Glass-Lewis-Richtlinien für die Hauptversammlungssaison 2023

von Dr. Cornelius Wilk, veröffentlicht am 20.12.2022

Der Stimmrechtsberater Glass Lewis hat Anfang Dezember seine Policy Guidelines Germany für die HV-Saison 2023 veröffentlicht. Parallel aktualisiert wurden die Policy Guidelines Continental Europe.

Aufsichtsrat: Keine fünfjährigen Amtszeiten in DAX und MDAX

Von DAX- und MDAX-Gesellschaften (bislang nur: DAX-Gesellschaften) erwartet Glass Lewis, dass Aufsichtsräte für kürzere Amtszeiten als die gesetzlich erlaubten fünf Jahre (§ 102 AktG) gewählt werden (S. 18). Falls hiervon ohne überzeugende Begründung abgewichen wird, will Glass Lewis eine Stimmabgabe gegen die Wiederwahl des Vorsitzenden des Nominierungsausschusses empfehlen. Für alle anderen Prime- und General-Standard-Unternehmen stellt Glass Lewis in diesem Fall das Anbringen von Bedenken in Aussicht („we will note a concern“); falls weitere Bedenken im Hinblick auf die Zusammensetzung und Leistung des Ausschusses hinzukommen, will sich Glass Lewis auch hier gegen eine Wiederwahl des Vorsitzenden des Nominierungsausschusses aussprechen.

Satzungsänderungen zur virtuellen Hauptversammlung

Bei Satzungsänderungen zur Ermöglichung virtueller Hauptversammlungen (§ 118a AktG) erwartet Glass Lewis, dass die geplanten Bedingungen und ggf. Einschränkungen bei der Teilnahme von Aktionären vorab offengelegt werden (S. 33). Dabei soll auch offengelegt werden, bis zu welchem Zeitpunkt vor der Versammlung Fragen eingereicht werden können; Einschränkungen sollen begründet und die beabsichtigte Verwendung der Ermächtigung während des Ermächtigungszeitraums erläutert werden.

Overboarding

Die Richtlinien zur Berücksichtigung von Parallelmandaten (S. 12) sind gegenüber dem Vorjahr überarbeitet und stärker ausdifferenziert. Eine übermäßige Belastung erkennt Glass Lewis nun grundsätzlich in folgenden Fällen:

  • „Executive Officer“ in einer börsennotierten Gesellschaft und mehr als ein zusätzliches Board-Mandat in einer anderen börsennotierten Gesellschaft
  • „Full-time or executive member of the board” in einer börsennotierten Gesellschaft und mehr als zwei zusätzliche Board-Mandate in anderen börsennotierten Gesellschaften
  • „Non-executive director“ in mehr als fünf börsennotierten Gesellschaften (mit Verweis auf die gleichgerichtete DCGK-Empfehlung C.4)

„Non-executive board“-Vorsitze in europäischen Gesellschaften zählt Glass Lewis dabei doppelt.

Von einer Empfehlung gegen die Wahl eines übermäßig belasteten Kandidaten will Glass Lewis absehen, wenn

  • der Kandidat in eine „executive“-Funktion gewählt werden soll und sich die Überlastung aus parallelen „non-executive“-Mandaten ergibt oder
  • es sich um den bisherigen und zukünftigen Board-Vorsitzenden handelt und der Kandidat nicht gleichzeitig (i) „executive officer“ in einer anderen börsennotierten Gesellschaft ist oder (ii) Board-Vorsitze in mehr als zwei anderen börsennotierten Gesellschaften führt.

In welcher Weise sich die verwendete Terminologie jeweils in das aktiengesetzliche System aus Vorstand und Aufsichtsrat einfügt, wird nicht immer abschließend deutlich. Glass Lewis kündigt in jedem Fall eine einzelfallbezogene Betrachtung an.

Vorstandsabfindungen, Abstimmungsergebnisse, Klimaschutz, One-Share-One-Vote

Weitere Änderungen in den deutschen Guidelines betreffen die (jetzt ausführlicher formulierten) Erwartungen an das System für und ggf. Zahlungen bei Abfindungen ausscheidender Vorstandsmitglieder (S. 25, 26) sowie die Offenlegung von Abstimmungsergebnissen zurückliegender Hauptversammlungen (S. 31).

Die Guidelines für Kontinentaleuropa enthalten einen neuen Abschnitt zu Director-Verantwortlichkeiten für klimabezogene Risiken, in denen sich Glass Lewis von besonders betroffenen Gesellschaften klare Offenlegungen u. a. der Verantwortlichkeiten auf Board-Ebene erwartet (S. 20). In einem ebenfalls neuen Abschnitt zu „Multi-Class Share Structures“ (S. 58) äußert sich Glass Lewis kritisch zu ungleichen Stimmrechtsverteilungen zwischen Aktionären, kündigt jedoch an, zunächst („at this time“) grundsätzlich kein Vorgehen gegen existierende Strukturen bestehender Gesellschaften zu empfehlen.

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