Zustellungsprobleme: Heilung durch Erhalt des Schriftstücks durch rechtsgeschäftlich bevollmächtigten Verteidiger...selbst wenn später erst Vollmacht erteilt würde

von Carsten Krumm, veröffentlicht am 20.06.2022
Rechtsgebiete: Verkehrsrecht|2958 Aufrufe

Zustellungsrecht ist immer eine etwas sperrige Materie. Hier geht es um eine fehlerhafte Zustellung und die Heilung derselben. Der Verteidiger hatte das zuzustellende Schriftstück erhalten:

 

I. Die Rechtsbeschwerde des Betroffenen gegen das Urteil des Amtsgerichts vom 02.08.2021 wird als unbegründet verworfen.

 II. Der Betroffene hat die Kosten seines Rechtsmittels zu tragen.

 Gründe: 

 I.

 1. Das Amtsgericht hat den von der Verpflichtung zum persönlichen Erscheinen entbundenen Betroffenen, der in der Hauptverhandlung vom 02.08.2021 nicht durch einen Verteidiger vertreten wurde, in dessen Abwesenheit wegen fahrlässiger Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit außerhalb geschlossener Ortschaften um 43 km/h (Tatzeit: 19.11.2020) zur Geldbuße in Höhe von 160 Euro verurteilt und gegen ihn ein Fahrverbot für die Dauer von einem Monat nach Maßgabe des § 25 Abs. 2a Satz 1 StVG verhängt. Das schriftliche Urteil wurde dem Verteidiger am 15.08.2021 zugestellt.

 2. Mit Beschluss vom 20.09.2021 hat das Amtsgericht die am 17.08.2021 vom Betroffenen eingelegte Rechtsbeschwerde als unzulässig verworfen, weil es dafürhielt, dass das Rechtsmittel nicht rechtzeitig begründet worden sei. Gegen diese dem Verteidiger am 21.09.2021 zugestellte Entscheidung wendet sich der Betroffene mit dem Antrag auf Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts, der am 21.09.2021 beim Amtsgericht einging.

 3. Mit seiner gegen das Urteil gerichteten, am 23.09.2021 beim Amtsgericht eingegangenen Rechtsbeschwerde rügt der Betroffene die Verletzung formellen und materiellen Rechts und vertritt die Auffassung, dass einer Verurteilung der Eintritt der Verfolgungsverjährung entgegenstehe.

 4. Die Generalstaatsanwaltschaft hat mit ihrer Zuleitungsschrift vom 27.12.2021 beantragt, auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen das angefochtene Urteil des Amtsgerichts aufzuheben, das Verfahren wegen Verjährung einzustellen und die Kosten des Verfahrens und notwendigen Auslagen des Betroffenen der Staatskasse aufzuerlegen.

 II.

 Der gemäß § 346 Abs. 2 Satz 1 StPO i.V.m. § 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG zulässige Antrag auf Entscheidung durch das Rechtsbeschwerdegericht ist begründet. Das Amtsgericht ist zu Unrecht davon ausgegangen, dass die Rechtsbeschwerde des Betroffenen nicht rechtzeitig begründet worden sei.

 Die am 23.09.2021 eingegangene Rechtsmittelbegründung war nicht verspätet. Das schriftliche Urteil des Amtsgerichts vom 02.08.2021 ist dem Verteidiger am 15.08.2021 zugestellt worden mit der Folge, dass die Frist zur Einlegung der Rechtsbeschwerde gemäß § 79 Abs. 4 OWiG eine Woche danach, d.h. wegen § 43 Abs. 2 StPO i.V.m. § 46 Abs. 1 OWiG am Montag, dem 23.08.2021, ablief. Die Frist zur Begründung der Rechtsbeschwerde begann gemäß § 345 Abs. 1 Satz 1 StPO i.V.m. § 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG nach Ablauf der Frist zur Einlegung des Rechtsmittels und damit am 24.08.2021. Sie endete mit Ablauf des Tages, der durch seine Zahl dem Tag entspricht, an dem die Frist begonnen hatte, also am 24.09.2021. Dies folgt aus § 43 Abs. 1 StPO, der auch dann gilt, wenn sich die Rechtsmittelbegründungsfrist unmittelbar an den Ablauf der Einlegungsfrist anschließt, sodass sie mit dem Beginn des auf den Ablauf der Einlegungsfrist folgenden Tages in Lauf gesetzt wird (BGH, Beschluss vom 30.08.1989 - 3 StR 195/89 = BGHSt 36, 241 = MDR 1989, 1117 = AnwBl 1989, 675 = NStZ 1990, 43 = Rpfleger 1990, 35 = NJW 1990, 460 = VRS 78 [1990], 48 = wistra 1990, 62 = BGHR StPO § 43 Fristberechnung 1 = StV 1990, 193 = NStE Nr. 2 zu § 43 StPO; OLG Bamberg, Beschluss vom 10.05.2007 - 3 Ss OWi 1532/2006 = OLGSt StPO § 345 Nr 12 = VerkMitt 2008, Nr. 6). Da die Rechtfertigungsschrift bereits am 23.09.2021 beim Amtsgericht eingegangen ist, wurde die Frist zur Begründung der Rechtsbeschwerde gewahrt.

 III.

 Demgegenüber deckt die Nachprüfung des angefochtenen Urteils keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Betroffenen auf.

 1. Die Verfahrensrüge, mit der die Rechtsbeschwerde beanstandet, dass das Amtsgericht seiner Entscheidung Umstände der Geschwindigkeitsmessung als „gerichtsbekannt“ zugrunde gelegt hat, obwohl es hierauf lediglich in der Hauptverhandlung, an der weder der Betroffene noch sein Verteidiger teilnahm, hingewiesen hatte, nicht aber vor der Hauptverhandlung, ist bereits unzulässig, weil sie den Begründungsanforderungen des § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO i.V.m. § 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG mangels ausreichenden Tatsachenvortrags nicht entspricht.

 a) Der Rüge liegt folgendes Verfahrensgeschehen zugrunde:

 Das Amtsgericht hat in dem angefochtenen Urteil als gerichtsbekannt zugrunde gelegt, dass die Wechselverkehrszeichenanlagen über den Wechselverkehrszeichen-Anbindungsrechner an die zum Einsatz gebrachte stationäre Geschwindigkeit Messanlage TRAIFFIPAX Traffistar S. 330 angebunden waren. Einen entsprechenden Hinweis auf die Gerichtskundigkeit dieses Umstands sowie der ebenfalls als gerichtskundig bezeichneten, näher beschriebenen Tatörtlichkeit erteilte das Amtsgericht in der Hauptverhandlung.

 b) Zwar ist die Vorgehensweise des Amtsgerichts, Hinweise auf gerichtsbekannte Tatsachen, die der Entscheidung zugrunde gelegt werden sollen, (allein) in einer Abwesenheitsverhandlung nach § 74 Abs. 1 OWiG zu erteilen, verfehlt.

 aa) Eine entsprechende Verpflichtung zum Hinweis der Verwertung gerichtskundiger Tatsachen ist allgemein anerkannt (vgl. nur BGH, Urt. v. 17.05.2018 - 3 StR 508/17 = StraFo 2018, 434 = JR 2018, 579 = BGHR StPO § 244 Abs. 3 S. 2 Offenkundigkeit 5; Beschluss vom 24.09.2015 - 2 StR 126/15 = NStZ 2016, 123 = BGHR StPO § 261 Gerichtskundigkeit 5 = StV 2018, 479; 13.02.2013 - 2 StR 556/12 = NStZ 2013, 357 = BGHR StPO § 261 Gerichtskundigkeit 4 = StV 2013, 548; 20.09.1988 - 5 StR 405/88 = BGHR StPO § 261 Offenkundigkeit 1= NStE Nr. 50 zu § 29 BtMG). Sie dient einerseits dem Grundsatz, dass nur das der Entscheidung zugrunde gelegt werden darf, was aus dem Inbegriff der Hauptverhandlung im Sinne des § 261 StPO geschöpft wurde (vgl. BGH, Urt. v. 17.05.2018 - 3 StR 508/17 = StraFo 2018, 434 = JR 2018, 579 = BGHR StPO § 244 Abs. 3 S. 2 Offenkundigkeit 5). Hiergegen hat das Amtsgericht freilich nicht verstoßen, weil die Hinweise in der Hauptverhandlung zu Protokoll genommen wurden.

 bb) Andererseits soll durch die Verpflichtung auch dem Grundsatz des rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG) Rechnung getragen werden (vgl. nur BGH, Beschluss vom 24.09.2015 - 2 StR 126/15 = NStZ 2016, 123 = BGHR StPO § 261 Gerichtskundigkeit 5 = StV 2018, 479 m.w.N.; 20.09.1988 - 5 StR 405/88 = BGHR StPO § 261 Offenkundigkeit 1= NStE Nr. 50 zu § 29 BtMG). Der Betroffene soll hierdurch in die Lage versetzt werden, zu den entsprechenden Tatsachen, die der Tatrichter der Verurteilung zugrunde legen will, Stellung nehmen zu können. Diese Möglichkeit wird ihm aber im Falle einer Abwesenheitsverhandlung nach § 74 Abs. 1 OWiG, an der weder der Betroffene noch ein Verteidiger anwesend ist, genommen, wenn die entsprechenden Hinweise erst in der Hauptverhandlung erteilt werden (im Ergebnis ebenso: OLG Stuttgart, Beschluss vom 24.08.1998 - 3 Ss 234/98 = ZfSch 1999, 81; OLG Hamm, Beschluss vom 22.06.2017 - 4 RBs 231/17 = ZfSch 2017, 651; OLG Karlsruhe, Beschluss vom 19.01.2021 - 2 Rb 34 Ss 566/20 = DAR 2021, 464).

 cc) Die mit der letztgenannten Stoßrichtung erhobene Verfahrensrüge ist indes unzulässig.

 (1) Die formelle Rüge erfüllt schon deshalb nicht die Mindestanforderungen aus § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO i.V.m. § 79 Abs. 3 OWiG, weil die Rechtsbeschwerde einen hinreichend spezifizierten Vortrag dazu unterlässt, was der Betroffene zu seiner Verteidigung eingewandt hätte, falls ihm vor der Hauptverhandlung die Hinweise erteilt worden wären. Will der Beschwerdeführer eine Verletzung rechtlichen Gehörs durch unterbliebene Hinweise rügen, bedarf es einer Darlegung, was er im Falle der ordnungsgemäßen Anhörung geltend gemacht bzw. wie er seine Rechte wahrgenommen hätte (vgl. nur OLG Hamm und OLG Karlsruhe, jeweils a.a.O.). Dem wird die Rechtsbeschwerde aber nicht gerecht. Es erfolgt lediglich die pauschale Behauptung, der Verteidiger hätte sich bei entsprechendem Hinweis vor der Hauptverhandlung „damit auseinandergesetzt“, indem er „Einwände gegen die gerichtskundigen Tatsachen vorgetragen hätte, insbesondere zur Zuverlässigkeit der Wechselverkehrszeichenanlage“. Nachdem der Betroffene aber nicht einmal in der Rechtsbeschwerde auch nur annähernd einen erheblichen Einwand konkretisieren kann, bleibt gänzlich offen, welche Verteidigungsmöglichkeiten ihm genommen wurden bzw. welcher konkrete Vortrag übergangen wurde.

 (2) Darüber hinaus ist die erhobene Rüge, soweit sie die Anbindung der Wechselverkehrszeichenanlagen an den Wechselverkehrszeichen-Anbindungsrechner betrifft, auch deswegen unzulässig, weil die Rechtsbeschwerde verschweigt, dass sich dies bereits aus dem Eichschein, der Inhalt der Akte ist, ergibt. Dort ist ausgeführt, dass das Geschwindigkeitsüberwachungsgerät aus dem „Piezo-Vorverstärker“, der „SmartCamera IV“ und dem „WVZ-Anbindungsrechner“ besteht. Diese Umstände mussten damit der Verteidigung, die Akteneinsicht vor der Hauptverhandlung genommen hatte, bekannt sein.

 2. Auch die Nachprüfung des angefochtenen Urteils aufgrund der Sachrüge deckt keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Betroffenen auf.

 a) Die Verurteilung wird von den tatsächlichen Feststellungen getragen, die auf einer rechtsfehlerfreien Beweiswürdigung unter Berücksichtigung der höchstrichterlichen Rechtsprechung hinsichtlich der Urteilsanforderungen bei Vorliegen eines standardisierten Messverfahrens (BGH, Beschluss vom 19.08.1993 - 4 StR 627/92 = BGHSt 39, 291 = MDR 1993, 1107 = VM 1993, Nr. 107 = NJW 1993, 3081 = ZfSch 1993, 390 = NStZ 1993, 592 = NZV 1993, 485 = DAR 1993, 474 = DRiZ 1994, 58; 30.10.1997 - 4 StR 24/97 = BGHSt 43, 277 = NJW 1998, 321 = NZV 1998, 120 = DAR 1998, 110 = BGHR StPO § 267 Abs. 1 S. 1 Beweisergebnis 11 = VerkMitt 1998, Nr. 40 = VRS 94 [1998], 341), um das es sich bei der Verwendung der Geschwindigkeitsmessanlage TRAFFIPAX Traffistar S. 330 handelt (vgl. nur BayObLG, Beschluss vom 09.12.2019 - 202 ObOWi 1955/19 = DAR 2020, 145 m.w.N.), beruhen.

 b) Der Rechtsfolgenausspruch ist ebenfalls rechtsfehlerfrei.

 3. Schließlich liegt das von der Rechtsbeschwerde geltend gemachte und von der Generalstaatsanwaltschaft München ebenfalls angenommene Verfahrenshindernis der Verfolgungsverjährung nicht vor.

 a) Die Verjährungsfrist beträgt 3 Monate, solange wegen der Handlung weder ein Bußgeldbescheid ergangen noch die öffentliche Klage erhoben worden ist, danach 6 Monate (§§ 24, 26 Abs. 3 StVG).

 b) Die verfahrensgegenständliche Ordnungswidrigkeit wurde am 19.11.2020 begangen. Spätestens am 20.01.2021, dem Tag, an dem der Verteidiger Einspruch gegen den Bußgeldbescheid vom 05.01.2021 eingelegt hat, wurde die Verjährung gemäß § 33 Abs. 1 Satz 1 Nr. 9 Alt. 2 OWiG unterbrochen.

 aa) Zwar kann nicht davon ausgegangen werden, dass die Zustellung des Bußgeldbescheids, der am 08.01.2021 im Wege der Ersatzzustellung in den Briefkasten am Wohnort der Eltern des Betroffenen eingelegt wurde, wirksam erfolgte. Denn nach den vom Verteidiger vorgebrachten Umständen, die mit entsprechenden Unterlagen untermauert wurden, hatte der Betroffene zum damaligen Zeitpunkt seinen früheren Wohnsitz bei den Eltern aufgegeben und war als Zeitsoldat in Berchtesgaden kaserniert. Eine Ersatzzustellung durch Einlegung in den Briefkasten nach § 51 Abs. 1 Satz 1 OWiG i.V.m. Art. 3 Abs. 2 BayVwZVG, 180 ZPO setzt aber voraus, dass der Zustellungsadressat dort wohnhaft ist.

 bb) Allerdings wurde der Zustellungsmangel gemäß § 51 Abs. 1 Satz 1 OWiG i.V.m. Art. 9 BayVwZVG geheilt, als eine Abschrift des Bußgeldbescheids dem Verteidiger tatsächlich zuging. Nach Art. 9 BayVwZVG gilt die Zustellung eines Dokuments, das unter Verletzung zwingender Zustellungsvorschriften übermittelt wurde, in dem Zeitpunkt als bewirkt, in dem es dem Empfangsberechtigten tatsächlich zugegangen ist. Dies war spätestens dann gegeben, als der Verteidiger eine Abschrift des Bußgeldbescheids erhielt. Nachdem die Rechtsbeschwerde trotz umfangreicher Ausführungen im Übrigen diesen Zeitpunkt nicht explizit benennt, ist davon auszugehen, dass den Verteidiger der Bußgeldbescheid vom 05.01.2021 frühestens am 06.01.2021 und spätestens an dem Tag erreicht hat, als dieser den Einspruch gegen den Bußgeldbescheid einlegte, was am 20.01.2021 der Fall war. Selbst unter Zugrundelegung des zuletzt genannten Datums wurde die 3-monatige Verjährungsfrist gemäß § 33 Abs. 1 Satz 1 Nr. 9 Alt. 2 OWiG rechtzeitig unterbrochen.

 (1) Zwar ist zur Heilung von Zustellungsmängeln nötig, dass ein Zustellungswille der Behörde vorlag (st.Rspr., vgl. nur BGH, Beschluss vom 20.10.2021 - XII ZB 314/21 = SW FamFG § 16 = NSW FamFG § 41 = NSW FamFG § 63 = NSW ZPO § 189; OLG Celle, Beschluss vom 10.03.2021 - 2 Ss (OWi) 348/20 = VRS 140 [2021], 108; OLG Hamm, Beschluss vom 08.08.2017 - 3 RBs 106/17 DAR 2017, 642). Indes ist nicht erforderlich, dass der Zustellungsadressat und der tatsächliche Empfänger des Dokuments identisch sind. Es entspricht gefestigter höchstrichterlicher Rechtsprechung zu der mit Art. 9 BayVwZVG vergleichbaren Vorschrift des § 189 ZPO (BGH, Urt. v. 12.03.2015 - III ZR 207/14 = BGHZ 204, 268 = NSW ZPO § 167 = NSW ZPO § 170 = NSW ZPO § 189 = EBE/BGH 2015, 143 = MDR 2015, 535 = DGVZ 2015, 124 = NJW 2015, 1760 = FamRZ 2015, 1021 = WM 2015, 1388 = RdL 2015, 195 = BtPrax 2015, 158 = Rpfleger 2015, 562 = VersR 2015, 1447) sowie zu der mit Art. 9 BayVwZVG inhaltlich identischen Bestimmung des § 8 VwZG (BFH, Urt. v. 06.06.2000 - VII R 55/99 = BFHE 192, 200 = BStBl II 2000, 560 = DStRE 2000, 1109 = BFH/NV 2000, 1382 = HFR 2000, 872 = NVwZ-RR 2001, 77 = StRK VwZG § 15 R.10 = ZKF 2001, 180; BVerwG, Urt. v. 18.04.1997 - 8 C 43/95 = BVerwGE 104, 301 = NVwZ 1999, 178; ebenso: Engelhardt/App/Schlatmann VwZG 12. Aufl. 2021 § 8 VwZG Rn. 3), dass die Heilung von Zustellungsmängeln nach diesen Bestimmungen auch dann eintritt, wenn der Bescheid nicht dem in ihm genannten Adressaten, sondern einer Person zugeht, an die die Zustellung hätte gerichtet werden können. Für die Richtigkeit dieses Ergebnisses sprechen bereits Wortlaut und Systematik des Art. 9 BayVwZVG. Nach dieser Vorschrift kommt es darauf an, dass das Dokument dem „Empfangsberechtigten“ zugegangen ist. Dass damit nicht ausschließlich derjenige, an den die Behörde zustellen wollte, also der Zustellungsadressat, gemeint ist, lässt sich zwanglos daraus ableiten, dass das Gesetz an anderer Stelle den Begriff des „Zustellungsadressaten“ verwendet (Art. 5 Abs. 6, 15 Abs. 2 Nr. 2 BayVwZVG), während in Art. 9 BayVwZVG ausdrücklich vom „Empfangsberechtigten“ die Rede ist. Hätte nach dem Willen des Gesetzgebers eine Heilung von Zustellungsmängeln nur dann eintreten sollen, wenn das Dokument dem Zustellungsadressaten zugeht, wäre die Verwendung der Begrifflichkeit des „Empfangsberechtigten“ nicht nachvollziehbar. Zudem spricht für dieses Ergebnis auch die ratio der Heilungsvorschriften. Gelangt das zuzustellende Schriftstück zum richtigen Empfänger hat die Zustellung ihren Zweck erreicht; die Versagung der Zustellung durch Heilung in diesen Fällen wäre eine unnötige Förmelei (BGH a.a.O).

 (2) Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze ist eine Heilung dadurch eingetreten, dass der Verteidiger eine Abschrift des Bußgeldbescheids nach § 51 Abs. 3 Satz 5 OWiG erhalten hat. Entgegen der Auffassung der Generalstaatsanwaltschaft war der Verteidiger zur Empfangnahme von Zustellungen befugt, sodass an diesen auch die Zustellung hätte gerichtet werden können.

 (a) Der Verteidiger war bereits vor Erlass des Bußgeldbescheids vom 05.01.2021 sowohl rechtsgeschäftlich als auch gesetzlich gemäß § 51 Abs. 3 Satz 1 OWiG zum Empfang von Zustellungen ermächtigt. Er hatte mit am 30.12.2020 eingegangenem Schriftsatz vom 28.12.2020, also sogar vor Erlass des Bußgeldbescheids, eine schriftliche Vollmacht vom 09.12.2020 zu den Akten gereicht (vgl. Bl. 16/17 d.A.), die sich gemäß deren Ziffer 6. auf die Empfangnahme von Zustellungen erstreckte. Soweit die Generalstaatsanwaltschaft in ihrer Zuleitungsschrift ausführt, die Vollmacht datiere erst nach der erfolgten Ersatzzustellung, beruht dies auf einem offensichtlichen Versehen.

 (b) Nach alledem kommt es nicht mehr darauf an, dass es - entgegen der Ansicht der Generalstaatsanwaltschaft - nach höchstrichterlicher Rechtsprechung sogar genügen würde, wenn der Verteidiger die rechtsgeschäftliche oder gesetzliche Ermächtigung zur Empfangnahme erst nach Vornahme der fehlerhaften Zustellung erhalten hätte, sofern er das Schriftstück im Zeitpunkt der Bevollmächtigung noch in Besitz hat, wobei die Heilung in einem solchen Fall in dem Zeitpunkt eintritt, zu dem die rechtsgeschäftliche Bevollmächtigung erteilt oder die gesetzliche Zustellungsvollmacht fingiert wird (vgl. BVerwG a.a.O.; BGH, Urt. v. 22.11.1988 - VI ZR 226/87 = WM 1989, 238 = VersR 1989, 168 = WuB VII A § 121 a ZPO 1.89 = MDR 1989, 345 = NJW 1989, 1154 = Rpfleger 1989, 205 = BGHR ZPO vor § 12 Zuständigkeit, internationale 3 = BGHR ZPO § 23 Vermögen 2 = BGHR ZPO § 187 S. 1 Zustellungsmängel 2 = BGHR ZPO § 187 S. 1 Zustellungsmängel 3 = BGHR ZPO § 212a Empfangsbereitschaft 1 = LM Nr. 5 zu § 23 ZPO = BGHWarn 1989, Nr. 322).

 c) Weitere Unterbrechungshandlungen hinsichtlich der ab dem Zeitpunkt der Heilung des Zustellungsmangels maßgeblichen 6-monatigen Verjährungsfrist erfolgten mit Eingang der Akten beim Amtsgericht gemäß § 33 Abs. 1 Satz 1 Nr. 10 OWiG i.V.m. § 69 Abs. 3 Satz 1 OWiG am 13.03.2021 und mit der jeweiligen Anberaumung der Hauptverhandlung aufgrund der Verfügungen vom 22.03.2021 und 01.07.2021 gemäß § 33 Abs. 1 Satz 1 Nr. 11 OWiG.

 IV.

 Die Kostenentscheidung beruht auf § 473 Abs. 1 Satz 1 StPO i.V.m. § 46 Abs. 1 OWiG.

 Gemäß § 80a Abs. 1 OWiG entscheidet der Einzelrichter.

BayObLG Beschl. v. 21.1.2022 – 202 ObOWi 2/22, BeckRS 2022, 3278

 

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