EuGH zur Leiharbeit: Das Ende der bisherigen Tarifverträge?

von Prof. Dr. Christian Rolfs, veröffentlicht am 19.12.2022
Rechtsgebiete: Bürgerliches RechtArbeitsrecht|1933 Aufrufe

Lassen die Sozialpartner … durch einen Tarifvertrag Ungleichbehandlungen in Bezug auf wesentliche Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen zum Nachteil von Leiharbeitnehmern zu, muss dieser Tarifvertrag, um den Gesamtschutz der betroffenen Leiharbeitnehmer zu achten, ihnen Vorteile in Bezug auf wesentliche Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen gewähren, die geeignet sind, ihre Ungleichbehandlung auszugleichen.

Das hat der EuGH entschieden.

Die Klägerin ist als Leiharbeitnehmerin beschäftigt. Sie ist Mitglied der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft (ver.di), die Beklagte gehört dem Interessenverband Deutscher Zeitarbeitsunternehmen (iGZ eV) an. Dieser hat mit mehreren Gewerkschaften des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) – darunter ver.di – Mantel-, Entgeltrahmen- und Entgelttarifverträge geschlossen, aufgrund derer die Klägerin für ihre Tätigkeit im Streitzeitraum (2017) 9,23 Euro pro Stunde erhielt. Vergleichbare Beschäftigte im Entleiherbetrieb konnten 13,64 Euro beanspruchen, die Klägerin beansprucht die Differenz. § 8 Abs. 2 AÜG lässt eine solche Abweichung vom Grundsatz der Gleichbehandlung innerstaatlich zu. Das BAG (Beschl. vom 16.12.2020 - 5 AZR 143/19 (A), NZA 2021, 800) hatte jedoch Zweifel, ob die gesetzliche Regelung mit der Leiharbeits-Richtlinie 2008/104/EG vereinbar ist, deren Art. 5 Abs. 3 wie folgt lautet:

Die Mitgliedstaaten können nach Anhörung der Sozialpartner diesen die Möglichkeit einräumen, auf der geeigneten Ebene und nach Maßgabe der von den Mitgliedstaaten festgelegten Bedingungen Tarifverträge aufrechtzuerhalten oder zu schließen, die unter Achtung des Gesamtschutzes von Leiharbeitnehmern Regelungen in Bezug auf die Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen von Leiharbeitnehmern, welche von den in Absatz 1 aufgeführten Regelungen abweichen können, enthalten können.

Der EuGH erläutert nun, dass den "Gesamtschutz der Arbeitnehmer" die in Art. 3 Abs. 1 lit. f RL 2008/104/EG genannten Arbeitsbedingungen ausmachen. Dazu zählen neben dem Arbeitsentgelt die Dauer der Arbeitszeit, Überstunden, Pausen, Ruhezeiten, Nachtarbeit, Urlaub und arbeitsfreie Tage.

Tarifverträge über Zeitarbeit dürfen also nur dann ein geringeres Arbeitsentgelt als das Vergleichsentgelt im Entleiherbetrieb vorsehen, wenn sie diesen Nachteil durch gleichwertige Vorteile bei den genannten übrigen Arbeitsbedingungen ausgleichen. Ob dies der Fall ist, wird nun das BAG (oder das LAG Nürnberg, falls das BAG den Rechtsstreit an ihn zur weiteren Sachverhaltsaufklärung zurückverweisen muss) zu entscheiden haben.

EuGH, Urt. vom 15.12.2022 - C-311/21, BeckRS 2022, 35791 = ECLI:EU:C:2022:983 - TimePartner Personalmanagement

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