Keine Rohmessdaten - kein Problem!

von Carsten Krumm, veröffentlicht am 10.10.2022
Rechtsgebiete: Verkehrsrecht1|1523 Aufrufe

Die Rechtsprechung hat sich insgesamt damit abgefunden, dass Messungen stattfinden, deren Rohmessdaten gelöscht werden, obwohl sie unproblematisch hätten gespeichert werden können. Mich überzeugt das persönlich nicht. Aber wie gesagt: Die Rechtsprechung ist sich da bislang einig! So auch gerade das AG St. Ingbert:

 

Aus dem Recht auf ein faires Verfahren, welches insbesondere durch das Verlangen des Betroffenen nach verfahrensrechtlicher „Waffengleichheit“ und einer Parität des Wissens geprägt ist, folgt nur, dass ein Anspruch auf Informationszugang zu den nicht bei der Bußgeldakte befindlichen, aber bei der Bußgeldbehörde tatsächlich vorhandenen Informationen besteht.

 Die grundsätzliche Verwertbarkeit der Ergebnisse einer Geschwindigkeitsmessung unter Verwendung eines standardisierten Messverfahrens (hier: PoliScan FM1) hängt nicht von der nachträglichen Überprüfbarkeit oder Plausibilisierung der Daten ab, die der Messung zugrunde liegen.

 Ein Verwertungsverbot resultiert nicht aus einer „gezielten staatlichen Beweisrekonstruierungsvereitelung“ durch die Physikalisch-Technische Bundesanstalt (PTB); hierfür bestehen keinerlei Anhaltspunkte. (OLG Frankfurt, Beschluss vom 14.06.2022, 3 Ss-OWi 476/22).

 Die Einschätzung des erkennenden Gerichts zur Verwertbarkeit vom Messungen/Messergebnissen stützt sich insbesondere auf die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (19.08.1993, 4 StR 627/92 und 30.10.1997, 4 StR 24/97), mit welcher das Institut des standardisierten Messverfahrens geschaffen wurde. Den Entscheidungen lagen Geschwindigkeitsmessungen mit dem Lasermessgerät L TI 20/20 (Vorgängermodell des Messgeräts Riegel FG 21-P) zu Grunde, bei welchen keinerlei Daten oder Fotos gespeichert oder gefertigt werden.

 Diese Auffassung zur Verwertbarkeit von Messungen und Messergebnissen wird mittlerweile von nahezu allen Oberlandesgerichten in Deutschland vertreten und ist nach Auffassung des erkennenden Gerichts auch konform mit der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 12.11.2020 (2 BvR 1616/18).

 Der Entscheidung des BVerfG ist nämlich nicht zu entnehmen, dass Messungen und Messergebnisse nicht verwertet werden dürfen, wenn nach dem Messvorgang geräteintern (Roh-) Messdaten nicht abgespeichert werden. Im Gegenteil ist aus dem Postulat der „Waffengleichheit“ - als Ausprägung des Rechts auf ein faires Verfahren - zwischen Verfolgungsbehörde und Betroffenem zu folgern, dass ein Betroffener nur die Daten herausverlangen kann, die auch bei der Verfolgungsbehörde vorhanden sind und dieser einen Informationsvorteil verschaffen könnten.

 Die Möglichkeiten der Geltendmachung der Fehlerhaftigkeit des Messergebnisses unter Berufung auf die erlangten und ausgewerteten Informationen sind hierbei in zeitlicher Hinsicht begrenzt: ein Betroffener kann sich mit den Erkenntnissen aus dem Zugang zu weiteren Informationen nur erfolgreich verteidigen, wenn er diesen rechtzeitig im Bußgeldverfahren begehrt. Dies ist nach Einschätzung des erkennenden Gerichts so auszulegen, dass dies gegenüber der Verwaltungsbehörde - erforderlichenfalls mit einem Antrag auf gerichtliche Entscheidung nach § 62 OWiG - vor Anhängigkeit des Gerichtsverfahrens erfolgen muss, zumal die Gerichte über entsprechende Daten im Regelfall gerade nicht verfügen und eine sog. Waffengleichheit im Verhältnis zum Gericht ausdrücklich nicht in Rede steht, und nicht erst nach Anhängigkeit des Gerichtsverfahrens oder gar in bzw. kurz vor der Hauptverhandlung, wie es in der Praxis häufig vorkommt.

 Auch ergibt sich aus der Entscheidung unter dem Aspekt, dass eine sachgerechte Eingrenzung des Informationszugangs geboten ist und angeforderte Daten/Informationen eine erkennbare Relevanz für die Verteidigung aufweisen müssen, aus Sicht des erkennenden Gerichts kein Anspruch eines Betroffenen auf Zugang zu den Daten einer gesamten Messreihe, unabhängig davon, dass nicht definiert ist, was das sein soll (Daten eines Tages, einer Woche, eines Jahres zwischen den Eichterminen?). Denn zum einen ergeben sich aus den Daten der gesamten Messreihe nach der - öffentlich zugänglichen - Stellungnahme der Physikalischen technischen Bundesanstalt (PTB) vom 30.03.2020 keine brauchbaren Erkenntnisse für die gegenständliche Messung. Zum anderen wären datenschutzrechtliche Belange anderer Verkehrsteilnehmer, auf die sich solche Daten beziehen, massiv tangiert. Um Letzteres zu verhindern, bedürfte es eines sehr aufwändigen Procederes, die Daten dieser anderen erfassten Verkehrsteilnehmer unkenntlich zu machen.

 Wenn man trotz dieser einleuchtenden wissenschaftlichen Erkenntnisse und höchstrichterlichen Leitlinien fordern sollte, dass Ergebnisse von bewährten Geschwindigkeitsmessgeräten, die über eine PTB-Zulassung oder Konformitätsbescheinigung verfügen, geeicht sind und von geschultem Personal bedient oder eingesetzt werden (weltweit wohl höchster Standard), somit die Voraussetzungen für ein standardisiertes Messverfahren erfüllen, aber keine Rohmessdaten speichern, nicht verwertet werden dürfen, werden Geschwindigkeitsmessungen nicht mehr möglich sein angesichts dessen, dass die meisten Messgeräte keine Rohmessdaten - mehr - speichern. Dies hätte eine signifikante Beeinträchtigung der Sicherheit im Straßenverkehr zur Folge, da insbesondere gravierende Geschwindigkeitsüberschreitungen für die Fahrer/innen keine Konsequenzen mehr hätten, es auch keine abschreckende Wirkung mehr gäbe, wenn Geschwindigkeitsmessungen nicht mehr stattfänden oder nicht verwertbar wären. In Anbetracht des realen Verkehrsaufkommens und der Verkehrsdichte könnte der Staat das Grundrecht der Bürger und damit aller Verkehrsteilnehmer auf maximal mögliche körperliche Unversehrtheit nicht mehr in ausreichendem und leistbarem Ausmaß gewährleisten.

AG St. Ingbert Urt. v. 15.9.2022 – 65 Js 667/22, BeckRS 2022, 24322 

 

Diesen Beitrag per E-Mail weiterempfehlenDruckversion

Hinweise zur bestehenden Moderationspraxis
Kommentar schreiben

1 Kommentar

Kommentare als Feed abonnieren

Gerade bei Poliscan FM-1 gibt es nicht nur Anhaltspunkte, sondern Beweise in jeder Messdatei der "gezielten staatlichen Beweisrekonstruierungsvereiteltung" durch nachträgliche Veränderung der Zusatzdaten. Und das weiß das OLG Frankfurt auch ganz genau. Eine Schande.

0

Kommentar hinzufügen