"Es ist NAHELIEGEND..."

von Carsten Krumm, veröffentlicht am 08.05.2022
Rechtsgebiete: Verkehrsrecht|2542 Aufrufe

Das OLG Hamm hatte sich mit einem amtsgerichtlichen Urteil zu befassen, das irgendwie etwas widersprüchlich schien. Vor allem, was das Wahrnehmen/die Wahrnehmbarkeit der geschwindigkeitsbeschränkenden Beschilderung bzw. das Bekanntsein der örtlichen Verhältnisse auf der befahrenen Strecke anging. Interessant, wie das OLG mit den Ausführungen des AG hierzu umging.

 

  

Die Rechtsbeschwerde erweist sich bereits auf die Sachrüge als begründet, weil die Urteilsgründe widersprüchlich und nicht plausibel sind (zu vgl. dazu Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 64. Auflage, § 337 Rn. 26 und 28). Das Gericht stellt zunächst fest, dass der Betroffene das die Geschwindigkeit begrenzende Verkehrsschild nicht erkannt habe (Bl. 98 d. A. a.E.). Bei der anschließenden Prüfung, ob eine grobe Verletzung der Pflichten eines Kraftfahrzeugführers vorlag (§ 25 Abs. 1 StVG), lassen die Ausführungen des Amtsgerichts indes besorgen, dass es dem Betroffenen eine Wahrnehmung des Verkehrsschildes sehr wohl unterstellt, wenn es darauf hinweist, dass davon ausgegangen werden dürfe, dass Vorschriftszeichen in aller Regel wahrgenommen werden (Bl. 99 d.A.).

 Dies tut es zudem unter Anwendung einer Beweisregel, die es nicht gibt. Denn die von dem Gericht angeführte Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes besagt nicht, dass das Gericht bestreitenden Einlassungen von Betroffenen zur Wahrnehmung von Verkehrsschildern nur dann nachgehen müsse, wenn es für deren Richtigkeit ‚sonstige Anhaltspunkte‘ gäbe, sondern - im Gegenteil - dass die Möglichkeit, dass der beschuldigte Verkehrsteilnehmer das die Beschränkung anordnende Vorschriftszeichen übersehen hat, (nur) dann in Rechnung zu stellen sei, wenn sich hierfür Anhaltspunkte ergeben ‚oder - praktisch wichtiger - wenn der Betr. dies im Verfahren einwendet‘ (BGH, Beschluss vom 11.09.1997 - 4 StR 638/96 = NJW 1997, 3252; so auch OLG Hamm, Beschluss vom 14.10.1997 - 1 Ss OWi 1055/97 = NStZ-RR 1998, 117; BeckOK OWiG/Euler, 32. Ed. 1.10.2021, BKatV § 4 Rn. 6). Schon der entsprechende Einwand des Betroffenen hätte das Gericht daher dazu veranlassen müssen, sich näher mit der Wahmehmbarkeit und tatsächlichen Wahrnehmung des Verkehrsschildes auseinanderzusetzen. Soweit es ausführt, dass die Geschwindigkeitsbegrenzung sich auch wegen des Verkehrsschildes ‚Wildwechsel‘ aufdrängte, ist weder nachvollziehbar dargelegt, in welchem örtlichen Zusammenhang dieses Verkehrsschild mit dem die Beschränkung anordnende Vorschriftszeichen stand, noch ob der Betroffene denn dieses wahrgenommen bzw. wie er sich hierzu geäußert hatte.

 Schließlich begegnet es durchgreifenden Bedenken, dass das Gericht - offenbar tragend - die grobe Fahrlässigkeit des Verstoßes auch darauf gründet, dass dem Betroffenen die Besonderheiten der Örtlichkeit vertraut sein müssten, weil die fragliche Stelle auf dem direkten Weg zwischen Wohnort und Arbeitsstelle liege. Dabei ergibt sich aus den Urteilsgründen selbst, dass das Gericht lediglich mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit (‚naheliegend‘) davon ausgeht, dass der Betroffene diesen Weg auch wirklich nutzt. Die für Feststellungen zum Nachteil eines Betroffenen erforderliche subjektive richterliche Gewissheit (Meyer-Goßner/Schmitt a.a.O., § 261 Rn. 2a) lag demnach nicht vor. Offen bleiben kann somit, ob weitere Ausführungen des Gerichts zu etwaigen Altemativrouten erforderlich gewesen wären, um die Schlussfolgerung des Amtsgerichts plausibel zu machen.

 Es ist nicht auszuschließen, dass das Urteil auf diesen Fehlern beruht, insbesondere das Gericht bei rechtfehlerfreier Beweiswürdigung zu dem Ergebnis gekommen wäre, dass gemäß den Angaben des Betroffenen und der vom Gericht festgestellten Verhältnisse am Kontrollort eine grobe Pflichtverletzung nicht vorgelegen haben könnte.

OLG Hamm Beschl. v. 21.3.2022 – III-3 RBs 45/22, BeckRS 2022, 6038

 

Tatrichter*innen sollten also ruhig bei entsprechendem Verdacht danach fragen, welche Strecke zur Arbeit täglich genommen wird. Die Antwort d. Betroffenen muss dann etwa bei obiger Konstellation ins Urteil! 

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