Es musste ja kommen - das Landgericht Berlin und der Angriff auf den BGH

von Dr. Michael Selk, veröffentlicht am 07.07.2022

Mit Urteil vom 1.7.2022 (66 S 200/21) (BeckRS 2022, 15450) hält das Landgericht Berlin (jedenfalls die dortige ZK 66) an der Rechtsauffassung fest, dass die Heilungsvorschrift des § 569 III Nr.2 S.1 BGB auch auf die fristgemäße Kündigung gem. § 573 I BGB angewendet werden kann - mit der Folge, dass auch die Wirkung der fristgemäßen, nicht nur der fristlosen Kündigung bei Zahlung binnen zweier Monate nach Rechtshängigkeit der Räumungsklage entfallen würde. 

Das Bemerkenswerte an der Entscheidung ist nicht unbedingt der Umstand, dass die Kammer von der dagegenstehenden Linie des VIII. Zivilsenats des BGH (mehrfach entschieden, etwa NZM 2018, 941) abweicht (die Kammer wurde sogar vom BGH früher mit dieser Rechtsauffassung aufgehoben), sondern wie dies geschieht. Das Landgericht wehrt sich vehement gegen den Vorwurf des BGH, man würde mit dieser Auffassung gegen eindeutige gesetzliche Regelungen verstoßen - und startet einen verbalen Gegenangriff auf den Senat in einer bislang jedenfalls im Mietrecht unter Gerichten noch nie da gewesenen Weise. Dem BGH wird vorgeworfen, man verkenne dort die "Wirklichkeitswahrnehmung", die entgegenstehende Argumentation des BGH  sei "unverständlich", vieles bliebe "unerklärt", Erwägungen seien "verfehlt" usw usw. Man muss es einfach lesen, um es fassen zu können.

Durchaus süffisant verweist die Kammer eingangs ihrer Begründung auf die Bolzplatzentscheidungen des Senats gerade als Beispiel dafür, was eine angeblich richtige Auslegung leisten könne - denn gerade dort hat der BGH mit dem neu geschaffenen Kriterium der "Ausstrahlungswirkung" in den eindeutigen Wortlaut des § 536 BGB den § 906 BGB "implantiert". "Wie weit ein Gericht dabei in der Auslegung gehen kann..." und wie "überraschend" dies sein könne, formuliert die Kammer (Rn 13) nicht zu Unrecht - und fordert nachvollziehbar in der Folge vom BGH eine Anwendung der juristischen Auslegungsmethoden, die den Regeln der Logik folgt, sich ausführlich mit den Argumenten des BGH auseinandersetzend. 

Das Urteil ist die Folge einer jahrelangen, teilweise als "oberlehrerhaft" beschriebenen Diktion des Senats gegenüber zahlreichen Landgerichten, die vom Wohnraummietsenat geradezu "abgestraft" (Börstinghaus, NZM 2019, 226) worden sind. Irgendwann platzt dann auch den Tatgerichten der Kragen. Das ist einerseits verständlich, andererseits für das Ansehen der Justiz alles andere als förderlich. 

Die Kammer hat die Revision zugelassen. Es ist davon auszugehen, dass bei eingelegter Revision das Urteil vom BGH wieder aufgehoben und an eine andere Kammer des LG zurückverwiesen wird - wenig überraschend. Interessanter dürfte es sein, sich anzusehen, ob es dem BGH gelingt, mit der noch immer gebotenen Zurückhaltung im Stil auf dieses Urteil zu antworten. 

(Mehr dazu vom Verf. in einer Herausgebernotiz in der NZM, vorauss. übernächstes Heft)

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6 Kommentare

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sehr guter Beitrag Herr Kollege Selk ! Ich erachte den verbalen Gegenangriff des LG Berlin auf den BGH "in einer bislang noch nie da gewesenen Weise" hier nicht für unangemessen.

Erinnert in der Sache ein wenig wie das Potsdamer-Windmühlen-Urteil, indem sich das Kammergericht mit falschen Argumenten  zu Recht gegen die Einflußnahme Friedrich II. auf die Rechtsprechung erwehrte.

Die Heilung des Abs. 3 von § 569 steht ausdrücklich unter der Überschrift: "Ergänzend zu § 543 II 1 Nr. 3 gilt:" In der Sache erscheint da wenig Spielraum Raum für eine weitergehende Auslegung. Der Ball liegt bei der Politik, die eine Ausstrahlung auf ordentliche Kündigungen bislang nicht realisieren möchte. Auch das ein Argument, dass die Auslegung des LG politisch nicht gewollt ist.

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Dagegen streitet dann wieder das vom Landgericht genannte Argument der Abschnittsüberschrift. Aber wie schon an anderer Stelle gesagt: es ist da alles vertretbar, m.E.  Problematisch ist eher der Umgang der Gerichte miteinander.

Der Konflikt schwelt ja schon lange. Einzelne Kammern des LG Berlin neigen - möglicherweise in Ansehung des besonders angespannten Berliner Wohnungsmarkts - zu einer extrem mieterfreundlichen Auslegung des Rechts. Die §§ 535 ff. BGB sind aber Bundesrecht und beanspruchen bundesweit einheitliche Geltung, ohne Ansehung der örtlichen Verhältnisse. Das hat der BGH zutreffend im Blick. Vielleicht wäre das Präsidium des LG Berlin gut beraten, zum Jahreswechsel den GVP zu ändern und die betroffenen Richterinnen und Richter durch eine Übertragung anderer Zuständigkeiten aus der Schusslinie zu nehmen.

Das scheint mit nicht umbedingt angemessen. Unvertretbar sind die Auffassungen sicherlich nicht. Mit diese Argumentation könnte man ja auch fragen, warum nicht das Präsidum des BGH die Mitglieder des VIII. Senats aus der Schusslinie nimmt.

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"extrem mieterfreundlich" ist persönliche Ansichtssache. Für Vermieter ist oft alles "mieterfreundlich", was deren wirtschaftlichen Interessen zuwiderläuft.

Die "Mieterfreundlichkeit" des BGH-Wohnraummietsenats lässt übrigens seit ca. den 2010er Jahren offensichtlich nach (z.B. VIII ZR 138/11, 271/17 bzw. 67/18), das obwohl der Wohnraummieter unter einem besonderen rechtlichen Schutz stehen sollte nach der Verfassung und Mietrecht. In der logischen Konsequenz dieser neueren Rechtsprechung müssen Wohnraummieter nun selbst Sachverständige und gleichzeitig Hellseher sein, damit sie nicht zu Unrecht die Miete mindern bzw. in der Minderungshöhe von der zukünftigen Schätzung (!) des Tatgerichts erheblich abweichen.

Wieviele von diesen BGH-Richtern sind selbst Mieter? Vermutlich keiner.

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