.11.2016 - 3 Ss OWi 1164/16 = DAR 2017, 89 = OLGSt StPO § 267 Nr 31, jew. m.w.N.).

 d) Auch die in den Urteilsgründen nach § 267 Abs. 1 Satz 3 StPO erfolgte Bezugnahme auf das „Tatlichtbild“ erlaubt es dem Senat nicht, die dortigen Textfelder zur Korrektur der Urteilsgründe und Auflösung des Widerspruchs in den tatrichterlichen Feststellungen heranzuziehen.

 aa) Die Bestimmung des § 267 Abs. 1 Satz 3 StPO, wonach der Tatrichter zur Erleichterung der Darstellung von Abbildungen wegen der Einzelheiten in Abkehr von dem grundsätzlichen Erfordernis, die maßgeblichen Umstände in den Urteilsgründen zu schildern, die Abbildung durch Bezugnahme zum Inhalt der Urteilsurkunde machen kann, erlaubt dem Senat nicht den Rückgriff hierauf, um Widersprüche in den Tatsachenfeststellungen des tatrichterlichen Urteils aufzulösen. Die Verweisung auf Urkunden, um deren Inhalt es geht, gestattet § 267 Abs. 1 Satz 3 StPO gerade nicht (BGH, Urt. v. 20.10.2021 - 6 StR 319/21; 20.01.2021 - 2 StR 242/20, jew. a.a.O.). Bei den Messdaten handelt es sich aber nicht etwa um Abbildungen, die durch Inaugenscheinnahme zum Inbegriff der Hauptverhandlung gemäß § 261 StPO gemacht werden könnten. Vielmehr geht es bei deren Verwertung um den Inhalt einer textlichen Darstellung, die allein dem Urkundenbeweis nach § 249 StPO zugänglich ist (ebenso: OLG Hamm, Beschluss vom 09.03.2021 - III-4 RBs 44/21 = ZfSch 2021, 531; 21.01.2016 - III-4 RBs 324/15 = NStZ-RR 2016, 121 = NZV 2016, 241; OLG Düsseldorf Beschluss vom 08.01.2016 - IV-3 RBs 132/15 = DAR 2016, 149; BeckOK StPO/Peglau [41. Ed. 1.10.2021] § 267 Rn. 11; KK-StPO/Kuckein/Bartel 8. Aufl. StPO § 267 Rn. 19, Meyer-Goßner/Schmitt StPO 64. Aufl. § 267 Rn. 9), weil es nicht auf das äußere Erscheinungsbild des Textes, sondern allein den Inhalt ankommt. Eine über den Wortlaut des § 267 Abs. 1 Satz 3 StPO hinausgehende, entsprechende Anwendung dieser Bestimmung auf in den Akten befindliche Urkunden verbietet sich schon aus methodischen Gründen. Denn bei § 267 Abs. 1 Satz 3 StPO handelt es sich um eine eng auszulegende und damit nicht analogiefähige Ausnahmevorschrift, die den Grundsatz, dass ein Urteil aus sich heraus verständlich sein muss, durchbricht.

 bb) Es bedarf auch keiner Entscheidung, ob die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, wonach die strenge Differenzierung zwischen Urkunden- und Augenscheinsbeweis für die Frage, ob der Urkundeninhalt wirksam aus dem Inbegriff der Hauptverhandlung (§ 261 StPO) geschöpft wurde, dann eine Grenze findet, wenn der gedankliche Inhalt der Urkunde quasi „durch einen Blick“ auf diese erfasst wird (BGH, Beschluss vom 12.12.2013 - 3 StR 267/13 = NStZ 2014, 606 = StV 2015, 78), auf die Ergänzung der Urteilsgründe durch Bezugnahme auf entsprechende Textteile übertragen werden kann. Denn jedenfalls fehlt es schon an der vom Bundesgerichtshof postulierten Prämisse der Feststellung „auf einem Blick“. Der Text, der im Zusammenhang mit dem Messbild wiedergegeben wird, erschöpft sich nicht lediglich in einem Messwert, sondern enthält zahlreiche Textfelder über mehrere und auch über das Messbild verteilte Zeilen mit unterschiedlichsten Daten. Darauf, ob eine einzelne der dort abgedruckten Daten „auf einen Blick“ erfasst werden könnte, kommt es nicht an. Denn dies würde zur zuverlässigen Gewährleistung eines richtigen Ergebnisses schon deswegen nicht ausreichen, weil es zum Zwecke einer fehlerfreien Zuordnung zum verfahrensgegenständlichen Vorwurf auch eines Rückgriffs auf die weiteren Daten bedürfte und deren Abgleich untereinander geboten wäre, was darauf hinausliefe, dass das Rechtsbeschwerdegericht unzulässiger Weise Beweis erheben und eigene Sachverhaltsfeststellungen treffen müsste. Es ist indes nicht Aufgabe des Rechtsbeschwerdegerichts, das Urteil möglicherweise tragende Umstände selbst herauszufinden und zu bewerten; bei einem solchen Vorgehen handelt es sich nicht mehr um ein Nachvollziehen des Urteils, sondern um einen Akt eigenständiger Beweiswürdigung, der dem Rechtsbeschwerdegericht verwehrt ist (BGH, Urt. v. 02.11.2011 - 2 StR 332/11 = BGHSt 57, 53 = NJW 2012, 244 = GuT 2011, 541 = NZV 2012, 143 = NStZ 2012, 228 = StV 2012, 272 = BGHR StPO § 267 Abs. 1 S. 3 Verweisung 4).

 cc) Darauf, dass der Tatrichter im Rahmen seiner Bezugnahme nicht einmal die Fundstelle in der Akte zitiert (vgl. hierzu BGH, Beschluss vom 14.09.2011 - 5 StR 355/11 = BGHR StPO § 267 Abs. 1 S. 3 Verweisung 3), kommt es nach alledem nicht mehr entscheidend an. Gleiches gilt für den Umstand, dass im angefochtenen Urteil, ohne dies weiter zu hinterfragen, zudem festgestellt wurde, dass das Messgerät „bis zum Jahresende 2020 gültig geeicht“ gewesen sei, obwohl der Verstoß sich am 11.04.2021 ereignete.

 2. Das Verfahren gibt dem Senat zu dem Hinweis Veranlassung, dass die breiten Urteilsgründe zur Funktionsweise des Messgeräts weit über das hinaus gehen, was bei einem standardisierten Messverfahren, das bei Verwendung der Geschwindigkeitsmessanlage TRAFFIPAX Traffistar S 330 gegeben ist (vgl. zuletzt BayObLG, Beschluss vom 21.01.2022 - 202 ObOWi 2/22 bei juris), erforderlich ist. Zwar ist der Tatrichter gehalten, die Einhaltung der Voraussetzungen, unter denen von einem standardisierten Messverfahren auszugehen ist, in der Hauptverhandlung zu überprüfen. Wird dies positiv festgestellt und ergibt die Beweisaufnahme auch sonst keine Hinweise auf etwaige Messfehler, besteht kein Anlass, dies in den Urteilsgründen darzustellen. In einem solchen Fall genügt der Hinweis auf das angewandte Messverfahren und den in Abzug gebrachten Toleranzwert (vgl. BGH, Beschluss vom 19.08.1993 - 4 StR 627/92 = BGHSt 39, 291 = MDR 1993, 1107 = VM 1993, Nr. 107 = NJW 1993, 3081 = ZfSch 1993, 390 = NStZ 1993, 592 = NZV 1993, 485 = DAR 1993, 474 = DRiZ 1994, 58; 30.10.1997 - 4 StR 24/97 = BGHSt 43, 277 = NJW 1998, 321 = NZV 1998, 120 = DAR 1998, 110 = BGHR StPO § 267 Abs. 1 S. 1 Beweisergebnis 11 = VerkMitt 1998, Nr. 40 = VRS 94 [1998], 341). Darüber hinausgehende Erwägungen - wie sie im angefochtenen Urteil angestellt wurden - sind nicht nur überflüssig, sondern laufen einer verfahrensökonomischen, auf Schonung der Justizressourcen auszurichtenden Verfahrenserledigung zuwider und bergen, wie der vorliegende Fall deutlich macht, die Gefahr, dass bei zügig zu erledigenden Massenverfahren, um die es sich bei der Ahndung von Geschwindigkeitsverstößen handelt, der Blick auf das Wesentliche verstellt wird.

 III.

 Aufgrund der aufgezeigten Mängel ist das Urteil auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen mit den Feststellungen sowie in der Kostenentscheidung aufzuheben (§ 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG, § 353 StPO) und die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens, an das Amtsgericht zurückverwiesen (§ 79 Abs. 6 OWiG).

 IV.

 Der Senat entscheidet durch Beschluss gemäß § 79 Abs. 5 Satz 1 OWiG Gemäß § 80a Abs. 1 OWiG entscheidet der Einzelrichter.

BayObLG Beschl. v. 31.1.2022 – 202 ObOWi 106/22, BeckRS 2022, 3269 

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