Die Kriminalisierung von Cannabis – eine „loose cannon“ im Strafjustizsystem

von Prof. Dr. Henning Ernst Müller, veröffentlicht am 30.08.2022
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Aufsehen erregt hat heute eine Entscheidung des AG Bad Berleburg. Eine 38jährige Mutter von vier Kindern wurde wegen Besitzes von insgesamt 47 g Cannabis-Produkten zu einer Freiheitsstrafe von vier Monaten verurteilt, die nicht zur Bewährung ausgesetzt wurden.

Zitate aus der Berichterstattung der Westfalenpost: Erndtebrückerin muss wegen Cannabis-Besitz in Haft

„Die 38jährige hatte online CBD-Blüten gekauft und dachte, dass diese legal wären.
(…)
Auch in Deutschland befindet sich CBD auf dem Markt – in Form von Ölen, Tropfen und auch Blüten, die zum Rauchen geeignet sind. CBD-Produkte dürfen in Deutschland einen maximalen THC-Anteil von 0,2 Prozent aufweisen.

Wird dieser Wert überschritten, kommt das Betäubungsmittelgesetz ins Spiel. So auch bei einer 38jährigen Erndtebrückerin, die nun wegen unerlaubten Besitzes von Betäubungsmitteln für vier Monate in Haft muss.

(…)

Eine professionelle Wirkstoffbestimmung hatte ergeben, dass der Großteil der Blüten einen THC-Gehalt von 0,23 Prozent aufwiesen [also 0,03(!) Prozent zu viel, HEM].  Weitere 14 Gramm, die nicht aus dem Online-Shop stammten, beinhalteten 5,3 Prozent THC. Damit handelte es sich lt Richter [T.H., Name von mir gekürzt, HEM] bei allen gefundenen Proben um Betäubungsmittel.

(…) Ausschlaggebend für die Inhaftierung der Beschuldigten ist ihre einschlägige Vergangenheit. Bereits im Oktober 2020 hatte das AG Bad Berleburg die Erndtebrückerin wegen Besitzes von Marihuana und Amphetaminen zu einer sechsmonatigen Freiheitsstrafe auf Bewährung verurteilt.

(…)

Drei ihrer vier Kinder nahm das Jugendamt infolgedessen in Obhut. Neben dieser erheblichen Vorstrafe ist es das Verhalten der 38jährigen, welches eine Geldstrafe  oder eine zweite Bewährungsstrafe ausschließt – das sind sich Richter [H.] und Oberamtsanwältin [J.H.] einig. „Einsichtigkeit vermisse ich hier gänzlich. Die Angeklagte ist nicht gewillt, konsequent an ihrer Abhängigkeit zu arbeiten“ schlussfolgert Anklägerin H. daraus, dass die Erndtebrückerin nur zwei ihrer damals  zehn verordneten Termine bei der Suchtberatung wahrgenommen hatte.

(…)

„Möglicherweise braucht sie einen höheren äußeren Druck, um sich ihre Sucht einzugestehen“ begründet Richter H. das Urteil.

(...)

Allerdings habe ich mit dem Zeitungsbericht ein paar Probleme: Dass das Jugendamt bereits tätig geworden sein soll, deutet darauf hin, dass die Freiheitsstrafe schon angetreten worden ist oder (sogar) ein Haftbefehl erlassen wurde. Das erschiene mir – trotz aller Skepsis gegen Gericht und Amtsanwaltschaft – doch etwas überzogen. Kann es ein, dass eine solche krasse Entscheidung bereits rechtskräftig geworden ist? Offenbar wurde die Angeklagte nicht verteidigt, hat sich also ohne rechtlichen Beistand in diese Situation begeben, in der Gericht und Amtsanwaltschaft ihre Macht ausspielen konnten.

Da wegen der Vorstrafe keine erneute Aussetzung zur Bewährung erfolgen könne, soll also die Angeklagte die Strafe nach Auffassung des AG nun absitzen. Dass dies passiert, im Jahr 2022, ein knappes Jahr nach der Ankündigung der derzeitigen Regierungskoalition, man arbeite an der Entkriminalisierung des Besitzes und Konsums von Cannabis, zeigt für mich, dass diese Entkriminalisierung nicht mehr auf die lange Bank geschoben werden darf. Zum aktuellen Stand der Debatte um die Entkriminalisierung sei auf den Beitrag des Kollegen Patzak hingewiesen.

Nach den zitierten Äußerungen des Richters und der Amtsanwältin wolle man die uneinsichtige Angeklagte mit der Freiheitsstrafe zur Einsicht in ihr Suchtproblem bringen, sie also „erziehen“. Ich hätte geglaubt, dass die Vorstellung, man könne einen erwachsenen Menschen durch den Vollzug der Freiheitsstrafe zur Einsicht bringen, sein nicht fremdschädigendes (!) Verhalten aufzugeben, sei inzwischen in der Mottenkiste verschwunden. Gerade wenn man tatsächlich davon ausgeht, es handele sich um ein Suchtproblem, wäre eine solche Vorstellung des Gerichts geradezu erschreckend irrational und lebensfremd. Es ist ja gerade ein Zeichen für Abhängigkeit, dass man nicht „gewillt“ ist, seine Sucht aufzugeben. Das Ganze belegt ein Denken aus den 1950er Jahren. Doch dieses Denken steht (noch) im Einklang mit dem geltenden Recht.

Wenn man berücksichtigt, dass die meisten vorsätzlichen Körperverletzungen, selbst wenn sie zur Anklage gebracht werden, mit einer Geldstrafe bestraft werden, wird einem die Unverhältnismäßigkeit einer solchen Verurteilung erst richtig bewusst.

Man wird diese Entscheidung, die hoffentlich nicht rechtskräftig ist bzw. wird, als Beleg dafür ansehen können, wie eine irrationale, längst auch aus demokratischen Gründen überholte Rechtslage wie eine „loose cannon“ wirkt, weil sie Gerichten erlaubt, solche Entscheidungen zu treffen.

Ginge es hier nicht auch um potenziell traumatisierende Ereignisse für die betroffenen Kinder, könnte man die Entscheidung sogar begrüßen, denn sie macht einmal mehr deutlich, wie wichtig eine Entkriminalisierung von Cannabis ist. Die „loose cannon“ muss befestigt werden, bevor sie noch mehr unbeabsichtigten Schaden anrichtet bzw. Staatsanwaltschaften und Gerichte die Möglichkeit dazu gibt.

PS: Mir ist bewusst, dass mein Beitrag auf einem Zeitungsbericht beruht und dies nicht unbedingt die beste und objektivste  Quelle für juristische Einzelheiten ist. Andererseits kann für die Diskussion, die unabhängig von meinem Beitrag schon längst online im Gange ist, nicht auf objektive Informationen oder gar das Aktenstudium gewartet werden. Es geht mir auch nicht maßgeblich um diese eine Entscheidung, sondern um die nach wie vor geltende Kriminalisierung, die solche Entscheidungen ermöglicht.

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2 Kommentare

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Bestimmte Faelle der Justiz entnehme ich nur auf deren Seiten, wobei ich bei manchen Entscheidungen Kopfschuetteln bekomme. Eine 4 Monatshaft fuer einen fragwuerdigen Besitz uebersteigt meinen Vorstellungen. 

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Das Tätigwerden des Jugendamtes kann sich schon aus Gründen möglicher Kindeswohlgefährdung erklären, die nicht ganz von der Hand zu weisen ist, wenn die erziehungsberechtigte Mutter drogenabhängig sein sollte. Bei Alkoholabhängigkeit ist es auch nicht anders. Mit dem Antritt der Freiheitsstrafe muss es also nicht unbedingt etwas zu tun haben.

Ich denke, der Mutter und ihrer möglichen Drogensucht sollte unbedingt professionell geholfen werden. Schon alleine mit Rücksicht auf die Kinder. Es wird ihr aber keine Hilfe sein, wenn man sie unter Hinweis auf die geplante Legalisierung des Gesetzgebers darin noch bestärkt. Eine denkbare Hilfe könnte die Zurückstellung der Freiheitsstrafe nach § 35 BTMG sein. Vielleicht haben Gericht und Staatsanwaltschaft sich von dem Gedanken des § 35 leiten lassen.

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