Strafrecht für Soziale Netzwerke - Justizminister fordern Regeln, die bereits seit über 20 Jahren gelten

von Prof. Dr. Marc Liesching, veröffentlicht am 03.06.2022
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Auf der Frühjahrstagung der 93. Justizministerkonferenz am 1. und 2. Juni 2022 fordern die Minister nach Medienberichten "schärfere Regeln für Betreiber sozialer Netzwerke". Diese Forderung wird auf strafbare Inhalte bezogen, die den Sozialen Netzwerken z.B. durch Beschwerden bekannt sind, aber trotzdem nicht rasch gelöscht würden. Dabei sind soziale Netzwerke seit jeher strafrechtlich verantwortlich für Drittinhalte, welche sie trotz Kenntnis nicht löschen. Die Strafverfolgung ist Sache der Länder.

Beschluss der Justizministerkonferenz

Ausweislich TOP II.10 der Konferenz ("Strafrechtliche Verantwortlichkeit der Betreiber sozialer Netzwerke") wurde folgender Wortlaut beschlossen:

Die Justizministerinnen und Justizminister halten es für geboten, die Verantwortlichkeit der Betreiber sozialer Netzwerke für die Fälle besonders in den Blick zu nehmen, in denen trotz Kenntnis strafbarer Inhalte zumutbare zeitnahe Löschungs- oder Sperrmaßnahmen unterlassen werden. Sie bitten den Bundesminister der Justiz, sich der Thematik anzunehmen und dabei auch strafgesetzgeberische Handlungsmöglichkeiten und -erfordernisse zu prüfen.

Erläutert wird dies nach Medienberichten damit, dass bisher "der Fokus des Strafrechts auf den Verfassern" liege, "die Betreiber der Netzwerke müssten höchstens Bußgelder zahlen". Der Bayerische Justizminister wird wie folgt zitiert: "Das zahlen die alles aus der Portokasse". Es sei nicht in Ordnung, dass die Unternehmen von den Gewinnen profitierten und die Probleme Demokratie und Rechtsstaat überließen.

Strafrechtliche Verantwortlichkeit Sozialer Netzwerke

Die im Kontext strafbarer Hasskriminalität relevanten Straftatbestände sind - neben den Antragsdelikten der Beleidigungstatbestände - im Wesentlichen §§ 86, 86a, 111, 130 StGB. Alle Tatbestände umfassen die Tathandlung des Verbreitens bzw. öffentlichen Zugänglichmachens von Inhalten, die unabhängig von einer Speicherung mittels Informations- oder Kommunikationstechnik übertragen werden (vgl. § 11 Abs. 3 StGB). Selbst wenn solche inkriminierten Inhalte auf Sozialen Netzwerken vom Ausland hochgeladen werden, ist ein Inlandsbezug nach § 5 StGB aufgrund der Wahrnehmbarkeit im Inland regelmäßig gegeben.

Zwar sind soziale Netzwerke - wie alle Host-Provider - zunächst gemäß § 10 TMG von der strafrechtlichen Verantwortlichkeit ausgenommen. Dies gilt aber gerade nicht mehr für die von den Justizministerinnen und -ministern in den Blick genommene Konstellation einer Untätigkeit nach Kenntnis, etwa aufgrund einer eingegangenen Beschwerde. Diese Verantwortlichkeitsregeln gelten seit der E-Commerce-Richtlinie aus dem Jahr 2000 (vgl. Art. 14 ECRL). Strafverfolgungsbehörden können also auch Verfahren gegen soziale Netzwerke eröffnen.

Von Interesse wäre daher - möglicherweise auch als Rückfrage des adressierten Bundesjustizministers an seine LänderkollegInnen - folgende Fragestellung: In wie vielen Fällen haben die Staatsanwaltschaften in den Bundesländern aufgrund der seit jeher geltenden Anwendbarkeit deutschen Strafrechts für Soziale Netzwerke entsprechende Verfahren in den letzten Jahren geführt?

Bußgeld aus der Portokasse?

Auch die in Bezug auf Bußgeldsanktionen bei nicht rechtzeitiger Löschung zitierte Äußerung des Bayerischen Justizministers "Das zahlen die alles aus der Portokasse" bedarf eines prüfenden Abgleichs mit der Realität. Das Netzwerkdurchsetzungsgesetz sieht bereits seit 2018 erhebliche Bußgelddrohungen bis zu 50 Millionen Euro für den Fall vor, dass große soziale Netzwerke strafbare Inhalte nach Beschwerdeeingang nicht fristgerecht löschen (vgl. §§ 3, 4 NetzDG).

Allerdings zahlen soziale Netzwerke Bußgelder nicht aus der Portokasse. Sie zahlen überhaupt keine Bußgelder wegen Nichtlöschung strafbarer Inhalte, weil die zuständige Bußgeldbehörde des Bundesamts für Justiz bis heute in keinem Fall einen systemischen Verstoß gegen die Pflichten zur Löschung strafbarer Inhalte festgestellt und in keinem Fall einen rechtswirksamen Bußgeldbescheid in diesem Bereich erlassen hat.

Strafverfolgung ist Aufgabe des Rechtsstaats

Die Aussage des bayerischen Justizministers, Soziale Netzwerke überließen Probleme im Kontext der Strafverfolgung der Demokratie und dem Rechtsstaat, ist sicher richtig und zustimmungswürdig. Denn alle privaten natürlichen und juristischen Personen überlassen die Angelegenheit der Strafverfolgung dem Rechtsstaat, da nur in diesem Fall überhaupt von einem solchen gesprochen werden kann.

Sofern mit der Aussage des bayerischen Justizministers der Vorhalt impliziert sein sollte, Soziale Netzwerke löschten zu wenig oder zu langsam strafbare Inhalte , erscheint dies nach unserer (Forschungsteam der HTWK Leipzig) im April 2021 veröffentlichten Untersuchung eher nicht belegbar. Vielmehr sind die großen Sozialen Netzwerke dazu übergegangen, die allermeisten Inhalte nicht erst bei Straftatbestandsmäßigkeit, sondern schon wegen Verstoßes gegen ihre i.d.R. wesentlich weiter gefassten Community Standards zu löschen. Zudem wird etwa bei Facebook oder YouTube überwiegend nicht mehr der Eingang einer Beschwerde im Sinne des klassischen Notice-and-Take-Down abgewartet. Vielmehr erfolgen Löschungen seit 2020 zu mehr als 90% gerade im Bereich Hate Speech proaktiv auf der Grundlage von KI-Erkennung, also bevor eine strafrechtliche Verantwortlichkeit des Sozialen Netzwerkes (ab Kenntnis, vgl. § 10 TMG) überhaupt begründet wird.

Was könnte der Bundesjustizminister antworten?

Nach meiner persönlichen Einschätzung könnte der Bundesminister für Justiz auf die Bitte seiner LänderkollegInnen um Prüfung gemäß TOP II.10 des Beschlusses der JMK folgenden Reminder zurücksenden: Deutsches Strafrecht im Bereich Hasskriminalität gilt seit jeher für Soziale Netzwerke; für die Strafverfolgung sind bis heute die Länder zuständig.

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