BAG: Rentennähe darf bei der sozialen Auswahl berücksichtigt werden

von Prof. Dr. Christian Rolfs, veröffentlicht am 12.12.2022
Rechtsgebiete: Bürgerliches RechtArbeitsrecht1|2281 Aufrufe

Bei der sozialen Auswahl betriebsbedingt zur Kündigung anstehender Arbeitnehmer (§ 1 Abs. 3 Satz 1 KSchG bzw. § 125 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 InsO) darf im Rahmen des Lebensalters zu Lasten des Arbeitnehmers berücksichtigt werden, dass er bereits eine (vorgezogene) Rente wegen Alters abschlagsfrei bezieht. Das Gleiche gilt, wenn der Arbeitnehmer rentennah ist, weil er eine solche abschlagsfreie Rente oder die Regelaltersrente spätestens innerhalb von zwei Jahren nach dem in Aussicht genommenen Ende des Arbeitsverhältnisses beziehen kann. Lediglich eine Altersrente für schwerbehinderte Menschen darf insoweit nicht berücksichtigt werden.

Das hat das BAG entschieden.

Die Klägerin, Jahrgang 1957, ist seit 1972 bei der Arbeitgeberin beschäftigt. Diese ist in die Insolvenz gefallen. Der Insolvenzverwalter hat mit dem Betriebsrat einen Interessenausgleich mit Namensliste abgeschlossen, in dem die Klägerin genannt ist. Er kündigte ihr am 27.3.2020 zum 30.6.2020. Die Klägerin erhob Kündigungsschutzklage. Nach erneuten Verhandlungen mit dem Betriebsrat beschloss der Insolvenzverwalter, den Betrieb vollständig stillzulegen. Erneut schloss er mit dem Betriebsrat einen Interessenausgleich mit Namensliste ab, erneut befand sich die Klägerin auf dieser Liste. Die (vorsorgliche) zweite Kündigung erfolgte drei Monate später zum 30.9.2020.

Arbeitsgericht und Landesarbeitsgericht haben beide Kündigungen für unwirksam gehalten. Die Revision des beklagten Insolvenzverwalters hatte hinsichtlich der zweiten Kündigung Erfolg. Das BAG berichtet in seiner Pressemitteilung:

Der Senat befand die erste Kündigung vom 27. März 2020 wie die Vorinstanzen im Ergebnis für unwirksam. Allerdings durften die Betriebsparteien die Rentennähe der Klägerin bei der Sozialauswahl bezogen auf das Kriterium „Lebensalter“ berücksichtigen. Sinn und Zweck der sozialen Auswahl ist es, unter Berücksichtigung der im Gesetz genannten Auswahlkriterien gegenüber demjenigen Arbeitnehmer eine Kündigung zu erklären, der sozial am wenigsten schutzbedürftig ist. Das Auswahlkriterium „Lebensalter“ ist dabei ambivalent. Zwar nimmt die soziale Schutzbedürftigkeit zunächst mit steigendem Lebensalter zu, weil lebensältere Arbeitnehmer nach wie vor typischerweise schlechtere Vermittlungschancen auf dem Arbeitsmarkt haben. Sie fällt aber wieder ab, wenn der Arbeitnehmer entweder spätestens innerhalb von zwei Jahren nach dem Ende des Arbeitsverhältnisses über ein Ersatzeinkommen in Form einer abschlagsfreien Rente wegen Alters – mit Ausnahme der Altersrente für schwerbehinderte Menschen (§§ 37, 236a SGB VI) – verfügen kann oder über ein solches bereits verfügt, weil er eine abschlagsfreie Rente wegen Alters bezieht. Diese Umstände können der Arbeitgeber bzw. die Betriebsparteien bei dem Auswahlkriterium „Lebensalter“ zum Nachteil des Arbeitnehmers berücksichtigen. Insoweit billigen ihnen § 1 Abs. 3 KSchG, § 125 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 InsO einen Wertungsspielraum zu. Die streitbefangene Kündigung vom 27. März 2020 war im Ergebnis dennoch unwirksam, weil die Auswahl der Klägerin im vorliegenden Fall allein wegen ihrer Rentennähe unter Außerachtlassung der anderen Auswahlkriterien „Betriebszugehörigkeit“ und „Unterhaltspflichten“ erfolgte und deswegen grob fehlerhaft war. Im Hinblick auf die vorsorgliche Kündigung vom 29. Juni 2020 hatte die Revision des beklagten Insolvenzverwalters demgegenüber Erfolg. Diese Kündigung ist wirksam und hat das Arbeitsverhältnis der Parteien mit Ablauf des 30. September 2020 aufgelöst.

BAG, Urt. vom 8.12.2022 - 6 AZR 31/22, vollständige Pressemitteilung hier

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