Die Fixierung vor dem Bundesverfassungsgericht

von Prof. Dr. Henning Ernst Müller, veröffentlicht am 31.01.2018

Fixierungen sind nicht nur in der forensischen Psychiatrie (siehe dazu meinen früheren Blog-Beitrag), sondern auch in der allgemeinen Psychiatrie, in der Geriatrie und in Altenheimen ein Thema

Fest steht, dass es nicht ganz selten zu Situationen kommt, in denen Patienten in solchen Einrichtungen sich selbst, andere Patienten oder auch Personal gefährden, insbesondere bei akuter psychotischer Krankheitssymptomatik.

Siehe dazu das Interview mit Andreas Heinz, Psychiatrie-Direktor in Berlin, in der FAZ von heute (Ausschnitt):

Wir hatten bei uns an der Charité in Berlin kürzlich einen Patienten, der hat versucht, mit einer Spiegelscherbe einem meiner Pfleger die Leber rauszuschneiden. In seiner Psychose dachte der Patient, dass der Pfleger ein Alien wäre, den er nur so daran hindern könnte, ihn zu töten. Was machen Sie denn mit so einer Person? Sie können den nicht festhalten, bis der Richter kommt.

In Großbritannien wird ohne Zwangsfixierungen gearbeitet.

Ja, weil dort sehr schnell sehr stark mediziert wird – auch gegen den Willen der Patienten. Das ist in vielen deutschen Bundesländern seit einigen Jahren nicht mehr erlaubt, wenn der Kranke nur andere gefährdet – und nicht sich selbst. Das geht auf ein Bundesverfassungsgerichtsurteil zurück. Alle Länder haben das anders ausgelegt, aber in Berlin dürfen wir bei Fremdgefährdung nur isolieren und sedieren – aber keine Medikamente zum Beispiel gegen die Psychose verabreichen. Das halte ich für ganz falsch, denn damit ist die Fixierung ein Fremdschutz, der nichts an der Situation ändert. Wenn Drogen im Spiel sind, kann das helfen, dann beruhigen sich die Leute. Aber es gibt Patienten, die bleiben in ihrer Manie sehr lange sehr aggressiv. Wir hatten das erste Mal seit zehn Jahren jetzt wieder einen Patienten mit Manie und Drogeneinfluss, der war eine ganze Woche lang hochgradig fremdaggressiv und musste immer wieder fixiert werden.

Wieso?

Wenn wir ihn losgemacht haben, hat er versucht, dem Pflegepersonal mit dem Feuerlöscher den Schädel einzuschlagen, es mit Kot zu beschmeißen, oder das Waschbecken aus der Wand zu reißen. Das kommt ganz selten vor. Aber diese Menschen durchleben in ihrer Psychose den schlimmsten Horrorfilm und haben das Gefühl, dass um sie herum alles inszeniert und lebensbedrohlich ist: Wie in einem Zombiefilm, in dem der letzte Ausweg ist, alle zu töten. Ich finde es unmenschlich, dass jemandem in der Situation nicht geholfen werden darf, wenn er „nur“ andere Menschen gefährdet. Oft schämen sich die Patienten später ja auch furchtbar dafür.

Die Fixierung ist eine von mehreren die jeweilig Betroffenen mehr oder weniger stark belastenden Reaktionsmöglichkeiten. Sie stellt eine extreme Freiheitsbeschränkung dar, was ohnehin eine sorgsame Abwägung zwischen Nutzen und Folgen nötig macht, einschließlich der Frage, ob mildere Mittel in Betracht kommen. Allerdings lässt sich die Frage, was milder ist (und gleichzeitig ebenso effektiv) nicht pauschal beantworten.

Auch mittels sofortiger Medikation (Neuroleptika) kann insbesondere bei akuter Psychose-Symptomatik eine Ruhigstellung erfolgen. Indes: Während manche Patienten (und Ärzte/Pflegepersonal) dies weniger belastend oder ethisch vertretbarer empfinden als die mechanische Fixierung, sprechen einige landesgesetzliche Regelungen (gegen Zwangsmedikation), die Nebenwirkungen und teilweise auch allg. Überzeugungen gegen diese „chemische Lösung“.

Mit einer Haltetechnik kann mit (mehreren) kräftigen Personen ein Patient ebenfalls kurzfristig fixiert werden und es wird berichtet, dass sich auf diese Weise etliche Fälle mechanischer Fixierungen vermeiden ließen, da Patienten sich beruhigen ließen. Allerdings: Auch diese Methode funktioniert keineswegs immer – in vielen Fällen müsste doch auf Medikation zurückgegriffen werden. Zudem fehlt es oft an (ausreichend kräftigem und dazu ausgebildetem) Personal; es besteht auch eine gewisse Verletzungsgefahr.

Wichtig erscheint es, dass weder Fixierungen noch eine Verabreichung von Medikamenten zu routinemäßig ergriffenen Behandlungsmaßnahmen ausarten und dann zu häufig bzw. zu lange durchgeführt werden. Die sehr unterschiedliche Häufigkeit in verschiedenen Institutionen (auch bei ähnlicher Patientenzusammensetzung) deutet hier auf gewisse Defizite hin, die wohl auch in den jetzt vor dem BVerfG verhandelten Fällen sichtbar wurden.

Zwei Faktoren sind es, die eine zu häufige Fixierung zumindest unwahrscheinlicher machen:

1. Strenge Dokumentationspflicht, d.h. in jedem Fall muss unmittelbar nach Beginn der Fixierung dokumentiert werden, wann, aus welchem Grund und von wem diese angeordnet wurde und wer sie in welchem Zeitraum überwacht und wie lange sie andauert.

2. Richterliche Kontrolle innerhalb einer (möglichst kurzen) Zeitspanne, auch wenn die Fixierung in der Zwischenzeit aufgehoben wurde.

Das BVerfG wird die Fixierung also höchstwahrscheinlich nicht verbieten, aber es wird wahrscheinlich die Verfassungsgemäßheit der Fixierung an eine oder beide dieser Voraussetzungen knüpfen und eine entsprechende gesetzliche Regelung in den Ländern anmahnen. Ob z.B. das Bay. Unterbringungsgesetz und das Bay. Maßregelvollzugsgesetz (dazu mein damaliger Blog-Beitrag) diesem Anspruch genügen, wird dann neu bewertet werden müssen.

Update (24.07.2018): Heute hat das BVerfG seine Entscheidung verkündet. Der Senat hat in etwa so entschieden, wie ich es vorausgehen habe: Die Fixierung wurde nicht untersagt, aber nur als ultima ratio für voraussichtlich maximal 30 Minuten für verfassungsgemäß erachtet. Alles darüber hinaus gehende erfordert die richterliche Genehmigung. Auch Dokumentationspflichten wurden begründet. Die gesetzlichen Regelungen in Bayern und Baden-Württemberg müssten überarbeitet werden. Ich werde beizeiten einen weiteren Beitrag dazu verfassen. 

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520 Kommentare

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Als kleines Gedankenspiel zur praktischen Nachhilfe:

Eine Juristin zum Beispiel kann einem Partner, der ebenfalls Jurist ist, viel an Arbeit abnehmen und so hätten beide etwas davon. Das geht doch wunderbar, die volle Erwerbsminderungsrente wäre ein kleines Extra in diesem Beispiel.

(Ähnlichkeiten mit lebenden Personen wären jedoch rein zufällig in diesem Gedankenspiel und werden auch nicht unterstellt.)

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Ja, das könnte ich in der Tat. Nur habe ich eben vorher das Doppelte verdient und das hätte ich dann gerne auch ausgeglichen.
Und ich würde auch gerne wieder in meinem anderen Job arbeiten und nicht als Juristen, das ist nämlich nicht mein Wahlberuf. Ich bin zwar an einem Juristen hängengeblieben, das ist schon schlimm genug, aber an sich mache ich eigentlich gerne einen großen Bogen um die Justiz.

Dann sind die Sachverständigen bei der DRV Bund und beim Gericht halt alle Vollidioten, die ihren Job nicht verstehen. Sie können sich ja als potentieller Sachverständiger melden.
Dafür müssten Sie allerdings mindestens Psychiater sein.
Sind Sie das?

Ein Postbote wie Herr Gert Postel reicht Ihnen etwa nicht?

Der konnte sogar gute Gutachten machen, wie der BGH Richter Nack darlegte.

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Auch in Ihren Kopf jedoch kann weder Gert Postel, noch ein Psychiater schauen, er lässt Sie aber erzählen und erzählen kann jeder Mann und jede Frau ja viel.

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Aha. Keine sachlichen Argumente, keine Antworten auf meine Fragen. Nur allgemeines Geschwafel. Ich lege Wert auf Diskussionspartner, die auch wirklich was einzubringen haben.

Da lese ich nun auf einer Website:

"Auf Wunsch von Frau Conrad stelle ich ihren Fall vor (Zeitzeugendokumentation). Um den Sinn und Zweck einer solchen "Zeitzeugendokumentation" zu erreichen, legt die Mandantin wert auf eine einigermaßen laienverständliche Darstellung."

Das ist ein Gang in die Öffentlichkeit.

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Ja. Unter einem Pseudonym und bei bereits fünf veröffentlichten Entscheidungen, bei dem eines bereits weite mediale Berichterstattung erlangt hat und ich nun gezwungen bin, mein Recht auf Gegendarstellung bzw Richtig Darstellung wahrzunehmen.
Und?

https://www.freiheitsgrundrechte.com/strafverfahren/arzt-amtsarzt-richterin-2-bvr-1763-16/

Diese Darstellung liest sich plausibel und wird daher von mir auch verlinkt.

Besten Gruß

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Die herausragende Bedeutung der VB  (BVerfG 2 BvR 1763/16) beschränkt sich nicht darauf, dass sie die erste erfolgreiche VB wegen des Vorwurfs der Verletzung des Grundrechts auf effektive Strafverfolgung ist. Es ist vielmehr die verfassungsrechtlich gebotene Überprüfbarkeit der Einstellungsentscheidung gem. 153 I StPO durch die Staatsanwaltschaft im Wege des Klageerzwingungsverfahrens, die aus der Entscheidung des BVerfG nenmehr abgeleitet werden kann. Schließlich stehts im Gesetz (172 II 3 StPO) ausdrücklich, dass dies nicht zulässig sei:

"Der Antrag ist nicht zulässig, wenn das Verfahren ausschließlich eine Straftat zum Gegenstand hat,[...] wenn die Staatsanwaltschaft nach § 153 Abs. 1[...] von der Verfolgung der Tat abgesehen hat".

Zum Teil wird vertreten, dass der Antrag ausnahmsweise nur dann zulässig sei, wenn die Einstellungsvoraussetzungen nicht erfüllt seien, so etwa wenn wegen eines Verbrechens ermittelt wurde. Jedenfalls sollte bisher nach einhelliger Meinung die Ermessensentscheidung etwa die Frage der geringen Schuld oder des fehlenden öffentlichen Interesses betreffend nicht im Wege des Klageerzwingungsverfahrens überprüft werden können.

So prüft noch das OLG Karlsruhe (Beschluss vom 24.08.2015 - 2 VAs 19 - 21/15) den Antrag gem. „§ 23 EGGVG oder Art. 19 Abs. 4 i.V.m. § 153 Abs. 1 Satz 1 analog StPO“ und führt zur Unzulässigkeit des Antrags im Wege des Klageerzwingungsverfahrens wie folgt aus:

"Eine Einstellung des Verfahrens durch die Staatsanwaltschaft nach § 153 StPO (Verfügung vom 30.09.2014 und 27.04.2015) bzw. § 170 Abs. 2 StPO i.V.m. mit einer Verweisung auf den Privatklageweg (Verfügung vom 15.12.2014) kann zwar vom möglichen Verletzten nicht im Wege eines Antrags im Klageerzwingungsverfahren angefochten werden (§ 172 Abs. 2 Satz 3 StPO). Dieser Ausschluss einer Anfechtungsmöglichkeit steht in Übereinstimmung mit § 153 Abs. 2 Satz 4 StPO im Fall eines gerichtlichen Einstellungsbeschlusses – außer beim Fehlen einer prozessualen Voraussetzung für den Angeschuldigten und die Staatsanwaltschaft (Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 58. Aufl., § 153 Rn. 34) –, was auch für einen Nebenkläger gilt (§ 400 Abs. 2 Satz 2 StPO). Daher kommen für den Anzeigeerstatter bzw. Verletzten bei solchen Einstellungsverfügungen nur die Gegenvorstellung oder Dienstaufsichtsbeschwerde in Betracht (SK-StPO/Weßlau, 4. Aufl., § 153 Rn. 64). Dies gilt auch dann, wenn der Anzeigeerstatter die Verneinung des öffentlichen Interesses an der Strafverfolgung durch die Staatsanwaltschaft (§ 376 StPO) für unrichtig hält (KK-Moldenhauer, StPO, § 172 Rn. 39). Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gebietet auch Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG keine Anfechtungsmöglichkeit."

https://openjur.de/u/864290.html

Jetzt das BVerfG (Beschluss vom 15. Januar 2020 - 2 BvR 1763/16, Rn. 53 ff.) zu der Verwerfung des Antrags als unzulässig durch das OLG Kiel:

"Auch der Beschluss des Oberlandesgerichts vom 26. Januar 2017 verletzt die Beschwerdeführerin in ihrem Recht auf effektive Strafverfolgung, soweit er den Klageerzwingungsantrag als unzulässig verwirft.

Das Oberlandesgericht hat zwar zutreffend zugrunde gelegt, dass die Unzulässigkeit des Klageerzwingungsverfahrens (§ 172 Abs. 2 Satz 3 StPO) einer gerichtlichen Prüfung dann nicht entgegensteht, wenn der Anwendungsbereich der angewandten Einstellungsnorm überhaupt nicht gegeben ist (vgl. Schmitt, in: Meyer-Goßner/ders., StPO, 62. Aufl. 2019, § 172 Rn. 3), da in einem solchen Fall die Staatsanwaltschaft ihre Einstellungsbefugnis – mangels gesetzlicher Grundlage – eindeutig überschreitet (vgl. Pflieger/Ambos, in: Dölling/Duttge/König/Rössner, Gesamtes Strafrecht, 4. Aufl. 2017, § 172 StPO Rn. 2). Ein Klageerzwingungsantrag ist mithin statthaft, wenn – wie vorliegend – geltend gemacht wird, dass es an den allgemeinen gesetzlichen Voraussetzungen der betreffenden Befugnisnorm fehle (vgl. Kölbel, in: Münchener Kommentar zur StPO, 1. Aufl. 2016, Bd. 2, § 172 Rn. 30). Er kann daher (nur) zulässigerweise damit begründet werden, dass die Einstellung nach § 153 StPO gesetzwidrig gewesen sei (vgl. Graalmann-Scheerer, in: Löwe-Rosenberg, StPO, 27. Aufl. 2018, § 172 Rn. 22, 26). So liegen die Dinge auch hier, weil die (insbesondere auch psychischen) Folgen der Tat nicht aufgeklärt worden sind, sodass zum Zeitpunkt der Entscheidung vollkommen unklar gewesen ist, ob der Anwendungsbereich des § 153 Abs. 1 Satz 2 StPO überhaupt eröffnet war.

Der Beschluss des Oberlandesgerichts vom 26. Januar 2017 verkennt den ihm von Verfassungs wegen obliegenden Kontrollauftrag und den damit verbundenen Prüfungsumfang. Es hält sich allein zur Prüfung der prozessualen Voraussetzungen für eine Verfahrenseinstellung berechtigt, die (lediglich) dann nicht vorlägen, wenn das Verfahren ein Verbrechen oder ein Vergehen mit einer im Mindestmaß erhöhten Strafdrohung zum Gegenstand hätte. Ob ein öffentliches Verfolgungsinteresse fehlt oder ob die durch die Tat verursachten Folgen gering sind, wird nicht geprüft. Ob die Beschwerdeführerin „als Folge der gesamten Vorgänge im Universitätsklinikum eine dauernde posttraumatische Belastungsstörung erlitten hat“, lässt es offen und gelangt wie schon der Generalstaatsanwalt zu der – mangels Begründung – nicht nachvollziehbaren Annahme, dass eine derartige Feststellung „von vornherein als nicht möglich“ erscheine."

Auch in Loveparade-Verfahren stellte sich hier im Beck-Blog schon die Frage der gerichtlichen Überprüfbarkeit der Einstellungsentscheidung nach 153 II StPO und der Anfechtbarkeit durch die Nebenkläger. Dazu bemerkte Professor Müller völlig zutreffend:

"Das Gericht hat nun heute in seiner vollständigen Besetzung, also einschließlich der Schöffen, über die Einstellung entschieden, so wie es § 153 Abs.2 StPO vorsieht, obwohl die Schöffen die von den Berufsrichtern genannte Grundlage für die Entscheidung gar nicht selbst beurteilen konnten, da sie nicht über Akteneinsicht verfügen.

Das ist nach meiner Auffassung ein Verstoß gegen einen wesentlichen Grundsatz des Hauptverfahrens, nämlich dass die tatsächlichen Grundlagen einer Entscheidungsfindung in der Hauptverhandlung bereits erörtert worden sind."

Die Entscheidung des BVerfG betrifft zwar die Überprüfung der Einstellungsentscheidung durch die Staatsanwaltschaft nach 153 I StPO. Sie dürfte aber auch Folgen für die Beurteilung der Anfechtbarkeit durch die Nebenkläger haben, wenn das Gericht nach 153 II StPO das Verfahren einstellt.

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Danke, Herr Kolos, es ist ein erhellendes Gefühl, dass doch jemand versteht, was wir da versucht und auch erreicht haben.
Denn den Anspruch auf effektive Strafverfolgung haben wir zwar auch mit der Verfassungsbeschwerde verfolgt, uns aber auch auf die EU-Richtlinie zum Opferschutz gestützt und im Zuge dessen die Einstellung nach 153 StPO aus verfassungsrechtlicher Sicht in Verbindung mit Artikel 19 Grundgesetz angegriffen.

Siehe zum Richtervorbehalt auch:

Die gute Nachricht - in Berlin braucht es keinen nächtlichen Eildienst in Strafsachen! Aber ich warte mal, bis das BVerfG "dazwischenhaut"

 https://community.beck.de/2020/02/12/die-gute-nachricht-in-berlin-braucht-es-keinen-naechtlichen-eildienst-in-strafsachen-aber-ich-warte-mal-bis

Es reicht also nicht aus, wenn der Richtervorbehalt zwar verlangt wird und auf dem Papier steht, die Voraussetzungen aber dafür an den Amtsgerichten nicht geschaffen werden.

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Von dieser Volksveräppelung rede ich die schon die ganze Zeit in diesem Blog und habe auch schom in Bezugnahme auf die beiden Fixierungsentscheidungen aus 2018 auf "Nachtigall, ick hör Dir trapsen" und darauf hingewiesen, dass es eben kein gutes Urteil ist, Aber da hat mich do gut wie jeder hier für bekloppt erklärt und diese angeblich so tollen Entscheidungen - so wie die aktuell gewonnene BVerfG Entscheidung - gefeiert... Und als ich wieder sagte, das ist kein Grund zum Feiern, erntete ich wieder nur Unverständnis.
Vielleicht ist dem ein oder anderen jetzt aufgefallen, dass ich ein bisschen weiter denke als nur von A nach B ;)

Aber da es eben a) keine Nachtbereitschaft überall gibt und auch b) wenn es die gäbe, kein Amtsrichter innerhalb einer halben Stunde vom Amtsgericht in einer Stadt in der Nacht zu jeder Klinik im ganzen Gerichtsbezirk fahren kann, ist die halbe Stunde sowieso nur reine Theorie.

Und das hatten andere Kommentatoren, ich zum Beispiel, im Auge gehabt, dass das ja garnicht immer zu erfüllen ist, innerhalb der halben Stunde beim Fixierten zu sein und sich als Richter die Sache selber anzuschauen.

Und diese Kommentatoren dachten eben noch etwas weiter als Sonja Ehrlich.

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Salopp gesagt: Das BVerfG hat eine reine Luftnummer mit der halben Stunde fabriziert und das kann einen Nichjuristen schon schmunzeln lassen.

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Ja. Da stimme ich Ihnen zu.
Allerdings wird das hier mit der halben Stunde offenbar immer noch missverstanden. Es muss nicht innerhalb einer halben Stunde ein Rchter da sein!

Ich kenne das übrigens noch so, dass es heißt, alles was länger als ein Vaterunser dauert, ist eine Freiheitsberaubung. Die halbe Stunde hat sich dann bei Delikten nach §239 StGB Irgendwann mal so eingebürgert.
Jeder Bürger würde schreien, wenn er von seinem Nachbarn mal eine halbe Stunde eingesperrt werden darf und das dann keine Freiheitsberaubung sein soll.
Entweder daher nimmt das Bundesverfassungsgericht die halbe Stunde oder es ergab sich aus der Sachverständigenbefragung so a la "wenn wir einen Zwangsspritzen wollen und bis der sich dann damit abgefunden hat, dauert es halt eine halbe Stunde". Schließlich hat auch der Staat keine Lust, bloß für so regelmäßige Zwangsspritzen immer gleich einen Richterbeschluß zu fordern, gegen den man dann ja auch jeweils separat vorgehen könnte.

Die 30-Minuten-Regel dient der Abgrenzung zwischen der Freiheitsbeschränkung (104 I GG) und der Freiheitsentziehung (104 II GG). Nur für die Freiheitsentziehung ist richterliche Anordnung erforderlich. Auszug aus BVerfG Urteil vom 24. Juli 2018 - 2 BvR 309/15, Rn. 67-68):

"Die Freiheitsentziehung als schwerste Form der Freiheitsbeschränkung (vgl. BVerfGE 10, 302 <323>) liegt dann vor, wenn die – tatsächlich und rechtlich an sich gegebene – Bewegungsfreiheit nach jeder Richtung hin aufgehoben wird (vgl. BVerfGE 94, 166 <198>; 105, 239 <248>). Sie setzt eine besondere Eingriffsintensität und eine nicht nur kurzfristige Dauer der Maßnahme voraus [...].

b) Jedenfalls eine 5-Punkt- oder 7-Punkt-Fixierung, bei der sämtliche Gliedmaßen des Betroffenen mit Gurten am Bett festgebunden werden, stellt eine Freiheitsentziehung im Sinne von Art. 104 Abs. 2 GG dar, es sei denn, es handelt sich um eine lediglich kurzfristige Maßnahme. Von einer kurzfristigen Maßnahme ist in der Regel auszugehen, wenn sie absehbar die Dauer von ungefähr einer halben Stunde unterschreitet."

Noch einmal: absehbar(!) die Dauer von ungefähr einer halben Stunde unterschreitet. Ansonsten ist die Maßnahme schon von Beginn an eine Freiheitsentziehung.

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Sehe ich genauso wie Sie und denke auch, dass das Bundesverfassungsgericht das so gemeint hat. Allerdings sehen Sie ja an der ersten Verfassungsbeschwerde, die ich geführt habe in Sachen Polizei 2 BvR 498 /15, dass das Bundesverfassungsgericht den Passus dann anders ausgelegt hat.
Außerdem wird es auch entsprechend in allen möglichen Fachzeitschriften publiziert. Sie und ich können also selber Meinung sein und trotzdem setzt sich erstmal wieder etwas anderes durch.
Das habe ich damals bei dem Urteil schon prophezeit und bekam prompt mit meiner ersten Verfassungsbeschwerde die Bestätigung.
So, wie hier ja auch einige denken, der Richter müsste nach 30 Minuten da sein, was so auch nicht stimmt.
Es gibt ja auch heute noch Leute, die meinen, die Polizei dürfte einen bis zum nächsten Tag erstmal festhalten.

So, wie hier ja auch einige denken, der Richter müsste nach 30 Minuten da sein, was so auch nicht stimmt.

Und wie soll der Richtervorbehalt effektiv erfüllt werden können, wenn der Richter erst am nächsten Tag um 10 Uhr erscheint?

Es gibt ja auch heute noch Leute, die meinen, die Polizei dürfte einen bis zum nächsten Tag erstmal festhalten.

Der Polizeigewahrsam kann so lange dauern, ist natürlich an Voraussetzungen gebunden.

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Offenbar reicht es Ihnen bei der Fixierung über viele Stunden ohne Erscheinen des Richters, wenn hinterher eine Rechtswidrigkeit festgestellt werden kann.
 

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Dann beantworten Sie doch bitte diese Frage:

Und wie soll der Richtervorbehalt effektiv erfüllt werden können, wenn der Richter erst am nächsten Tag um 10 Uhr erscheint?

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"Und wie soll der Richtervorbehalt effektiv erfüllt werden können, wenn der Richter erst am nächsten Tag um 10 Uhr erscheint?"

Das kommt drauf an. Das steht schon in Art. 104 II GG. Jedenfalls ist der aktuelle Justiz-Etat und das an Mitteln, was Politik und ihre Verwaltung der Justiz und den Gerichten zur Verfügung stellen (denn Judikative wird von Exekutive fremdverwaltet - es gibt keine Selbstverwaltung der Judikative und auch keine der Gerichte), keine Auslegungshilfe für die Verfassung und den Richtervorbehalt aus Art. 104 II GG.

Ich habe vor einigen Jahren mir die Mühe gemacht und ausgerechnet, was die Justiz als verfassungsrechtlich zwingendes Ressort den Steuerzahler kostet, weil immer und immer wieder und unaufhörlich über die Kosten der Justiz in der Politik gejammert wird, was in der Gesellschaft inzwischen blind und ahnungslos nachgeahmt wird. Von dem gesamten Steueraufkommen, die alle Steuerzahler in allen Steuerarten aufbringen, entfällt für die Justiz pro Kopf etwa so viel im Monat wie eine Pizza kostet. Und das in einem Rechtsstaat! Dabei sind die Kosten der rechtsprechungsfremden Justizministerien und der Justizverwaltung noch mit enthalten.

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"Und wie soll der Richtervorbehalt effektiv erfüllt werden können, wenn der Richter erst am nächsten Tag um 10 Uhr erscheint?"
Das Gesetz sagt, indem er unverzüglich kommt. Das heißt ohne schuldhaftes Zögern. Das kann innerhalb von 30 Minuten erfolgen, je nach abzuarbeitenden Fällen aber sicherlich auch schon mal eine Stunde oder unter Umständen sogar zwei später. Bei mir lief es ja auch so. Da ging die Zeit auch erst los ab Besuch des Amtsarztes, also 4,5 Stunden nach Fixierung.

"Der Polizeigewahrsam kann so lange dauern, ist natürlich an Voraussetzungen gebunden. "

Richtig. Auch die müssen nämlich unverzüglich , das heißt, ohne schuldhaftes Zögern einen Richter informieren.

Richtig. Auch die müssen nämlich unverzüglich , das heißt, ohne schuldhaftes Zögern einen Richter informieren.

Nicht unbedingt als erste Handlung bei einer Gewahrsamnahme.

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"Nicht unbedingt als erste Handlung bei einer Gewahrsamnahme."
Genau.

"Ein Gummi-Zeitraum."
Jein. Aber eben auch nicht das Selbe wie die 30 Minuten-Regel

Bei mir lief es ja auch so. Da ging die Zeit auch erst los ab Besuch des Amtsarztes, also 4,5 Stunden nach Fixierung.

Das hat aber nichts mehr mit einer Fixierung zu tun, die konform mit den Entscheidungen des BVerfG ist, da die Fixierung ja ein besonders hoher Grad der Freiheitsentziehung ist, also nicht nur das Festhalten in einem Raum oder in einem Gebäude, so wie beim Polizeigewahrsam.

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Und dann kommt ja noch die wahrscheinlich am Ende in der Praxis relevanteste Frage, welcher Grad an Wahrscheinlichkeit muss für die Absehbarkeit betreffend die 30 Minuten-Regel gelten und wie genau muss ich meine Einschätzung dokumentieren und was gilt, wenn ich diese formellen Voraussetzungen nicht erfülle. Zu wessen Lasten geht das?
Also danke, liebes Bundesverfassungsgericht und liebe Experten beim Bundesverfassungsgericht, wieder voll bis zu Ende gedacht, das nenne ich mal. präzise Arbeitsleistung, so durchdacht und von allen Seiten beleuchtet. Und dann über extreme Arbeitsauslastung jammern.

Besonders hinweisen möchte ich auf BVerfG, B. v. 23.1.2020 – 2 BvR 859/17, Rn. 37:

Unter Zugrundelegung dieses Maßstabs hat das Oberlandesgericht den Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs dadurch verletzt, dass es den Antrag des Beschwerdeführers an den Anforderungen für die Erhebung der öffentlichen Klage gemessen und auf den insofern erforderlichen genügenden Anlass (vgl. § 174 Abs. 1 StPO) abgestellt hat, obwohl der Antrag auf gerichtliche Entscheidung ausdrücklich lediglich auf die Fortsetzung der Ermittlungen gerichtet war. Letzterem ist nach der herrschenden Meinung (bereits) stattzugeben, wenn die Staatsanwaltschaft den Sachverhalt gar nicht oder jedenfalls in zentralen Punkten nicht hinreichend aufgeklärt hat (vgl. OLG München, Beschluss vom 27. Juni 2007 - 2 Ws 494-496, 501/06 -, NJW 2007, S. 3734 <3735>; KG, Beschluss vom 11. April 2013 - 3 Ws 504/12 -, NStZ-RR 2014, S. 14 <15>; Schmitt, in: Meyer-Goßner/ders., StPO, 62. Aufl. 2019, § 175 Rn. 2; Zulässigkeit eines Ermittlungserzwingungsantrags offengelassen BVerfGK 17, 1 <8>). Der Beschwerdeführer hat die fehlerhafte Anwendung des Prüfungsmaßstabs auch mit der Anhörungsrüge geltend gemacht.

Tja. Wenn der Vater als Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie seine eigene Tochter nicht teilen kann, wieso sollen es dann andere können?
Wie kann es sein, dass jemand in einer geschlossenen Unterbringung dreimal einen Suizidversuch begehen kann?
Und die Argumentation
"Frau F. hätte sich auch auf der Station der Klinik umbringen können, der gewährte Ausgang habe die Umsetzung ihres Vorhabens nur erleichtert."
ist ja wohl lächerlich. Wenn er es erleichtert hat, muss man doch schon fragen, ob diese Ausgangsgewährung dann nicht genau das Problem geschaffen hat.
Und zu Tode hätte sie auch kommen können durch einen Autounfall, beispielsweise, weil sie unter den Psychopharmaka Auto fährt.
Also, diese Argumentation ist doch von vorne bis hinten wirklich Schwachsinn.
Aber wie schön, dass die Staatsanwaltschaft nicht nur Gefälligkeitgutachter besorgt, wenn es um normale Bürger geht, sondern auch, wenn es um die Töchter von Ärzten geht. Wenn es für die Staatsanwaltschaft passt, ist Justitia, also doch noch blind.

Wie kann es sein, dass jemand in einer geschlossenen Unterbringung dreimal einen Suizidversuch begehen kann?

Das geht, wenn der Untergebrachte nicht ständig fixiert wird, und auch da kann er noch die Luft anhalten, bis er ohnmächtig wird.

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Beim Duschen kann sich ein Untergebrachter doch auch strangulieren, oder auf der Toilette den Kopf in die Schüssel stecken bis er ertrinkt.

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Oha. Ich dachte immer, derart Suizidgefährdeten wird alles weggenommen, was sie für genau so etwas gebrauchen könnten.

Am Anfang mag das so sein, aber ständig einen Aufpasser auch bei intimen Verrichtungen über Tage dabei zu haben wird es nicht geben können, weil das die Menschenwürde verletzt.

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Also wer es durchzieht, sich in der Toilettenschüssel durch Ertrinken zu töten, der will auch wirklich sterben.

Das ist sowieso so ein Ding, was ich überhaupt nicht verstehe. Warum lässt man Menschen, die um jeden Preis sterben wollen, nicht einfach sterben. Ich weiß nicht, wie das ist, mit zB einer Schizophrenie zu leben und wenn das dazu führt, dass die Menschen sich ständig umbringen wollen und ein Suizidversuch sich an den anderen reiht, warum lässt man sie dann nicht? in Würde gehen, geplant und sicher, statt, dass sie zu solchen Methoden greifen müssen und andere Menschen damit wiederum auch traumatisieren, z.b. Lokführer.

Eine schwierige Abwägung, z.B. bei tief depressiven, jungen Menschen, die sterben wollen, die überlegen es sich halt doch manchmal noch anders nach einiger Zeit.

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Ich denke, wenn man an so etwas klare Voraussetzungen knüpft, dann kommt man zu einer tolerablen Lösung. Wenn jemand es schafft, den Überlebensinstinkt zu unterdrücken und gleichlaufend jederzeit die Tatherrschaft hat, so wie in dem Beispiel mit der Toilettenschüssel, dann gehört da wirklich viel zu.
Selbst bei schweren depressiven Episoden schafft man das nicht einfach so.
Wenn jemand sich über Jahre quasi fast zu Tode hungert, oder über Jahre hinweg immer wieder Suizidversuche begeht, ohne, dass akute äußere Belastungen dies erklären würden, bei dem sollte man schon einmal darüber nachdenken, ob nicht die passive Sterbehilfe doch die bessere und liebevollere Variante wäre.
So, wie es z.b. Dignitas macht, muss der Suizident dann ja trotzdem noch selbst die Taste drücken oder das Getränk zu sich nehmen.

Und ich würde das nicht vom Alter abhängig machen. In Belgien beispielsweise würde erst neulich ein junges traumatisiertes Mädchen in den Tod begleitet.
Klar, kann man da auch sagen, die ist noch so jung und unerfahren, die hat ihr ganzes Leben noch vor sich. Aber vielleicht ist es genau das, was ihr Angst gemacht hat.
Wir laufen nicht in den Schuhen dieser Menschen. Vielmehr sollte man mit den Menschen sprechen, ausführlich sprechen, offen und tolerant, um sich entsprechend zu überzeugen.
Bei Fixierungen geht es doch auch ;)

Passive Sterbehilfe in speziellen Einrichtungen könnte ich mir da durchaus vorstellen nach langen Gesprächen, aber nicht in den Kliniken, die das Leben nach ihren Möglichkeiten erhalten.

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Wer sich umbringen will, der kann es doch tun, er kann sich selber auch noch eine Guillotine bauen mit etwas handwerklichem Geschick und das Ganze dann ins Internet stellen, mit Nahaufnahmen, auch noch mit dem gefüllten Korb. Damit kann er so bekannt werden wie jemand, der erfolgreiche Verfassungsbeschwerden zum Recht auf die passive Sterbehilfe schreibt, oder als Kannibale in die moderne Geschichte eingeht.

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Ich weiß nicht, wie das ist, mit zB einer Schizophrenie zu leben und wenn das dazu führt, dass die Menschen sich ständig umbringen wollen und ein Suizidversuch sich an den anderen reiht, warum lässt man sie dann nicht?

Dieser Satz lässt mich Ihnen mal deutlich sagen, wenn Sie so weinig über Verläufe, Symptomatiken und Schweregrade schizophrener Erkrankungen wissen, dann sollten Sie m.E. besser dazu schweigen, als eine solche Äußerung von sich zu geben, die mich an Meinungen zu einem sog. lebensunwerten Leben erinnert.

Wer auch so intensiv sein Recht auf das eigene Sterben als junger Mensch einfordert, ebenso nach Komplikationen bei einer Hirnoperation nicht mehr weiterleben wollte, auch mit langen Debatten darüber den Ärzten noch die knappe Zeit stiehlt, der muß sich über ungehaltene und auch genervte Ärzte und Pfleger nicht wirklich groß noch wundern.

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