ISS aktualisiert Proxy Voting Guidelines u. a. für deutsche Hauptversammlungen

von Dr. Cornelius Wilk, veröffentlicht am 09.12.2022

Der Stimmrechtsberater Institutional Shareholder Services (ISS) hat am 30. November 2022 das 2023-Update seiner Proxy Voting Guidelines für die EMEA-Region veröffentlicht. Die neuen Kontinentaleuropa-Guidelines, die noch nicht veröffentlicht wurden, aufgrund des EMEA-Updates aber bereits inhaltlich absehbar sind, sollen für Hauptversammlungen ab dem 1. Februar 2023 gelten.

Neue Bedingungen für virtuelle Hauptversammlungen

Die verbreitete Einführung virtueller Hauptversammlungsformate nimmt ISS zum Anlass, seine bislang pauschale Ablehnung des Formats aufzugeben. Eine virtuelle Versammlung will ISS jetzt einzelfallabhängig unterstützen und dabei insbesondere folgende Gesichtspunkte berücksichtigen:

  • Gewährleistung von Aktionärsrechten wie in einer Präsenzversammlung
  • Begründung und Umstände der Wahl des virtuellen Formats
  • Kein Ausschluss des Präsenz- und hybriden Formats
  • Befristung der Möglichkeit virtueller Versammlungen

In Deutschland erfasst sind damit die vielfach für 2023 anstehenden Tagesordnungspunkte zur befristeten Einführung des virtuellen Formats per Satzungsänderung gemäß § 118a AktG.

Konkreter Klimaschutz

Etwas konkreter fasst ISS die erst im letzten Jahr aufgenommene (siehe mein Beitrag vom 5. Januar 2022) Empfehlung gegen verantwortliche „Director(s)“ oder andere einschlägige Tagesordnungspunkte bei Unternehmen, die

  • in erheblichem Umfang Treibhausgase emittieren – definiert als die Unternehmen auf der aktuellen Climate Action 100+ Focus Group List – und
  • keine ausreichenden Schritte in Form von detaillierter Offenlegung und Reduktionszielen unternehmen, um Klimarisiken zu untersuchen und abzumildern.

Als geeignete Reduktionsziele in Frage kommen sollen nun mittelfristige Ziele oder „Net Zero-by-2050“-Ziele mit Bezug auf den Unternehmensbetrieb und den Stromverbrauch. Die Ziele sollen mindestens 95 % der Emissionen aus dem operativen Betrieb abdecken. Dass ISS die Erwartungen hierzu in den nächsten Jahren noch weiterentwickelt, scheint nicht ausgeschlossen („At this time…“).

Unabhängigkeit des Prüfungs- und Vergütungsausschusses nach einfacheren Regeln

In „widely-held“ Gesellschaften sollen nicht-unabhängige Kandidaten für den Prüfungs- und den Vergütungsausschuss abgelehnt werden, wenn weniger als die Hälfte der von Aktionären gewählten Ausschussmitglieder unabhängig wären. Die Komplexität der Empfehlung reduziert sich damit deutlich. Weiterhin nicht ausdrücklich geklärt sind Situationen, bei denen die Ausschusszusammensetzung im Zeitpunkt der Aufsichtsratswahl noch nicht absehbar ist.

Ab 2024: Keine Aktionärsstrukturen mit ungleichen Stimmrechten

Bereits jetzt kündigt ISS an, ab dem 1. Februar 2024 gegen verantwortliche Organmitglieder und deren Entlastung zu stimmen, wenn nach der Kapitalstruktur der Gesellschaft nicht alle Aktionäre dasselbe Stimmrecht haben. Ausnahmen sollen nur gelten, wenn

  • die ungleiche Stimmverteilung als Übergangslösung nach Börsengang gewählt wurde,
  • Kapital- und Stimmrechtsanteil höchstens 10 % voneinander abweichen oder
  • ausreichender Schutz für Minderheitsaktionäre gewährleistet ist.

Mit der Kritik an ungleichen Stimmrechten („poor governance feature“) positioniert sich ISS indirekt gegen die Bundesregierung, die sich von der geplanten Einführung von Mehrstimmrechtsaktien sogar verbesserte Kapitalmarktbedingungen erwartet (siehe den Beitrag von Achim Kirchfeld vom 5. Juli 2022). In welcher Weise deutsche Gesellschaften mit Vorzugsaktien oder in KGaA-Rechtsform betroffen sind, wird nicht ausdrücklich geklärt.

Teilnahmedisziplin bei Sitzungen, Unabhängigkeitskriterien, Vergütungsvoten

Weitere Änderungen betreffen die Unabhängigkeitsanforderungen an SPAC-nahe Organmitglieder und die Berechnung des Cooling-Off-Zeitraums beim Wechsel vom Vorstand in den Aufsichtsrat. Eine kleine Änderung enthält die Empfehlung, gegen Aufsichtsratskandidaten zu stimmen, die wiederholt und ohne ausreichende Begründung bei Sitzungen des Aufsichtsrats oder wichtiger Ausschüsse fehlen. Hier werden nun der Prüfungs-, Vergütungs- und Nominierungsausschuss als Regelbeispiele wichtiger Ausschüsse genannt. Der Abschnitt zu vergütungsbezogenen Abstimmungen wurde vollständig neu gefasst – allerdings ausdrücklich nur zur Anpassung an die geänderten Rahmenbedingungen nach Umsetzung der zweiten Aktionärsrechterichtlinie und ohne substanzielle Änderungen.

Diesen Beitrag per E-Mail weiterempfehlenDruckversion