Auch der 4. Strafsenat des BGH erklärt EncroChat-Daten für verwertbar

von Dr. Jörn Patzak, veröffentlicht am 09.09.2022

Nach dem 5. Strafsenat des BGH (s. meinen Blog-Beitrag vom 26.3.2022) erklärt nun auch der 4. Strafsenat EncroChat-Daten im deutschen Strafverfahren für verwertbar. In diesem Fall geht es um einen Angeklagten, der u.a. wegen Handeltreibens mit 37 kg Marihuana zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren und zehn Monaten verurteilt wurde. Zur Verwertbarkeit der EncroChat-Daten führt der Senat aus (BGH Beschl. v. 5.7.2022 – 4 StR 61/22, BeckRS 2022, 22161):

Die Zulässigkeit der Verfahrensrüge kann dahinstehen. Sie ist jedenfalls unbegründet.

a) Nach dem Revisionsvorbringen und dem Urteilsinhalt, den das Revisionsgericht ergänzend berücksichtigen kann (vgl. BGH, Beschluss vom 19. Dezember 2007 - 2 StR 510/07), hat das Landgericht seine Feststellungen zu dem Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge (hier: Ankauf von Marihuana in mehreren Lieferungen) maßgeblich auf verlesene elektronische Notizen gestützt, die der Lieferant des Angeklagten, der Zeuge L., im Tatzeitraum von Januar bis März 2020 in sein Krypto-Mobiltelefon des Anbieters E. Chat eingegeben hatte. Dieses verfügte - wie herkömmliche Mobiltelefone - über eine Notizbuchfunktion. Die Notizen verhielten sich zu der jeweils gehandelten Menge, der Sorte und dem Preis des Marihuanas.

Die elektronischen Daten waren durch eine richterlich genehmigte, zeitlich befristete Ermittlungsmaßnahme französischer Strafverfolgungsbehörden gewonnen worden. Dabei waren die vom anonymen Anbieter E. Chat europaweit vertriebenen Krypto-Mobiltelefone - darunter dasjenige des Zeugen L. - ab dem 1. April 2020 durch einen verdeckten Fernzugriff ausgelesen worden, der sowohl die auf den Mobiltelefonen bereits vorhandenen Bestandsdaten als auch die Live-Kommunikation erfasste. Die Daten der Telefone, die (auch) in Deutschland benutzt wurden, übermittelten die französischen Behörden der Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt am Main aufgrund einer europäischen Ermittlungsanordnung (vgl. näher BGH, Beschluss vom 2. März 2022 - 5 StR 457/21). In der Hauptverhandlung hat die Verteidigung der Verwertung der Daten widersprochen.

b) Das von der Revision geltend gemachte Verwertungsverbot besteht unter keinem der geltend gemachten rechtlichen Gesichtspunkte. Der Senat schließt sich der Rechtsprechung an, die grundsätzlich von der Verwertbarkeit der aus Frankreich übermittelten Daten der E. Chat-Mobiltelefone ausgeht (BGH, Beschluss vom 2. März 2022 - 5 StR 457/21; vgl. auch Beschluss vom 8. Februar 2022 - 6 StR 639/21; Beschluss vom 6. April 2022 - 6 StR 55/22; Beschluss vom 24. Mai 2022 - 5 StR 133/22). Hinzu kommt im vorliegenden Fall, dass mögliche Rechtsverletzungen bei der Beweiserhebung den Rechtskreis des Angeklagten nicht wesentlich berühren und somit von vornherein nicht erfolgreich gerügt werden können.

aa) Im Ausgangspunkt gilt nach ständiger Rechtsprechung, dass die Verwertbarkeit von Beweisen, die im Wege der Rechtshilfe erlangt worden sind, nach deutschem Recht als dem Recht des ersuchenden Staates zu beurteilen ist (BGH, Beschluss vom 2. März 2022 - 5 StR 457/21; Beschluss vom 21. November 2012 - 1 StR 310/12, BGHSt 58, 32). Verfassungsmäßige Rechtsgrundlage der Verwertung der Notizen aus dem Krypto-Mobiltelefon ist dabei § 261 StPO (vgl. BGH, Beschluss vom 2. März 2022 - 5 StR 457/21).

bb) Ein Beweisverwertungsverbot ergibt sich nicht aus einer möglichen Verletzung des § 100b StPO.

(1) Entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers setzt die Beweisverwertung bereits nicht voraus, dass die Maßnahme der französischen Behörden zur Gewinnung der Beweismittel nach deutschem Strafprozessrecht - in Betracht käme insoweit allein § 100b StPO (Online-Durchsuchung) - rechtmäßig hätte angeordnet werden können. Denn die bloße Nichteinhaltung deutschen Rechts bei einer ausländischen Ermittlungsmaßnahme kann nicht per se ein unselbständiges Beweisverwertungsverbot begründen. Die Einhaltung rechtsstaatlicher Mindeststandards wird in solchen Fällen durch Prüfung der Vereinbarkeit der Maßnahme mit dem nationalen und europäischen ordre public und eine strikte Verhältnismäßigkeitsprüfung bei der Beweisverwertung unter Annahme besonderer Verwendungsvorbehalte gewährleistet (BGH, Beschluss vom 2. März 2022 - 5 StR 457/21).

(2) In der vorliegenden Konstellation kann der Beschwerdeführer allerdings ohnehin mit der Rüge einer Verletzung des § 100b StPO nicht durchdringen.

Die Verletzung einer Verfahrensnorm, die nicht dem Schutz des Beschuldigten dient, führt ihm gegenüber nicht zu einem Beweisverwertungsverbot und kann daher nicht erfolgreich mit der Revision gerügt werden, da sein Rechtskreis nicht betroffen ist (vgl. BGH, Beschluss vom 21. Januar 1958 - GSSt 4/57, BGHSt 11, 213; zuletzt BGH, Beschluss vom 24. September 2020 - 4 StR 144/20; Beschluss vom 12. Dezember 2019 - 5 StR 464/19; Beschluss vom 9. August 2016 - 4 StR 195/16).

Die Vorschrift des § 100b StPO ist in ihrer heutigen Form durch das Gesetz zur effektiveren und praxistauglicheren Ausgestaltung des Strafverfahrens vom 17. August 2017 (BGBl. I, S. 3202) in das Strafgesetzbuch eingefügt worden. Die hohen materiellen Anforderungen, die § 100b Abs. 1 und Abs. 3 StPO an die Rechtfertigung einer Online-Durchsuchung stellen, sowie die verfahrensrechtlichen Sicherungen sollen dem Grundrechtsschutz des Nutzers des betroffenen informationstechnischen Systems dienen (vgl. BT-Drucks. 18/12785, S. 54). Denn für diesen stellt die Online-Durchsuchung einen Eingriff in den Schutzbereich seines Rechts auf Integrität und Vertraulichkeit informationstechnischer Systeme als eigenständiger Ausprägung des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung nach Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG dar. Die Intensität eines derartigen Eingriffs ist für den betroffenen Nutzer hoch, da auf informationstechnischen Systemen potentiell umfangreiche Datenbestände vorzufinden sind, die seine persönliche Lebensgestaltung detailliert abbilden und deren Ausforschung in ihrem Gewicht über einzelne Datenerhebungen weit hinausgeht (vgl. BT-Drucks. 18/12785, S. 54).

Vorliegend ist der Beschwerdeführer nicht vom Schutzbereich des Rechts auf Integrität und Vertraulichkeit informationstechnischer Systeme gemäß Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG umfasst. Denn er war nicht Nutzer des von der Maßnahme betroffenen Krypto-Mobiltelefons; dies war allein der Zeuge L., der die elektronischen Notizen in das Telefon eingegeben hatte.

cc) Ein Beweisverwertungsverbot ergibt sich weiter nicht aus einer möglichen Verletzung der Unterrichtungspflicht des Art. 31 RL EEA durch französische Behörden. Denn soweit der Unterrichtungspflicht überhaupt eine individualschützende Wirkung zukommt, bezieht sich diese allein auf die - hier nicht in Rede stehende - Beweisverwendung im Ausland (vgl. näher BGH, Beschluss vom 2. März 2022 - 5 StR 457/21). In den Schutzbereich fällt weiter nur die Zielperson der Überwachung, denn nur über diese hat nach Art. 31 Abs. 1 RL EEA der überwachende Mitgliedstaat zu unterrichten. Eine etwaige Verletzung der Unterrichtungspflicht kann der Beschwerdeführer somit bereits deshalb nicht erfolgreich rügen, weil nicht er, sondern der Zeuge L. als Nutzer des Krypto-Mobiltelefons die Zielperson der Überwachung war.

dd) Für durch Rechtshilfe erlangte Informationen, die nicht auf einer Anordnung der Ermittlungsmaßnahme durch deutsche Behörden, sondern nur auf der Übermittlung von Beweisergebnissen beruhen, die ein anderer Mitgliedstaat auf eigener Rechtsgrundlage erhoben hat, fehlt es an einer ausdrücklichen Verwendungsbeschränkung jenseits des im Rechtshilfeverkehr geltenden ordrepublic-Vorbehalts, insbesondere ist § 100e Abs. 6 StPO nicht anwendbar. Ob zur Wahrung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes vorliegend die Wertungen des § 100e Abs. 6 StPO als Verwendungsschranke mit dem höchsten Schutzniveau heranzuziehen sind (vgl. BGH, Beschluss vom 2. März 2022 - 5 StR 457/21 Rn. 65) oder ob - mit Blick darauf, dass der Angeklagte nicht selbst von der Maßnahme betroffen war - die Wertungen des § 479 Abs. 2 Satz 1 StPO i.V.m. § 161 Abs. 3 StPO maßgeblich sind (vgl. OLG Frankfurt NJW 2022, 710, 711; Gebhard/Michalke, Beschluss vom 22. November 2021 - 1 HEs 427/21, NJW 2022, 655, 658 f.), kann dahinstehen. Denn auch der höhere Schutzstandard ist erfüllt.

Gemäß § 100e Abs. 6 Nr. 1 StPO dürfen Daten aus einer Online-Durchsuchung in anderen Strafverfahren ohne Einwilligung der insoweit überwachten Personen jedenfalls zur Aufklärung einer Straftat, auf Grund derer Maßnahmen nach § 100b StPO angeordnet werden könnten, verwendet werden. Bei der erforderlichen Prüfung, ob die Straftat auch im Einzelfall besonders schwer wiegt und die Erforschung des Sachverhalts auf andere Weise erheblich erschwert oder aussichtslos wäre (vgl. § 100b Abs. 1 Nr. 2 und 3 StPO), ist auf den Erkenntnisstand im Zeitpunkt der Verwertung der Beweisergebnisse abzustellen (vgl. näher BGH, Beschluss vom 2. März 2022 - 5 StR 457/21 Rn. 69 f.).

Nach diesem Maßstab liegen die Voraussetzungen für eine Beweisverwertung der elektronischen Notizen aus dem Krypto-Mobiltelefon vor. Verfahrensgegenstand ist - soweit es um deren Verwertung geht - das Verbrechen des Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge gemäß § 29a Abs. 1 Nr. 2 BtMG und damit eine Katalogtat nach § 100b Abs. 2 Nr. 5 b) StPO. Die Tat wiegt auch im Einzelfall schwer. Der Angeklagte erwarb insgesamt 37 kg Marihuana, von denen 34 kg mit einem Wirkstoffgehalt von mindestens 10% in den Handel gelangten. Ohne die Beweismittel der elektronischen Notizen war eine Sachaufklärung ausgeschlossen.

ee) Soweit der Beschwerdeführer meint, „die deutschen Behörden“ hätten durch planmäßiges Vorgehen an der Datengewinnung im Ausland mitgewirkt, um die Vorschriften der Strafprozessordnung zu umgehen, kann offenbleiben, ob dies zu einer anderen Bewertung führen würde (vgl. BGH, Beschluss vom 2. März 2022 - 5 StR 457/21 Rn. 75). Der vorgetragene Sachverhalt stützt die Behauptung des Beschwerdeführers nicht.

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