Pflichtenkollision und Triage in der Coronakrise

von Prof. Dr. Henning Ernst Müller, veröffentlicht am 02.04.2020
Rechtsgebiete: Corona39|13978 Aufrufe

In dem Moment, in dem Situationen sich zu realisieren beginnen, die bislang eher in historischen Kontexten oder in Beispielsfällen aus Lehrbüchern auftauchten, scheint sich die Diskussion noch einmal neu zu entwickeln, geradezu „virulent“ zu werden.

Also vorausgeschickt: Niemand ist wohl daran interessiert, Ärzte strafrechtlich zu verfolgen oder ihnen auch nur moralische Vorwürfe zu machen, wenn sie in einer – auch in der Coronakrise hoffentlich nicht eintretenden – Lage über Leben und Tod von Menschen entscheiden müssen, weil Behandlungsmöglichkeiten fehlen. Da wir Juristen regelmäßig am warmen Schreibtisch sitzen, während andere möglicherweise in solche lebensentscheidenden Lagen geraten, liegt es mir fern, von eben dem warmen Schreibtisch aus gute und praktische Ratschläge zu geben, was zu tun und was zu unterlassen ist.

Andererseits soll auch der Vorwurf nicht bestehen bleiben, neben denjenigen, die versäumt hätten, sich um rechtzeitige medizinische Ausrüstung für Katstrophenfälle zu kümmern, hätten es auch die Strafrechtswissenschaftler versäumt, sich rechtzeitig Gedanken zu machen, was in solchen Situationen Recht und was Unrecht ist. Im Gegenteil: Recht viele Kolleg-inn-en, zu denen ich nicht gehöre, haben sich mit solchen rechtsdogmatischen und rechtsphilosophischen Problemen recht intensiv auseinandergesetzt. In dieser Auseinandersetzung wurde über die Dilemmata möglicher Katastrophenszenarien durchaus breit nachgedacht und diskutiert, ganz unabhängig von aktuellen Notlagen.

Leider sind dann gelegentlich (sogar von Juristenkollegen) einige wichtige Fragen teilweise so profanisiert worden, (ich spiele an auf das Theaterstück „Terror“, worüber wir ja auch hier im Beck-Blog diskutiert haben), dass der Eindruck entstand, das Strafrecht gebe keine angemessenen Antworten auf komplizierte Fragen. Manchmal wird dabei die Unterscheidung zwischen Rechtswidrigkeit und Schuld unterschlagen oder leichthin beiseitegeschoben. Zugegeben, es ist ja auch ein manchmal schwer zu vermittelndes Konzept, dass auch jemand, der Unrecht getan hat, aus bestimmten Gründen schuldlos und unbestraft bleibt, obwohl er im Tatzeitpunkt Herr seiner Sinne war und auch keinem Irrtum unterlag.

Insofern ist das, was ich hier aufschreibe, zunächst nur die Beantwortung der Frage (auch von Ärzten!), was denn nun „Recht“ sei, wenn die Anzahl der Personen, die gerettet werden kann, auf eine geringere Anzahl von zur Rettung erforderlichen Mitteln trifft. Ob dies folgende schon der (philosophische) Stein der Weisen ist, will ich nicht behaupten, es erscheint mir aber aus rechtlicher Sicht die vertretbarste Lösung.

Eine echte Pflichtenkollision besteht dann, wenn zwei gleichartige und gleichwertige Pflichten an den Verpflichteten herangetragen werden, er aber aus faktischen Gründen nur eine der beiden ausführen kann. Die eine Pflichtverletzung ist dann nach h.L. gerechtfertigt, wenn nur so die andere Pflicht erfüllt werden kann. Niemand kann vom Recht gezwungen sein, unmögliches zu leisten. Etabliert ist das Prinzip bei den Unterlassungsdelikten. Etwas umstritten ist, inwieweit es (insbes. im medizinischen Bereich) auch gilt, wenn die Differenz zu den Handlungen nicht mehr genau gezogen werden kann.

Wichtig ist dabei das „gleichartig“ und „gleichwertig“: Ist eine der beiden Pflichten rechtlich höherwertig, dann ist diese vorrangig zu beachten, d.h. die Verletzung dieser höherrangigen Pflicht ist dann obj. rechtswidrig, auch wenn die niederrangige erfüllt wird.

Es kann dann sein, dass trotz obj. Rechtswidrigkeit die Tat/Unterlassung unvorsätzlich ist, weil der Verpflichtete die Tatsachen nicht zutreffend beurteilt hat. Und es kann (in Notsituationen häufig) der Täter entschuldigt gehandelt haben und deshalb ebenso straflos bleiben. Die Unterscheidung zwischen Rechtfertigung und Entschuldigung ist dennoch nicht ganz unwichtig, weil Betroffene oder zB Angehörige bei rechtswidrigem Verhalten Notwehr leisten dürfen, bei rechtmäßigem Verhalten nicht.

Die derzeitige Diskussion dreht sich darum, was in den Fallkonstellationen rechtlich und ethisch richtig ist, die möglicherweise auf das medizinische Personal zukommen, wenn infolge der Pandemie Krankenhäuser an den Rand ihrer Kapazität oder darüber hinaus geraten.

Es gibt dazu etwa Diskussionen über Prinzipien der katastrophenmedizinischen Triage, insbesondere wann und wie diese gelten und auch, welche Prinzipien der Triage gelten sollen.

Man muss dazu verstehen, dass die Triage (aus der Sicht des obigen strafrechtlichen Konzeptes) wie auch ethische Prinzipen, die in dieser Triage schon enthalten sind oder daneben bestehen, Methoden sind, eine echte Pflichtenkollision zu vermeiden: Die Triage dient gerade dazu, zwischen verschiedenen Handlungspflichten des Arztes eine Rangordnung zu etablieren, so dass diese nicht mehr auf gleicher Höhe konkurrieren. Wenn also medizinische (und andere) Inhalte sowie Verfahren etabliert sind, die vorgeben, welche Pflicht gegenüber der anderen höherrangig ist, dann entscheidet dies zugleich darüber, ob sich der Arzt dem Recht gemäß verhält oder nicht. So ein Verfahren kann es dem Arzt erleichtern, Entscheidungen zu treffen, da so vorgegeben wird, wem (unter Vernachlässigung eines anderen Menschen) vorrangig geholfen werden muss. Es kann aber auch belasten, denn bei bewusster (!) Abweichung von diesem Verfahren droht möglicherweise Strafe.

Die Werte unseres Grundgesetzes geben allerdings vor, dass bestimmte Abwägungskriterien dabei zu unterbleiben haben: Menschenleben sind gleichwertig, gleich welchen Alters. Eine Abwägung wertvolleres Leben gegen weniger wertvolleres Leben kommt nicht in Betracht, auch ist ein jüngeres Leben nicht wertvoller als ein älteres. Und eine weitere Wertung aus der Strafrechtsdogmatik ist, dass eine Garantiepflicht, wie sie die schon begonnene Behandlung eines Patienten auslöst, einen Vorrang einräumt gegenüber neuen potentiellen Patienten.

Beide Punkte sind derzeit in der Diskussion von Fällen, in der üblicherweise solche Situationen geschildert werden (zB von Reinhard Merkel in der TalkShow Markus Lanz am 31.03.):

1. Mehrere Erkrankte werden gleichzeitig in ein Krankenhaus gebracht, es ist aber (mind.) ein Beatmungsgerät weniger vorhanden als benötigt wird.

2. Ein älterer Mensch wird bereits lebenserhaltend mit Beatmungsgerät behandelt, ein jüngerer Mensch oder ein Kind (neuer Patient) benötigen zum Überleben dieses Gerät.

ad 1. Man wird zunächst versuchen, nach medizinisch anerkannten Triage-Regeln, bei denen die akute Überlebenswahrscheinlichkeit ausschlaggebend ist, einen Vorrang/Nachrang zu ermitteln. Ist dies unmöglich, dann ist es rechtmäßig einen Menschen dem anderen vorzuziehen, aber eben NUR dann. Welche Regeln dann gelten, darüber kann man streiten. Am (wohl weltweit) verbreitetsten ist in Fällen gleicher Dringlichkeit das Prinzip "first come, first serve". Von den Patienten gleicher Dringlichkeit wird zuerst dem geholfen, der etwa als erster beim Krankenhaus angekommen ist. Mein Fakultätskollege Tonio Walter hält auch die Lösung per Los für angemessen, hier (Zeit-Online). Wenn man Wartenummern vergibt, ist ein solches Verfahren denkbar, indem die Nummern nicht der Reihe nach ausgegeben werden, sondern aus einem Lostopf gezogen werden müssen.

ad 2. In diesem Fall ist die Garantenpflicht vorrangig zu beachten, die gegenüber dem schon beatmeten Patienten gilt. Wird er (zugunsten eines anderen) vom Gerät genommen und damit aktiv getötet, kann dies schon theoretisch nicht mit den Regeln der „Pflichtenkollision“ gerechtfertigt werden, sondern nur nach § 34 StGB. Danach muss das geschützte Interesse das beeinträchtigte wesentlich überwiegen und die Tat muss ein angemessenes Mittel sein. Hier muss aber berücksichtigt werden, dass eine Abwägung Leben gegen Leben nicht zur Rechtfertigung führen kann. Ein Abschalten des Beatmungsgeräts kommt daher allenfalls in Betracht, wenn der Beatmete schon im Sterben liegt, die Beatmung also nur noch den Sterbeprozess verlängert.

Dass in Italien andere Regeln gelten, nach denen auch das bloße Alter (und zwar nicht nur als Indiz für Überlebenswahrscheinlichkeit) in die Abwägung einfließen soll, ist zu Recht kritisiert worden (Philosophin Weyma Lübbe)  und entspricht nicht unserem (bisherigen) ethischen Verständnis.

Nochmals: Es geht hier nicht darum, Ärzte zu kriminalisieren oder ihnen auch nur den Job zusätzlich zu erschweren, sondern um eine rechtliche Einschätzung dieser Problematik.

 

 

 

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39 Kommentare

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Ein einziger Hinweis nur im Augenblick: Das Lebensalter korreliert negativ mit der Überlebenswahrscheinlichkeit bei dieser Infektion, so wie sich das bisher darstellt.

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Das ist wohl wahr. Aber wenn in der konkreten Situation nähere Erforschung der sogenannten "konkreten Eigenschaften" nicht möglich ist, bleibt wenig anderes, als nach Gruppen- oder Typenwahrscheinlichkeit zu differenzieren. 

In manchen Krnkenhäusern bekommen Leute über 80 schon nur noch „aktive Sterbehilfe” und mancherorts schon ab 65 nur noch Schmerzmittel zum schmerzreduzierten Sterben. SO kommen auch Alterskorrelationen zustande. Keine statistischen, sondern relae.

Google Captcha ist illegal, da dadurch IP Adresse und Browserabdruck, der zur Identifizierung taugt, gesammelt werden und zu Google und von dort an die US-Regierung abfließen.

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Der zweite Hinweis wäre die Pflegebedürftigkeit älterer Menschen in Alters- und Pflegeheimen mit dortiger ganz hoher Sterblichkeit der Klienten nach einer eingeschleppten Infektion, sowie ja auch die Folgen sozialer Isolierung dann ebenfalls wieder lebensverkürzend sind auf längere Sicht.

Das scheint gesichert zu sein.

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Negativ war die Korrelation, ein höheres Lebensalter bedingt statistisch immer eine niedrigere Überlebenswahrscheinlichkeit.

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Bevor die Vorsitzende des Europäischen Ethikrats heute im TV aufschlägt, gebe ich mal ein paar Daten aus der Sterbetafel der BRD von 2001 / 2003 für Männer zu bedenken, noch vor der Corona-Krise:

Von 100.000 Neugeborenen wurden 72.925  70 Jahre alt, bis zum 71. Lebensjahr verstarben 2.164 Personen, also 2,97%.

Von 100.000 Neugeborenen wurden 45.205  80 Jahre alt, bis zum 81. Lebensjahr verstarben 3.460 Personen, also 7,65%.

Das sind Fakten, wohlgemerkt, ohne Corona-Pandemie / Krise.

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Das sind statistische Fakten, die die Gesamtalterskohorte betreffen. Trotzdem kann mein Vater mit 85 als lebenslanger Marathonläufer eine höhere (Über)lebenswahrscheinlichkeit haben als sein Nachbar, der erst 75 ist. Und hier geht es um die Überlebenswahrscheinlichkeit bei der akuten Erkrankung, gerade nicht um die Alterstafelsterblichkeit. Aber auch die Frage, ob (fehlende) Überlebenswahrscheinlichkeit unbedingt den Ausschlag geben sollte, ist durchaus nachprüfungsbedürftig.
 

Käme Ihr 85-jähriger Vater mit schwerer Atemnot und Verdacht auf Covid-19 zu mir als aufnehmenden Arzt in einer Klinik mit Mangel an Beatmungsplätzen und würde dann zu mir sagen, er wäre sein Leben lang ja Marathonläufer gewesen, dann wäre das doch ohne Belang für seinen akuten Zustand und seine Chancen, bevorzugt beatmet zu werden vor einem 75-jährigen mit den gleichen akuten Symptomen. 

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Ist das Problem so ganz neu? Wird nicht auch bei Vergabe von Organen zur Transplantation seit längerem mit der Chancenzuteilung jongliert? Welce Kriterien werden da angewendet?

Nun ja - laut "Menschenwürde"-Auswertung des BVerfG war ja eine im Zusammenhang mit Leben und Tod relevante Strafvorschrift für nichtig zu erklären, die Erwerbsinteressen für in Ihrem Sprachgebrauch "schnöden Mammon" für persönlichkeitsrechtlich-menschenwürdlich hintanstellen wollte. 

Das sind statistische Fakten, die die Gesamtalterskohorte betreffen. Trotzdem kann mein Vater mit 85 als lebenslanger Marathonläufer eine höhere (Über)lebenswahrscheinlichkeit haben als sein Nachbar, der erst 75 ist.

Wollen wir statistische Untersuchungen machen, oder nur Einzelpersonen betrachten, wie Sie es auch um 23:03 machten?

Und hier geht es um die Überlebenswahrscheinlichkeit bei der akuten Erkrankung, gerade nicht um die Alterstafelsterblichkeit.

Das kann jetzt überhaupt nicht voneinander getrennt werden.

Aber auch die Frage, ob (fehlende) Überlebenswahrscheinlichkeit unbedingt den Ausschlag geben sollte, ist durchaus nachprüfungsbedürftig.

 Sie schrieben doch selbst, ohne die Fettung durch mich:

Man wird zunächst versuchen, nach medizinisch anerkannten Triage-Regeln, bei denen die akute Überlebenswahrscheinlichkeit ausschlaggebend ist, einen Vorrang/Nachrang zu ermitteln.

Und jeder Arzt kennt die statistischen Sterblichkeiten aufgrund des reinen Alters.

Aber nun gebe ich auch noch die Daten noch älterer Männer an, wie vorher:

Von 100.000 Neugeborenen wurden 12.049  90 Jahre alt, bis zum 91. Lebensjahr verstarben 2.359 Personen, also 19,58%.

Von 100.000 Neugeborenen wurden 3.216  95 Jahre alt, bis zum 96. Lebensjahr verstarben 918 Personen, also 28,54%.

Von 100.000 Neugeborenen wurden 454  100 Jahre alt, bis zum 101. Lebensjahr verstarben 173 Personen, also 38,11%.

In Italien wurden übrigens an Covid-19 in Kliniken Verstorbene unabhängig ihres Alters Berichten nach in verschlossene Leichenssäcke gelegt, die vor der Kremierung nicht mehr geöffnet wurden.

Die Ethik-Vorsitzende fiel auch nicht dadurch auf, auf die Realitäten bei der Triage näher einzugehen.

Das "Recht" müßte halt mal die Realitäten des Überlebens und die statistischen Werte der Wahrscheinlichkeiten dazu zur Kenntnis nehmen.

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In Italien wurden übrigens an Covid-19 in Kliniken Verstorbene unabhängig ihres Alters Berichten nach in verschlossene Leichensäcke gelegt, die vor der Kremierung nicht mehr geöffnet wurden.

Dann können auch die Juristen als Staatsanwälte oder Richter nichts mehr ausrichten, also aus Sicht von Ärzten ist damit ein mögliches Problem optimal gelöst worden. Gewußt wie .....

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Der parallele Thread: https://community.beck.de/2020/03/26/corona-ethik-wer-darf-weiterleben#comment-139771

Wenn in DIE ZEIT von einem Kollegen des Herrn Prof. Müller auf das Losverfahren verwiesen wird, sehe ich das als eine Kapitulation eines Juristen vor den Realitäten der Triage an und das leitet auch noch Wasser auf die Mühlen derjenigen, die bei Gerichtsverfahren und Strafprozessen sowieso von einem Lotteriespiel sprechen.

In der Triage, der Katastrophen- und Notfallmedizin ist es auch manchmal illusorisch, ausgiebige Befunde mit langwieriger Labormedizin zur Abklärung zu erheben und sämtliche Patientenakten zu studieren, um alle Vorerkrankungen ebenfalls noch zu eruieren. Da muß manchmal innerhalb von Minuten entschieden werden, wer behandelt werden kann, und wer nicht.

Wer als Jurist also mal nichts Vernünftiges zu sagen weiß, der sollte vielleicht auch manchmal das Schreiben einfach bleiben lassen.

Besten Gruß nach Regensburg

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Akute Überlebenswahrscheinlichkeit und grundsätzliche Regelung

Der Begriff wird in der Einführung verwendet und wird demnach für besonders bedeutungsvoll gehalten. Hierbei stellen sich mir einige Fragen:

1. Wie wird die "akute Überlebenswahrscheinlichkeit" bestimmt?

2. Ist sie ein juristisch anerkanntes Kriterium für vor- und nachrangige lebensnowendige Behandlung?

3. Falls die Ärzte zu Entscheidungen genötigt werden, die ein Leben einem anderem vorziehen müssen, sollten sie dazu gesetzlich legitimiert werden ...

4. ... und die Kriterien sollten vom Gesetzgeber klar und deutlich formuliert werden.

5. Kann man kann eine solche Situation als eine Art  "übergesetzlichen Notstand" ansehen?

R.Sponsel, Erlangen

 

 

 

1. Wie wird die "akute Überlebenswahrscheinlichkeit" bestimmt?

Medizinisch. Die Wahrscheinlichkeit, die Krankheit akut zu überleben.

2. Ist sie ein juristisch anerkanntes Kriterium für vor- und nachrangige lebensnowendige Behandlung?

Das ist ein medizinisches Kriterium.

Hans-Jürgen Papier, der frühere Präsident des Bundesverfassungsgerichts beurteilt die "Handreichung" in einem Interview mit der SZ vom 2.4.2020 kritisch wie folgt:

F: Sie spielen damit auf das Urteil zum Luftsicherheitsgesetz an, als es um die Frage ging, ob man ein von Terroristen gekapertes Passagierflugzeug abschießen darf, damit anderswo Schaden verhindert wird.
A: Ja, denn das Bundesverfassungsgericht hat damals betont: Leben darf nicht gegen Leben abgewogen werden. Jedes Leben ist gleichrangig und gleich wertvoll, es genießt den gleichen Schutz. Und es geht nicht an, dass dann jemand entscheidet, dieses oder jenes Leben ist vorzugsweise zu schützen oder zu retten. Ich kann den Ärzten also nur raten, sich an diese Empfehlungen nicht blindlings zu halten. Es kann ja immerhin um den möglichen Vorwurf der fahrlässigen Tötung gehen.
F:Wie würden Sie es denn lösen? Hat man dann einfach Glück, wenn man zuerst auf der Intensivstation eintrifft?
A:Die Ausgangsfrage der Empfehlungen ist richtig: Besteht eine realistische Erfolgsaussicht einer Intensivtherapie? Diese Frage muss auf jeden Fall bejaht werden. Wenn dann aber mehrere Patienten etwa um ein Beatmungsgerät konkurrieren, könnte man - so jedenfalls lese ich die Empfehlungen - zu der Abwägung kommen, wie lange hätte Patient A vermutlich noch zu leben und wie lange Patient B? Das aber wäre ein Widerspruch zu dem unbestrittenen Grundsatz, wonach alle Menschenleben gleichwertig sind. Eine Abwägung nach dem Motto „Diese Person ist ja früher oder später ohnehin dem Tode geweiht“ ist mit der Menschenwürdegarantie nicht vereinbar.
F:Man darf also grundsätzlich an die Erfolgsaussicht der Behandlung anknüpfen, aber nicht an generelle Prognosen zum Gesundheitszustand?
A: Ja. Im Hinblick auf die Priorisierung bei Ressourcenknappheit soll es etwa als nachteilig gelten, wenn der Patient auch an einer weit fortgeschrittenen Erkrankung leidet. Das ist eine sehr gefährliche Abwägungsmethode.
F: Und diese Empfehlungen wären aus Ihrer Sicht justitiabel?
A: Verantwortlich ist am Ende immer der Arzt, der über die Behandlung entscheidet. Die Empfehlungen stellen im Falle eines Strafverfahrens jedenfalls keinen Rechtfertigungsgrund für den Arzt dar.

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Gast schrieb:

1. Wie wird die "akute Überlebenswahrscheinlichkeit" bestimmt?

Medizinisch. Die Wahrscheinlichkeit, die Krankheit akut zu überleben.

Haben Sie auch eine inhaltliche Antwort? Bisher ist das in diesem Blog eine bloße Worthüle ohne jeden Inhalt. Ansonsten danke für das Zitat von Papier, der aber die Sitzuation nicht richtig begriffen zu haben scheint. Die Realittätsvorgabe ist: es muss entschieden werden und dabei bleibt mindestens eine(r) auf der Strecke.

 

und dabei bleibt mindestens eine(r) auf der Strecke...

Der mit der schlechteren "akuten Überlebenswahrscheinlichkeit".

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Angesichts des Herumgeeieres von Papier, den ich ansonsten als hochrangig sehr schätze, verständlich.

Wenn man sich ein wenig Mühe gibt, die einem Juristen sehr wohl zugemutet werden kann, könnte man dieses "Herumgeeiere von Papier" als schwierigen Text bezeichnen, der aber durchaus juristisch Hand und Fuß hat und verständlich ist. Wer schwierigere Texte nicht nur immer, weil er sie nicht versteht, als "Herumgeeiere" begreift, sondern sich ernsthaft damit beschäftigen will, könnte heute auch die FAZ mit Reinhard Merkel, Eine Frage von Recht und Ethik lesen, der für einen ernsthaften Juristen durchaus nachvollziehbar schreibt "Ältere Menschen haben genauso viel Recht auf Beatmung wie jüngere":

Die Ex-ante-Triage ist rechtlich wenig problematisch, wenngleich sie dies seelisch für die Behandelnden in hohem Maße ist. Jenseits der Grenze des Menschenmöglichen gibt es keine rechtlichen Pflichten. Da nur ein Gerät vorhanden ist, handelt der Arzt - Garantenpflichten zur Hilfe für alle hin oder her - gegenüber den Vieren, denen er es vor- enthält, nicht rechtswidrig. Nicht sein Unterlassen, sondern die tragische Unmöglichkeit ihrer Rettung erzwingt ihrenTod. Und da das Recht unterschiedliche Lebenswerte zwischen Individuen nicht anerkennen und ungleiche Schutzpflichten deshalb nicht statuieren darf, kann der Arzt wählen, wen er will.
...
Eine solche Rechtspflicht zur Hinnahme der (aktiven) Aufopferung des eigenen Lebens für Dritte und durch Dritte, ist unter keinem Gesichtspunkt zu legitimieren... und selbst wenn dieses Leben nur noch kurz ist, kann es keine zwangsrechtliche Pflicht zu seiner Opferung geben. Wer nicht gerettet werden kann, weil der einzige Weg zu seiner Rettung nicht legitim ist, wird Opfer eines bösen Schicksals; wer zugunsten anderer zum Sterben ausgesondert wird, Opfer einer Tötung. Keine Rechtsordnung kann das als gültige Norm akzeptieren.
...
Die Verweigerung dieses aktuell Möglichen für über Achtzigjährige ist bekanntlich zum ratlosen Schrecken der Öffentlichkeit in Frankreich und Italien schon praktiziert worden und wird es wohl noch immer. Auch hierzulande wäre sie wohl das wahrscheinlichste Szenario, sollten die Kapazitäten der Intensivstationen irgendwann weit überfordert werden. Die Auskunft, auch dies sei rechtlich verboten, ist richtig, bedarf aber einer zweifachen Begrenzung... Doch kennt das Strafrecht, wie es in den Empfehlungen des Ethikrats heißt, in diesen Fällen Wege zu einer „entschuldigenden Nachsicht der Rechtsordnung“. Solche Ärzte mögen irren, Kriminelle sind sie nicht.

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Ich weiß nicht , welches Qualifikationslevel "Gast" (m/w/d) erreicht hat. In dem zitierten Stück von Papier macht er drei Aussagen, keine (!!) mit einem klaren Ergebnis. Es ist die restlose und totale Negation und Verunklarung. Darin liegt er übrigens ähnlich wie fast alle bisherigen "Ratschläge" oder Wertungen. Ich sehe nur zwei Möglichkeiten:  a) der Arzt wägt und wägt und wägt ab, bis alle Kandidaten tot sind  b) Losverfahren, Wird im übrigen satzungsmäßig nicht selten bei Wahlen vorgesehen. 

Also wenn ein Verfassungsrechtler mit schwerer Atemnot und Verdacht auf Covid-19 nach Testung eingeliefert wird, dann würde ich als verantwortlicher Arzt mindestens 1 Gutachten zu seiner Überlebenswahrscheinlichkeit verlangen, sonst wäre sein Antrag auf Behandlung weder zulässig noch begründet. Als Sofortmaßnahme nach seinem Eilantrag bekäme er ein Bett in Fensternähe und einem Ventilator für frische Luft auf seinem Nachttisch, wenn das Fenster mal geöffnet wird. Mit meinem Chef würde ich über den Fall dann später auch beraten, wenn der wieder Zeit hat.

Dafür wird der Verfassungsrechtler doch Verständnis haben.

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PapierZitatbeckblog

 

1.)Ich kann den Ärzten also nur raten, sich an diese Empfehlungen nicht blindlings zu halten. Es kann ja immerhin um den möglichen Vorwurf der fahrlässigen Tötung gehen.

Also: dies „nicht“, schon gar nicht „blindlings“. Sondern wie ????????????????????

 

2.)Eine Abwägung nach dem Motto „Diese Person ist ja früher oder später ohnehin dem Tode geweiht“ ist mit der Menschenwürdegarantie nicht vereinbar.

Also. NICHT.

 

3.) Man darf also grundsätzlich an die Erfolgsaussicht der Behandlung anknüpfen, aber nicht an generelle Prognosen zum Gesundheitszustand?
A: Ja. Im Hinblick auf die Priorisierung bei Ressourcenknappheit soll es etwa als nachteilig gelten, wenn der Patient auch an einer weit fortgeschrittenen Erkrankung leidet. Das ist eine sehr gefährliche Abwägungsmethode[A1] .

Tja, nun wie? „Ja“? an konkrete Erfolgsaussicht? Der unmittelbaren Behandlung und der unmittelbaren Überwindung DIESER Covid19-Infektion? Und wenn das bei allen zu funktionieren verspricht?

 

4.)Die Empfehlungen stellen im Falle eines Strafverfahrens jedenfalls keinen Rechtfertigungsgrund für den Arzt dar.

Also wieder einmal: dies NICHT.

 

 

 

 

 [A1]

Normativ, also de jure wird postuliert: Keine Auswahl nach Alter und sozialer Stellung.

Da aber das Alter meistens mit mehreren gesundheitlichen Beeinträchtigungen kumulativ einhergeht und auch Armut als starkes Krankheitsrisiko gilt, ist de de facto die "akute Überlebenswahrscheinlichkeit" anders als de jure.

Aber darum wird eben herumgeeiert, nur die Betroffenen haben nichts davon und haben das auch längst schon begriffen, wenn sie noch klar denken können.

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Aus den Todeszahlen Italiens ergab sich nach Aussage des Berliner Epidemiologen Prof. Dr. Stefan Willich, das Durchschnittsalter der allermeisten Verstorbenen war ca. 80 Jahre, die Hälfte davon hatte 3 ernstere Grunderkrankungen, darunter gab es nur relativ wenige Tote durch Covid-19, in Deutschland wäre es ähnlich gewesen.

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Finden Sie es nicht etwas arg früh, jetzt schon eine Art von "Corona-Diktatur" nach ca. 1 Woche zu beschreien, also auszurufen oder zu befürchten?

Sollten man das nicht besser den Verschwörungstheoretikern (oder Viktor Orban in Ungarn) überlassen?

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Immerhin werden auch in Deutschland nun palliative Stationen ausgebaut, neben den Intensivstationen.

Die Menschenwürde erhalten beim Sterben.

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Mein vorher hier noch stehender Kommentar bezog sich auf diejenigen Juristen, die sich davon leiten lassen:

Es sei fraglich, ob eine gesetzliche Regelung für die Grauzone zwischen aktiver und passiver Sterbehilfe und für menschliche Grenzsituationen sinnvoll sei. «Der Mensch gehört Gott, nicht sich selbst und auch keinem anderen, der über ihn verfügen kann», sagte Schneider zum Wunsch nach einem selbst gewählten Sterben. «Den Christ trägt die Hoffnung auf ein unzerstörbares Leben nach dem Tod.»

(Hervorhebung durch Fettung von mir)

Zitat aus:

https://www.pharmazeutische-zeitung.de/2014-07/groehe-gegen-jede-form-organisierter-sterbehilfe/

Gröhe ist Jurist, war Gesundheitsminister  und hintertrieb auch die Umsetzung eines Urteils des BVerfG, siehe:

https://www.haufe.de/recht/weitere-rechtsgebiete/strafrecht-oeffentl-recht/bverfg-hat-das-verbot-der-geschaeftsmaessigen-sterbehilfe-gekippt_204_510568.html

Vom Nachfolger Spahn ist mir bisher auch noch nichts anderes bekannt.

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Nun habe ich abgespeichert, wegen mangelnder Technik hier!

Aus Ihren nunmehr weiteren Überlegungen ist mir nicht nachvollziehbar, welches Urteil des BVerfG Herr Gröhe in der Umsetzung hintertrieben haben soll. Durch Vorbringen 2014 kann es das vom 26.2.2020 wohl nicht gwesen sein.

Da muss ich eine Korrektur vornehmen, es handelte sich um das Bundesverwaltungsgericht mit Urteil im März 2017 letztinstanzlich, siehe:

https://www.tagesspiegel.de/politik/leiden-von-schwerkranken-regierung-ignoriert-sterbehilfe-urteil/22928102.html

In der Sache dürfte diese Korrektur aber wenig ändern.

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Wir sind uns anscheinend in der Sache weitgehend einig. Das BVerfG stellt das Prinzip der Freiheit in den Vordergrund als einen Höchstrang. Das überzeugt (mich). Auch, soweit es um die Freiheit zur Selbsttötung geht. Jedenfalls sie straflos lässt - was seit 1871 wie auch nach 2015 durchaus der Fall ist. Nicht einmal die Beihilfe als solche ist strafbar, auch nicht seit 2015. Delikat ist die Sache der Verquickung mit Geld. Muss man etwa auch Organhandel , bezahlte Fremdaustragung, ggf, durch Ausländerinnen, erlauben? Bezahlte gewerbliche Adoptionsvermittlung? Vielleicht sollte man gewisse lebensbezogene Handlungen extra commercium stellen und lassen. Und was nun die Entscheidung vom 26.2.2020 angeht: Freiheit zu - nun ja. Aber auch "Recht auf", Leistungsrecht gegen den Staat?

Aus dem Gedächtnis zitiert, da als Kommentar nicht abgespeichert:

"Die Menschenwürde erhalten beim Sterben."

Das gefällt auch nicht allen Juristen, die wollen lieber selber Gott spielen.

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Aus aktuellem Anlass noch einmal deutlich gesagt: Dies ist hier ein sachliches Diskussionsforum zu der jeweilig vom Ausgangsbeitrag angesprochenen Frage.

Ich habe deshalb die Beiträge zu einer Diskussion über die faktische Aussetzung des Grundrechts auf Versammlungs- und Demonstrationsfreiheit hier unveröffentlicht gestellt. Es ist eine interessante Fragestellung, die aber nicht Thema meines strafrechtlichen Beitrags ist.

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