Und die Justiz feiert weiterhin Corona-Parties?

von Prof. Dr. Henning Ernst Müller, veröffentlicht am 19.03.2020
Rechtsgebiete: StrafrechtStrafverfahrensrechtCorona78|24309 Aufrufe

Wir alle sind aufgefordert, in dieser Situation soziale Kontakte zu meiden und nur noch für die allernötigsten Besorgungen außer Haus zu gehen. Mitarbeiter werden in Home-Office geschickt, alle Büroarbeiten sollen, wenn irgend möglich, digital erledigt werden. Die Universitäten und Schulen sind ohnehin längst geschlossen, der Unterricht soll ins Netz verlegt werden, Besprechungen und Teamsitzungen werden telefonisch oder per Skype abgewickelt.

Doch einige Menschen sind offenbar so gedankenlos und dreist, dass sie weiterhin trotz aller Aufforderungen, ihr Recht wahrnehmen sich zu versammeln und etwa in Parks gemeinsam zu feiern oder vor den leeren Stadien zu Hunderten zu treffen, um ihre Choreos aufzuführen und Pyros abzubrennen; Höhepunkt der Unvernunft: Man lädt zu "Corona-Parties" ein.  Politik und Behörden sind auch deshalb kurz davor, Ausgangssperren anzuordnen, wie sie in den Nachbarländern zum Teil schon gelten, weil die Aufforderungen zu freiwilliger Zurückhaltung offenbar bei manchen nicht fruchten.

Und die Justiz – zumindest einige Richter? Als seien Gerichtssäle, in denen sich für einige Stunden Personen aus ganz unterschiedlichen sozialen und geografischen Kreisen begegnen, von vornherein immun gegen Infektionsübertragung, gehen einige Richter – offenbar unbeeindruckt von den Nachrichten – vor, als sei alles „normal“: Statt auch die mündlichen Verhandlungen auf die nötigsten Fälle zu reduzieren, wird teilweise weiterhin ungerührt zu Terminen geladen, zu denen dann u.a. Verteidiger bundesweit anreisen sollen, wie mir aus dem Bekanntenkreis in dieser Woche berichtet wird.

Hier schreibt Martin Huff zur (bisher schläfrigen) Reaktion der Justiz. :

Nur die Justiz führt bisher ihren Geschäftsbetrieb fast normal weiter. Erst mit dem heutigen Montag gibt es die ersten Äußerungen dazu, wie es weiter gehen soll. Doch die Justiz und auch die Richterschaft sollten sich sehr schnell überlegen, ob die Corona-Krise nicht ganz andere Maßnahmen erfordert.

Huff gibt in dem Artikel durchaus Hinweise, wie man es organisieren könnte, ohne auf die Bearbeitung und Entscheidung dringender Sachen zu verzichten. Aber zu befürchten ist, dass die Justiz länger braucht als derzeit notwendig wäre, um solche Lösungen umzusetzen.

Heute schreibt mir ein Kollege, der selbst zur Risikogruppe gehört und deshalb als Verteidiger um Terminverlegung (in einer Nichthaftsache) bat, der Vorsitzende habe ernsthaft von ihm Glaubhaftmachung seines Risikostatus verlangt.

Bin ich mit meiner Empörung auf dem falschen Dampfer? Ich bitte um Kommentierung.

 

Update: Ich bin von Lesern (siehe unten) auf diesen Münchener Fall hingewiesen worden. Den hatte ich tatsächlich bislang übersehen

Update (24.03.): Inzwischen bekomme ich von überall die Nachricht, dass die Justiz inzwischen alle nicht unbedingt notwendigen Verhandlungen abgesagt und den öffentlichen Betrieb insgesamt stark heruntergefahren habe. Mein obiger Beitrag entspricht also nicht mehr der aktuellen Lage.

Update (09.04.): Bekomme immer noch bzw. wieder Meldungen, dass größere Hauptverhandlungen (gemessen an der Teilnehmerzahl) noch stattfinden, obwohl sie nicht einmal, wie der Loveparade-Prozess, kurz vor der absoluten Verjährung stehen. Zuletzt gemeldet aus Leipzig und Potsdam. Ich kann da nur den Kopf schütteln.

 

 

Diesen Beitrag per E-Mail weiterempfehlenDruckversion

Hinweise zur bestehenden Moderationspraxis
Kommentar schreiben

78 Kommentare

Kommentare als Feed abonnieren

Ich denke auch, dass dieselben Personen, die jetzt auf die Justiz draufhauen, weil sie noch Sitzungen durchführt, dieselben sind, die in wenigen Monaten die langsame Justiz beklagen.
Insbesondere der Autor des hiesigen Blogbeitrags ist mit Justizkritik schnell zur Hand. Positives über die Justiz hört man von ihm selten. Man fragt sich, woran das liegt.

0

Der Geschäftsführer einer Rechtsanwaltskammer und ein Strafrechtsprofessor plädieren für den weitgehenden Stillstand der Rechtspflege und verunglimpfen die richterliche Arbeit als "Corona-Party" - sie müssen die Kosten der Streitparteien in Zivilverfahren wegen der Verfahrensverzögerung und die Gemeinkosten der betroffenen (Klein-)Unternehmer ja nicht tragen. Sie müssen die überlaufenen Gerichtskörper auch nicht wieder runterarbeiten und für eine Beschleunigung der stillgelegten Verfahren sorgen. Sie dienen ja bereits mit warmen Ratschlägen.

Danke - für nichts.

Dank an die Richter aller Gerichtsbarkeiten, die versuchen, gegen alle Widerstände ihrer Pflicht nachzukommen. Sie handeln uneigennützig im Interesse der Bürger und der staatlichen Ordnung, wie es eines Rechtsstaats würdig wäre.

0

Es bleibt spannend wegen des Problems Ausgangssperre. Aus einer Abladung beim LG München weiß ich, dass die Kammer die Öffentlichkeit offenbar ab sofort nicht länger gewährt sieht. Haben die Hektiker in Staatskanzleien hieran gedacht?!

0

Sehr geehrter Herr Prof. Müller,

Ihre Ansicht ist völlig richtig, halten Sie den Kopf hoch und lassen Sie sich nicht irritieren. Ich hatte in den letzten Wochen bei Gericht auch sehr viel Angst, z.T. weil die Fenster nicht geöffnet werden konnten, Praktikanten und Besucher auf die gleiche Toilette (Stichwort Tröpfchen-Infektion), etc.

Alles Gute!

0

Ich finde in diesen Tagen vieles sinnvoll und richtig. Manches ist unverhältnismäßig. Es gibt immer noch Landkreise in Deutschland, die keinen oder nur sehr wenige nachgewiesene Fälle haben. Wenn dort Termine nicht verhandelt werden - trotz Einhaltung absoluter Sicherheitsmaßstäbe, Abstand, usw - so kann man darüber nachdenken, ob das in Ordnung ist. In Großstädten bzw. Großregionen ist eine Aufhebung von Terminen sicherlich sehr sinnvoll. 

Aber wie bekommen das dann Verantwortliche auch unangreifbar abgesichert, eingedenk der Tatsache, dass es Rechtsanwälte gibt, die ja  sonst jeden formalen Fehler rügten und eifrig auch Revisionen anzettelten?

0

In Parlamenten gab es mindestens schon ein Fraktionen-übergreifendes "Gentlemen´s-Agreement", auf die Feststellung der Beschlussfähigkeit vor einer Abstimmung zu verzichten, obwohl die wegen der Corona-Krise augenscheinlich und auch dokumentiert durch TV-Aufnahmen nicht gegeben war, das erlaubte die Geschäftsordnung des "Hohen Hauses".

Das jedoch kann m.E. die ganze Justiz mit allen "Organen der Rechtspflege" zusammen bei der StPO mit deren § 229 nicht genau so machen, ohne eine formale Änderung der StPO.

0

Eine Punktlandung hat gewiss die BRAK damit geschafft, dass just in diesen Tagen das BeA gestört ist.

Herr Dr. Peus, Sie als "Gedienter" können sich sicher auch noch die Lage vorstellen, wenn es nun durch eine fremde Macht auch noch zu einem flächendeckenden Angriff auf das ganze elektronische Kommunikationssystem der Bundesrepublik Deutschland käme. Das wäre der moderne totale Krieg, ohne eine einzigen Schuss abzugeben.

0

Heute nachmittag beratschlagen die Kanzlerin und die MPen, wie es weitergehen soll. Ich lehne mich mit einer Prognose aus dem Fenster: Die ostdeutschen MPen werden im wesentlichen der Meinung des herausragenden Rechtsphilosophen Heribert Prantl, geäußert in seinem epochalen Artikel "Maß halten", folgen, und keine nennenswerten Maßnahmen zur Eindämmung der Ausbreitung des Corona-Virus ergreifen. 

Ich kann mich nicht erinnern, dass irgend ein Politiker auch nur die leiseste Bemerkung zu den Corona-Parties gemacht hätte, die die Justiz nach wie vor gegen jede Vernunft feiert

Die fünf Anwälte, die letzte Woche den Terz beim LG München I veranstaltet haben nebst Strafanzeige und Dienstaufsichtsbeschwerde haben sich jedenfalls für die AZ ablichten lassen, wobei sie die 1,5 m Abstand offenbar aus fototechnischen Gründen nicht einhalten wollten. So viel zur Ernsthaftigkeit der subjektiv empfundenen Gefährdungslage...

0

Und das BVerfG mag immer noch nicht einstweilig anordnen:

https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2020/03/rk20200323_2bvr048320.html

0

Gast schrieb:

Und das BVerfG mag immer noch nicht einstweilig anordnen:

https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/202...

 

 

Ziemlich perfide Argumentation im Lichte der Verhältnismässigkeit von Kontaktsperren die Ast. damit abzuspeisen, man müsse konkret belegen, dass Schutzmassnahmen konkret gefährdend sein....

Ziemlich perfide Argumentation im Lichte der Verhältnismässigkeit von Kontaktsperren die Ast. damit abzuspeisen, man müsse konkret belegen, dass Schutzmassnahmen konkret gefährdend sein...

Diesen Satz verstehe ich nicht, auch nicht nach viermaligem Lesen und Vorlesen! Keiner verlangt zum Antragsteller die (völlig unsinnige) Darlegung, "dass Schutzmassnahmen konkret gefährdend sein"(?). Das Bundesverfassungsgericht verlangt nur, sich "mit der Vielzahl der vom Landgericht angebotenen Schutzvorkehrungen auseinander" zu setzen, was ja wohl nicht zu viel verlangt ist!

3

Das BVerfG hat sich sehr zurückgehalten. Es hätte auch -zutreffend- schreiben können, dass die Verfassungsbeschwerde kompletter Stuss ist, dass sie keinerlei substantiierte Begründung hat. Aber so ist es viel freundlicher...

4

Es gelten auch hier die allg. Regeln der Beck-Community. Auch wenn es mir schmeichelt, dass meine teilweise schon älteren Profilfotos von anderen Plattformen hierher verlinkt werden und man sich über mein Lebensalter austauscht, es gehört nicht zur Debatte. Sollte meine neuere Einschätzung (Update) aus Sicht der Kommentatoren nicht zutreffen, bitte ich um Beispiele dafür, dass trotz Ausgangsbeschränkungen weiterhin zu nicht unbedingt notwendigen Terminen geladen wird etc.
 

Wer hat die Definitionshoheit darüber, was a) notwendig  b) "unbedingt" notwendig sei? Wahrscheinlich die Politpropagandajournaille des Gutmenschentums. Gegen einen 93jährigen ehemaligen Lagerwachmann, dem KEINE (eigenhändige) Gewalttat gegen Leib oder gar Leben irgendeines Menschen vorgeworfen wird, der aber nach den Neomaßstäben  der hingefriemelten BGH-Judikatur herangezogen werden soll wegen (Beihilfe zu) MORD, ja, da soll etwas an fristwahrenden Schaudarbietungen "unbedingt notwendig" sein. 

Die LTO-Presseschau:

Corona – Arbeitsgerichte: Wegen dem erwarteten hohen Aufkommen von Kündigungsschutzklagen und den damit verbundenen kurzen Fristen plädieren die Präsidentin des Bundearbeitsgerichts Ingrid Schmidt und einige Landesarbeitsgerichte in einem Eckpunktepapier für den vermehrten Einsatz von Videokonferenztechnik an den Arbeitsgerichten aus. Wie die FAZ (Marcus Jung) ferner berichtet, werden innerhalb der Bundesregierung derzeit Anpassungen des Arbeitsgerichtsgesetzes (ArbGG) geprüft. § 46 Abs. 2 des ArbGG sieht bereits die Möglichkeit von Bild- und Tonübertragungen für Zivilprozesse vor.

Die LTO-Presseschau:

Corona – Online-Justiz: Über den Referentenentwurf des Bundesarbeitsministeriums zur Sicherung der Funktionsfähigkeit der Arbeits- und Sozialgerichtsbarkeit berichtet nun auch die FAZ (Marcus Jung). Der gesetzliche Rahmen für Videokonferenzen, der schon von den Zivilgerichten genutzt werde, solle auf die Arbeits- und Sozialgerichte ausgeweitet werden. Ausnahmsweise solle den Gerichten gestattet werden, die Öffentlichkeit aus Gründen des Gesundheitsschutzes auszuschließen.

Die LTO-Presseschau:

Corona – Virtuelle Gerichtsverhandlungen: Die FAZ (Marcus Jung) widmet sich dem von der Präsidentin des Bundesarbeitsgerichts Ingrid Schmidt mit den Landesarbeitsgerichten erarbeiteten Eckpunktepapier, das als Impuls dazu dienen soll, wie die Justiz wieder in den normalen Geschäftsbetrieb zurückversetzt werden kann. So rechne die Richterschaft mit einem starken Anstieg von Kündigungsschutzklagen. Arbeitsrichter sollen dem Vorschlag zufolge künftig via Video-Schalte nach Vorbild von § 128a Zivilprozessordnung mündlich verhandeln. Dazu solle das Arbeitsgerichtsgesetz geändert werden. Es drohe jedoch der weitgehende Ausschluss der Öffentlichkeit. Auch der Geschäftsführer des Deutschen Richterbundes Sven Rebehn meint, ein Ausweichen auf Online-Verhandlungen sei kurzfristig kaum umsetzbar, weil es noch an der erforderlichen Technik fehle. 

Im Gespräch mit lto.de (Tanja Podolski) nimmt die BAG-Präsidentin ausführlich Stellung zu dem Papier. Sie spricht von befristeten Änderungen des Prozessrechts, um die Situation in den Griff zu bekommen. Es müssten mehr Möglichkeiten für ein schriftliches Verfahren von Amts wegen geschaffen werden, um die mit der Teilnahme an einer mündlichen Verhandlung verbundene Infektionsgefahr zu verringern. In Bezug auf Verhandlungen per Videotechnik stehe das Gebot der Öffentlichkeit gegen den Justizgewährleistungsanspruch. Für eine befristete Zeit sei eine Ausnahme vom Grundsatz der Öffentlichkeit hinnehmbar. 

Bekomme immer noch bzw. wieder Meldungen, dass sogar größere Hauptverhandlungen (gemessen an der Teilnehmerzahl) noch stattfinden, obwohl sie nicht einmal, wie der Loveparade-Prozess, kurz vor der absoluten Verjährung stehen. Zuletzt gemeldet aus Leipzig und Potsdam. Ich kann da nur den Kopf schütteln.

Ohne Kenntnis der Einzelumstände (Haftsache? Wie viele Verhandlungstage sind schon gelaufen?) fällt es mir schwer, in das Kopfschütteln einzustimmen.

0

Legislative Gewalt, exekutive Gewalt, und judikative Gewalt, haben sich an der Ausübung ihrer Gewalt nicht oder kaum stören lassen durch die Corna-Warnungen.

Vielleicht liegen dort Informationen vor, daß die Corona-Viren entgegen dem Eindruck den der Bundesgesundheitsminister und das RKI und die meisten großen Mainstream-Medien vermittelten, doch nicht so gefährlich war.

Vielleicht war man aber in der Legislativen, Exekutiven und Judikativen auch beinahe süchtig nach der Ausübung der Gewalt und hielt sich und seine jeweilige Arbeit für derart unentbehrlich, daß man geneigt war Risiken in Kauf zu nehmen.

Was den Ausschlag gegeben hat, kann derzeit wohl noch nicht beurteilt werden.

Vielleicht wird es auch niemals unabhängig untersucht werden und erst recht nie öffentlich publiziert werden.

Vertrauensbildend ist eine solche Intransparenz jedoch nicht besonders.

0

Seiten

Kommentar hinzufügen