AG Weimar: Kontaktverbot als Maßnahme gegen die Verbreitung des COVID19-Virus ist verfassungswidrig

von Prof. Dr. Henning Ernst Müller, veröffentlicht am 24.01.2021
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Mit dem Urteil AG Weimar, Urteil vom 11.01.2021 - 6 OWi - 523 Js 202518/20

wurde der Teilnehmer an einer Geburtstagsfeier in Thüringen vom Vorwurf einer Ordnungswidrigkeit freigesprochen, denn das aufgrund der Infektionsschutznormen ausgesprochene Kontaktverbot in Thüringen sei verfassungswidrig.

Unstreitiger Sachverhalt:

„Am 24.04.2020 hielt sich der Betroffene in den Abendstunden zusammen mit mindestens sieben weiteren Personen im Hinterhof des Hauses X-Straße 1 in W. auf, um den Geburtstag eines der Beteiligten zu feiern. Die insgesamt acht Beteiligten verteilten sich auf sieben verschiedene Haushalte. (…)
Dieses Verhalten des Betroffenen verstieß gegen § 2 Abs. 1 und § 3 Abs. 1 der Dritten Thüringer Verordnung über erforderliche Maßnahmen zur Eindämmung der Ausbreitung des Coronavirus SARS-CoV-2 (3. ThürSARS-CoV-2-EindmaßnVO) vom 18.04.2020 in der Fassung vom 23.04.2020.“

1. Formell verfassungswidrig?

In einem ersten Schritt, welcher schon für sich allein entscheidungserheblich ist, argumentiert das AG:

„§ 2 Abs. 1 und § 3 Abs. 1 3. ThürSARS-CoV-2-EindmaßnVO sind aus formellen Gründen verfassungswidrig, da die tief in die Grundrechte eingreifenden Regelungen von der gesetzlichen Ermächtigungsgrundlage im Infektionsschutzgesetz nicht gedeckt sind.“

Die Kompetenz des AG, selbst über die Verfassungsgemäßheit untergesetzlicher Normen zu entscheiden, wird so begründet:

„Das Gericht hatte selbst über die Verfassungsmäßigkeit der Normen zu entscheiden, weil die Vorlagepflicht gem. Art. 100 Abs. 1 GG nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (grundlegend BVerfGE 1, 184 (195ff)) nur für förmliche Gesetze des Bundes und der Länder, nicht aber für nur materielle Gesetze wie Rechtsverordnungen gilt. Über deren Vereinbarkeit mit der Verfassung hat jedes Gericht selbst zu entscheiden.“

Das AG Weimar argumentiert nun, dass es für ein allg. Kontaktverbot, sich mit mehr als einer haushaltsfremden Person zu treffen, in § 28 IfSG aF keine Rechtsgrundlage gegeben habe.

Das ist – angesichts der gesetzgeberischen Entscheidung am 18.11.2020, das InfSG insofern zu konkretisieren – nicht nur eine gut vertretbare Auffassung des AG Weimar, sondern entspricht sogar einer verbreiteten Meinung, wie das Gericht feststellt:

„Dass § 28 IfSG hinsichtlich der tiefgreifenden Grundrechtseingriffe einschließlich eines Kontaktverbots durch die verschiedenen Corona-Verordnungen der Länder jedenfalls im Grundsatz nicht den Anforderungen der Wesentlichkeitsdoktrin genügt, ist in Rechtsprechung und Literatur inzwischen weitgehend Konsens.“

Das AG argumentiert nun aber auch, die Exekutive dürfe § 28 IfSG auch nicht (vorläufig) erweiternd auslegen angesichts der Gefahr eines neuartigen, durch Atemluft verbreiteten Virus mit potentiell tödlichen Folgen. Eine Bezugnahme auf die Generalklausel, um ein Kontaktverbot als präventive Maßnahme zu verordnen, scheide aus:

„Soweit eingriffsintensive Maßnahmen, die an sich einer besonderen Regelung bedürften, unter Rückgriff auf Generalklauseln nur im Rahmen "unvorhergesehener Entwicklungen" zulässig sein sollen, ist diese Voraussetzung vorliegend nicht erfüllt.“

Weil die Exekutive nämlich schon seit 2013 über die potentiellen Gefahren einer solchen Pandemie informiert gewesen sei, könne sie sich auf eine „unvorhergesehene Entwicklung“ nicht berufen. Das ist tatsächlich ein gewichtiges Argument in der politischen Debatte um die Fehler der Exekutive bei der Pandemieprävention. Aber ob die abstrakte vormalige Bekanntheit einer bestimmten Gefährdung im Bundestag tatsächlich geeignet ist, den aktuellen (Landes-)Verordnungsgeber zu binden, daran wage ich zu zweifeln. Auch die abstrakte Gefahr von Meteoriteneinschlägen ist seit Langem bekannt, dennoch wird man rechtlich kaum argumentieren können, der Verordnungsgeber sei abschließend formell gehindert, konkrete Gefahren abzuwenden, die durch einen Meteoriteneinschlag akut entstehen.

Das Gerichts selbst meint auch, „gewichtiger“ für seine Entscheidung sei, dass am 18.04., dem Tag, als die thüringische Verordnung in Kraft getreten sei, keine epidemische Lage von nationaler Tragweite (mehr) bestanden habe, die ein Kontaktverbot legitimiert hätte.

Hierzu wiederum setzt das AG Weimar seine eigene empirische Überprüfung und Bewertung an die Stelle derjenigen der Landesregierung, der Bundesregierung und der Einschätzung des RKI , im Fazit:

„Da nach allem keine Situation bestand, die ohne einschneidende Maßnahmen zu "unvertretbaren Schutzlücken" geführt hätte, sind § 2 Abs. 1 und § 3 Abs. 1 3. ThürSARS-CoV-2-EindmaßnVO auch wenn man der Rechtsauffassung folgt, dass in einer solchen Situation ein Rückgriff auf Generalklauseln verfassungsgemäß ist, wegen Verstoßes gegen die Anforderungen der Wesentlichkeitslehre verfassungswidrig.“

Zentral ist dabei das Argument des AG, die Neuinfektionszahlen seien bereits am Tag des Inkrafttretens der betr. Regelung und sogar schon zu Beginn des Lockdowns Mitte März rückläufig gewesen.

Richtig daran ist, dass die gemessenen Neuinfektionszahlen wegen der Abhängigkeit von der Testhäufigkeit kein sicheres Anzeichen für die jeweils aktuelle Verbreitung des Virus, insbesondere im nicht getesteten Dunkelfeld, sind. Das ist dieselbe Einsicht, die schon meinen Beitrag hier im Blog veranlasste. Aber das AG Weimar macht dann denselben m. E. fehlerhaften Schritt, den auch Kuhbandner in dem vom Gericht zitierten Artikel macht (siehe schon meinen Beitrag vom 29.03. und das dortige Update vom 9.5.2020): Man kann nicht einerseits (richtig) die relative Unzuverlässigkeit der Neuinfektionszahlen konstatieren, dann aber aus denselben Zahlen das Gegenteil erschließen. Praktisch dieselben Daten werden dann aufgrund ihrer Testunsicherheit einerseits als unzuverlässig verworfen, dann aber als Beleg dafür angeführt, die Infektionslage sei zu einem bestimmten Datum (bereits) rückläufig gewesen. Ein Dunkelfeld ist ein Dunkelfeld und aus nicht repräsentativen örtlich und zeitlich wechselnd ermittelten Hellfeldzahlen allein lässt sich weder in die eine noch die andere Richtung auf die Größe und Entwicklung des Dunkelfelds schließen. Ein Trend lässt sich allenfalls dann daraus ablesen, wenn die Hellfeldzahlen auf dieselbe Art und Weise ermittelt wurden, was aber hinsichtlich der Testzahlen im Frühjahr und auch jetzt noch, nicht gegeben ist.

In der Pandemie kann man zwar im Nachhinein ermitteln, welche der vorherigen tatsächlichen Annahmen zutrafen und welche nicht, aber man kann in der gegebenen Situation nur mit denjenigen empirischen Daten und Erkenntnissen argumentieren, die den Entscheidungsbefugten zum selben Zeitpunkt zur Verfügung standen.

Es überzeugt daher nicht, wenn die eigene richterlich gewonnene Expertise aus der Auswertung der Publikationen von als skeptisch bekannten Wissenschaftlern derjenigen entgegengesetzt wird, die die Exekutive zu ihren Entscheidungen veranlasst hat. Dies gilt insbesondere, wenn der Richter die eigenen zitierten Quellen nicht ebenso kritisch würdigt wie diejenige wissenschaftliche Seite, auf die sich die Exekutive berufen hat.

Das Gericht hat hier ohnehin nur eine beschränkte Überprüfungskompetenz: Es wäre also zu fragen, ob die thüringische Exekutive, zu dem Zeitpunkt, als sie das Kontaktverbot erließ, sich NICHT von den empirischen Anhaltspunkten für eine epidemische Notlage hätte leiten lassen DÜRFEN. Nicht erheblich ist es hingegen, ob dieser Einschätzung von einigen Wissenschaftlern widersprochen wurde, noch weniger, ob diese Einschätzung HEUTE noch als richtig angesehen wird. Sofern die Exekutive sich also (vertretbar) von der wissenschaftliche Expertise leiten ließ, es bestehe eine gravierende Lage, muss die richterliche Kontrolle diese Expertise zugrunde legen und darf (Ausnahme: offenkundiger Missbrauch oder Willkür) nicht seine eigene aus gegenläufigen Publikationen gewonnene an deren Stelle setzen.

In diesem Punkt kann also der Entscheidung des AG Weimar nicht gefolgt werden.

Dennoch denke ich, dass der Freispruch im konkreten Fall durchaus vertretbar war, denn in den zwei Monaten, die der thüringischen Verordnung voraus gingen, hätte schon genügend Zeit bestanden,  § 28 InfSchG so zu gestalten, wie es dann erst im November geschehen ist. Das Infektionsschutzgesetz inkl. Generalklausel war also damals (!) auch meiner Meinung nach keine hinreichende Ermächtigungsgrundlage für die Verordnung, auf der der Bußgeldbescheid beruht.
(Satz geändert aufgrund Hinweis eines Lesers, danke für den Hinweis, Diskussion unten) 

2. Materiell verfassungswidrig?

Einmal einen Zipfel des Tischtuchs ergriffen, geht der Weimarer Amtsrichter nun daran, die ganze Tafel abzuräumen. Das Kontaktverbot sei nämlich nicht nur formell, sondern auch materiell verfassungswidrig. Damit wird nun unter anderem auch die jetzige Regelung des InfSchG selbst angegriffen, obwohl es dazu keinen rechtlichen Anlass gibt, denn diese Regelung galt ja noch gar nicht, als die Ordnungswidrigkeit begangen wurde. Sofern sich das (damalige) Kontaktverbot innerhalb der Ermächtigungsgrundlage des heutigen InfSchG bewegen würde, kann von materieller Verfassungswidrigkeit kaum gesprochen werden, ohne zugleich die Ermächtigungsgrundlage selbst in Zweifel zu ziehen. Diese Teile der Argumentation sind m.E. deshalb als nicht entscheidungserhebliches obiter dictum zu betrachten.

Zur angeblichen materiellen Verfassungswidrigkeit wird mit zwei Gründen argumentiert, nämlich erstens, das Kontaktverbot stelle einen Verstoß gegen die Menschenwürde Art. 1 GG dar, da es – kurz gefasst – Menschen generell als infektionsverdächtig und damit als Objekte betrachte. Ich halte diese Einschätzung des AG Weimar für unzutreffend, aber stelle dies gern einmal zur Diskussion.

Der zweite Grund, der hier angeführt wird, ist, dass ein solches Kontaktverbot materiell unverhältnismäßig sei. Auch hier werden durchaus zutreffend einige Dinge angeführt, die bei einer Abwägung zu berücksichtigen sind und möglicherweise vom Verordnungsgeber unzureichend berücksichtigt wurden/werden. Zunächst läuft die Argumentation des Amtsrichters wiederum darauf hinaus, dass zum Zeitpunkt der Verordnung des Kontaktverbots die Zahlen schon soweit rückläufig gewesen seien, dass man eine dringliche Gefährdung des Gesundheitssystems in der Frühjahrswelle bereits ausschließen konnte. Dieses Argument passt immerhin inhaltlich, sofern es sich auf die konkret zur Rede stehende Regelung bezieht. Aber das Gericht entfernt sich gegen Ende der Entscheidungsbegründung endgültig vom konkreten Verfahrensziel, indem nicht mehr nur das thüringische Kontaktverbot, sondern die staatlichen Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie viel umfassender als unverhältnismäßig beurteilt werden. Dazu wird dann mit den schon landläufig bekannten Behauptungen der Coronaskeptiker argumentiert. Hier sollte man der Argumentation des AG Weimar genauso viel (oder wenig) Gewicht einräumen wie anderen weniger wissenschaftlichen bzw unwissenschaftlichen Äußerungen in dieser Debatte – es ist schlicht ein Debattenbeitrag eines Amtsrichters aus Weimar.  

3. Die ganze Coronapolitik katastrophal falsch?

Sehr wenig an Überzeugungskraft bleibt übrig, wenn die Behauptungen des  Gerichts schließlich in ein faktisch unangemessenes Fazit münden, das offenkundig völlig unbeeindruckt ist von der derzeitigen (Winter 2020/21) Pandemielage in Deutschland und weltweit:

„Nach dem Gesagten kann kein Zweifel daran bestehen, dass allein die Zahl der Todesfälle, die auf die Maßnahmen der Lockdown-Politik zurückzuführen sind, die Zahl der durch den Lockdown verhinderten Todesfälle um ein Vielfaches übersteigt. Schon aus diesem Grund genügen die hier zu beurteilenden Normen nicht dem Verhältnismäßigkeitsgebot. Hinzu kommen die unmittelbaren und mittelbaren Freiheitseinschränkungen, die gigantischen finanziellen Schäden, die immensen gesundheitlichen und die ideellen Schäden.“

Hiermit wird schlichtweg kontrafaktisch abgestritten , dass es die Pandemie sei, die diese Schäden potentiell oder real verursacht. Es wird ignoriert, dass Entscheidungen gerade zur Prävention getroffen werden und ihr Erfolg (Minimierung der Todesfälle) wird dann als Gegenargument ("war gar keine Pandemielage") in Anspruch genommen.  Es werden weder die direkt durch die Maßnahmen verhinderten Todesfälle noch die indirekten positiven Folgen der Maßnahmen in Rechnung gestellt, noch wird geprüft, wie viele der immensen wirtschaftlichen Schäden (in einer Exportwirtschaft) gar nicht auf die konkreten thüringischen bzw. bundesdeutschen Maßnahmen zurückzuführen sind, sondern auf die weltweite Verbreitung des Virus. Und es wird eine Tatsache behauptet (vielfach erhöhte Todesfallanzahl), für die es außerhalb der Corona-Verschwörer-Szene keinen Beleg gibt.  Das alles gehört m.E. nicht in ein Urteil.

(Hinweis: Im letzten Absatz stand ursprünglich "hiermit wird schlichtweg geleugnet..." Aus Gründen der Diskussionskultur habe ich "geleugnet" ersetzt durch "kontrafaktisch abgestritten", 27.01., 13.15 Uhr, sorry, dass ich das Wort "leugnen" politisch inkorrekt verwendet habe.)

 

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79 Kommentare

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Es gibt ein Virus und es gibt zahlreiche Patienten auf den Intensivstationen, die am Virus erkrankt waren und schwere Symptome aufwiesen. Ich verstehe deshalb nicht was sie sagen wollen. Meinen Sie es gibt keine Pandemie oder die Infektionszaheln wären auch ohne Maßnahmen zurückgegangen? 

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Geh mal auf

www.intensivregister.de

auf "Aktuelle Lage" und "Zeitreihen", und schau Dir die dritte Graphik an.

Dort siehst Du eine Welle mit ca. 5.000 positiv getesteten Patienten auf den Internsivstationen.

Diese Welle siehst Du aber oben bei der Gesamtbelegung nicht. Hätten wir es mit einem neuartigen tödlichen Virus zu tun, dann müßten diese Patienten zusätzlich hinzugekommen sein, wir hätten ca. 25.000 statt 20.000 Patienten.

Dem ist aber nicht so. Die Gesamtbelegung bleibt gleich, es sind also genau diejenigen Patienten auf der Intensivstation, die schon aus anderen Gründen dort sind.

Es mag ein Virus geben, der sich gerade ausbreitet, aber dieser Virus bringt die Menschen nicht auf die Intensivstation.

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Ja, MariaTh, man wird immer ein vermeintlich passendes Witzchen finden, um sich die Situation schön zu reden oder den sprichwörtlichen "Elefanten" im Raum ignorieren zu können.

Hier nochmal Watzlawick:

“The belief that one’s own view of reality is the only reality is the most dangerous of all delusions.”
 
  Ich versuche, dieser Wahnvorstellung zu entkommen, weiß aber, dass das nur begrenzt möglich ist. 

Ich denke, hier liegt ein Irrtum vor:

"Die Generalklausel war also auch meiner Meinung nach keine hinreichende Ermächtigungsgrundlage für die Verordnung, auf der der Bußgeldbescheid beruht."

Das ist so m.E. nicht korrekt, und auch nach Meinung des Richters im hier diskutierten Urteil ist die Rechtsgrundlage formal korrekt vorhanden, und es muß eben NICHT auf die Generalklausel zurückgegriffen werden:

"Rechtsgrundlage für das hier zur Rede stehende sog. allgemeine Kontaktverbot ist § 32 IfSG i. V. m. § 28 Abs. 1 Satz 2 IfSG in der Fassung vom 27.03.2020. Auf die Generalklausel des § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG muss insoweit nicht zurückgegriffen werden (vgl. Kießling/Kießling IfSG, § 28 Rn. 35, 44)."

Jedoch sei dies "aber keine den Anforderungen der Wesentlichkeitslehre genügende Ermächtigungsgrundlage".
Die Begründung wird dann wiederum auch diesbezüglich nicht gegeben, das Argument selbst schließlich gar verworfen:

"Es kann hier dahinstehen, ob die damit vorgenommene Relativierung der Geltung der Wesentlichkeitslehre mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts in Einklang zu bringen ist..."

Und so bleibt: Nichts, außer in sich widersprüchlichem Geschwurbel.

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Sehr geehrter Logiker,

ich habe, um meinen Beitrag nicht ausufern zu lassen, die Argumentation des Urteils etwas gekürzt. Im ersten Teil der Begründung (Rn. 18 bis 22) prüft das AG Weimar die von ihnen angegebene konkrete Rechtsgrundlage, kommt aber zum Schluss, dass die nicht hinreicht. Wenn es hierzu am Anfang heißt, auf die Generalklausel "muss insoweit nicht zurückgegriffen werden" , dann heißt das im Urteil tatsächlich nur "INSOWEIT" (= gültig für das an dieser Stelle Ausgeführte).

Nachdem es die konkrete Ermächtigungsgrundlage aber nicht für hinreichend hielt für ein allg. Kontaktverbot, prüft das AG Weimar im Weiteren (ab Rn. 23) dann, ob nicht die Generalklausel als Ermächtigungsgrundlage greifen könnte, was dann ebenfalls abgelehnt wird (mit den Argumenten, die ich im Beitrag diskutiert habe).

Besten Gruß

Henning Ernst Müller

Da kann ich Ihnen ganz und gar nicht zustimmen.

"Insoweit" bezieht sich doch klar auf "für das hier zur Rede stehende sog. allgemeine Kontaktverbot", also die Rechtsgrundlage des hier verhandelten Falls, auf was auch sonst?

Er zitiert dann korrekt in RN 20 § 28 Abs. 1 S. 2 IfSG:
"Unter den Voraussetzungen von Satz 1 kann die zuständige Behörde Veranstaltungen oder sonstige Ansammlungen von Menschen beschränken oder verbieten"

und erläutert explizit und korrekt in RN 21:
"Da unter "Ansammlungen von Menschen" Personenmehrheiten von mindestens drei Personen mit einem inneren Bezug oder einer äußeren Verklammerung zu verstehen sind (Kießling, aaO, Rn. 38f), ^^^lassen sich § 2 Abs. 1 und das Ansammlungsverbot des § 3 Abs. 1 3. ThürSARS-CoV-2-EindmaßnVO zwar unter den Wortlaut von § 28 Abs. 1 S. 2 IfSG subsumieren,^^^"

kritisiert jedoch *die Ermächtigungsgrundlage selbst* (!) als nicht den "Anforderungen der Wesentlichkeitslehre genügend":

"für eine eingriffsintensive Maßnahme wie ein allgemeines Kontaktverbot ^^^ist § 28 Abs. 1 S. 2 IfSG [sic!] aber keine den Anforderungen der Wesentlichkeitslehre genügende Ermächtigungsgrundlage^^^."

(Daß er in RN 16 gezielt verdrehte, wird den verstehenden Leser spätestens hier nicht mehr nicht täuschen.)

In RN 23 geht es darum mit der "Wesentlichkeitslehre" bezüglich des § 28 IfSG (!) weiter und endet in RN 25 mit:

"Es kann hier dahinstehen, ob die damit vorgenommene Relativierung der Geltung der Wesentlichkeitslehre mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts in Einklang zu bringen ist..."

In der Tat, denn für § 28 IfSG gilt ja Rn 14:
"..., weil die Vorlagepflicht gem. Art. 100 Abs. 1 GG nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (grundlegend BVerfGE 1, 184 (195ff)) [nur] für förmliche Gesetze des Bundes und der Länder, ..."

Und drum kommt er also in RN 27 ff endlich zu
"Argument ist gewichtiger"...
Also das, was Sie als "ober dictum" bezeichnen.

Es ist nichts als Geschwurbel, alles.

Nur abschließend als Zugabe:

Daß der Einschub bei RN 23 "einschließlich eines Kontaktverbots" bewußt (und falsch) ist, dürfte dem Autor des Urteils, der sich mehrfach auf das Verfassungsblog bezieht, wohl klar sein.
Er kennt sicher diesen Passus, auf den er sich nicht explizit, aber inhaltlich, in seiner RN 21 völlig korrekt bezog:

"Ausreichende Rechtsgrundlage vorhanden?

Im Vergleich zu ausgangsbeschränkenden Regelungen kommt ein weiterer Vorzug von Kontaktverboten hinzu: Während für erstere das Bestehen einer Ermächtigungsgrundlage mit guten Gründen bezweifelt wird (vgl. hier, hier und – weniger zweifelnd – hier; für eine Grundlage im Katastrophenschutzrecht aber hier), kann für Kontaktverbote im Sinne eines Zusammenkunftsverbots wohl auf § 28 Abs. 1 Satz 2 Halbsatz 1 IfSG zurückgegriffen werden. Die Regelung ermöglicht es den zuständigen Behörden, Veranstaltungen oder sonstige Ansammlungen einer größeren Anzahl von Menschen zu beschränken oder zu verbieten. Problematisch bleibt allerdings das Tatbestandsmerkmal der „größeren Anzahl“ an Menschen. Nach den Gesetzgebungsmaterialien sollte mit der Regelung sichergestellt werden, dass „alle Zusammenkünfte von Menschen, die eine Verbreitung von Krankheitserregern begünstigen, erfasst werden“ (BT-Drs. 14/2530, S. 75). Das schließt auch kleinere Personenansammlungen ein. Auch bei einer großzügigen Normauslegung dürfte das Tatbestandsmerkmal nach dem allgemeinen Sprachgebrauch aber jedenfalls nur auf Ansammlungen von mehr als zwei Personen zugeschnitten sein."
https://verfassungsblog.de/allein-im-oeffentlichen-raum/

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Hoppala, Herr Prof. Müller,
jetzt haben Sie Ihren Satz im Beitrag ohne jeden Transparenzhinweis oder eine Antwort an mich geändert,
von:

"Die Generalklausel war also auch meiner Meinung nach keine hinreichende Ermächtigungsgrundlage für die Verordnung, auf der der Bußgeldbescheid beruht."

in:

"Das Infektionsschutzgesetz inkl. Generalklausel war also damals (!) auch meiner Meinung nach keine hinreichende Ermächtigungsgrundlage für die Verordnung, auf der der Bußgeldbescheid beruht."

Sorry, das macht die Sache nicht besser, sondern schlimmer.

Sie meinen also, das Kontaktverbot (Verordnung) läßt sich zwar "unter den Wortlaut von § 28 Abs. 1 S. 2 IfSG subsumieren", sei damit also völlig korrekt die "Rechtsgrundlage", - so ja auch das Urteil -, das IfSG insgesamt, inkl. § 28 IfSG und darin inkl. eines also gar nicht anzuwendenden Satzes (§ 28 Abs. 1 S. 1 IfSG Generalklausel) sei jedoch trotzdem keine "hinreichende Ermächtigungsgrundlage"?

Sie mögen weiterhin gemeinsam mit dem Richter am AG Weimar bemängeln, es "hätte schon genügend Zeit bestanden,  § 28 InfSchG" umzugestalten.
Diese Kritik betrifft aber
1. § 28 IfSG (und damit Art. 100 Abs. 1 GG), und das
2. für diesen Fall schlicht unzutreffend!

Denn das Kontaktverbot der Verordnung war ja sogar nach Ansicht des Richters am AG Weimar bereits damals (!) korrekte Rechtsgrundlage und damit Ermächtigungsgundlage, weil bereits konkret unter § 28 Abs. 1 S. 2 IfSG subsumierbar.
Die Umgestaltung betraf entsprechend auch nur die Spezifizierung der Generalklausel in § 28 Abs. 1 S. 1 IfSG, die hier eben KEINE Rolle spielt.

Es wurde lediglich Satz 1 (Generalklausel) des § 28 Abs. 1 erweitert um:
"insbesondere die in § 28a Absatz 1 und in [...genannten]",
Satz 2, unter den schon damals (!) korrekt subsumiert werden konnte, wurde nicht verändert.

Ihre stille Änderung zum noch Schlechteren zeigt mir, daß ich es nunmehr bei diesen Hinweisen belassen sollte, nicht ohne die Hoffnung auf eine zukünftig bessere Fehlerkultur Ihrerseits.

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Sorry für den Fehler (Intransparente Änderung, um Missverständnisse auszuräumen)

Im Unterschied zu Ihnen sehe ich aber, dass das AG Weimar (hilfsweise) prüft, ob die Verordnung nicht auch/daneben auf die Generalklausel gestützt werden könnte; jedenfalls argumentiert der Amtsrichter dagegen. Damit habe ich mich auseinandergesetzt. Ich erkenne Ihre Sichtweise durchaus an und denke, dass wir im Ergebnis nicht sehr weit auseinanderliegen.

Zum Stichwort "Beweislast":

Es ist sicher richtig, dass die Verwendung dieses Begriffes in seinem prozessualen Sinn hier nicht weiterhilft. Er ist allerdings geeignet, den Blick auf die Pflicht zur Rechtfertigung grundrechtseinschränkender Maßnahmen zu richten. Weiterführend in dieser Hinsicht können z.B. die Ausführungen von Nedden-Boeger1 in einem Gastbeitrag für das Handels­blatt2 vom 27.04.2020 sein:

Schon die in der politischen Diskussion stets gebrauchte Diktion (sog. Lockerungen3) mute eher merkwürdig an, denn sie verdrehe den verfassungsrechtlichen Maßstab. Nicht „Lockerungen“ bedürften einer Beratung und Einigung, sondern im Gegenteil bedürfe die Aufrechterhaltung der Grundrechtsbeschränkungen einer stetig erneuerten verfassungsrechtlichen Legitimation4, vermittelt durch regelmäßige Vergewisserung in kurzen Abständen darüber, ob und in welchem Umfang die Maßnahmen noch geeignet, erforderlich und verhältnismäßig sind. Mit jeder (zeitlichen) Ausdehnung der Freiheitsbeschränkungen wüchsen die rechtlichen Anforderungen an deren Begründung, schon weil die Schäden und Nachteile dynamisch anwachsen.

Die derzeit vollzogenen Grundrechtseingriffe seien gerade keine „neue Normalität“, sondern ein fortlaufend rechtfertigungsbedürftiger Ausnahmezustand. Es stehe nicht im Belieben der Exekutive, sondern sei deren verfassungsrechtliche Pflicht, den Prozess laufend nachzusteuern und alle Maßnahmen zeitnah auf das jeweils Notwendige zu beschränken. Daher werde es wird immer dringender, die Zielvorstellungen und Abwägungsprozesse transparent zu kommunizieren. Eine Themenbeschränkung auf sog. Lockerungen und deren zögerliche Prüfung werde deshalb aus rechtlichem Blickwinkel schnell zu einem Vergewisserungs-, Abwägungs- und Begründungsmangel.5

In diese Richtung weist auch ein Beschluss des Verfassungsgerichtshofs des Saarlandes vom 28.04.20206, der sich u.a. auf folgende Erwägungen stützt, die über die besonderen Umstände des entschiedenen Einzelfalles hinausgehen:

Eingriffe in das Grundrecht der Freiheit der Person bedürfen einer begleitenden Rechtfertigungskontrolle. Je länger sie wirken, desto höher müssen die Anforderungen an ihre Begründung und an ihre Kohärenz mit anderen Regelungen des Zusammentreffens von Menschen sein. Die Ausübung eines Grundrechts ist nicht rechtfertigungsbedürftig. Vielmehr bedarf seine Einschränkung der Rechtfertigung, die zwischen der Tiefe des Eingriffs einerseits und dem Ausmaß und der Wahrscheinlichkeit der drohenden Gefahr, zu deren Abwendung die Einschränkung erfolgt, nachvollziehbar abwägen muss. Der Exekutive kommt bei ihrer Gefahrenprognose ein grundsätzlich weiter Einschätzungsspielraum zu. Mit zunehmender Dauer der Grundrechtsbeschränkung bedarf es indessen einer immer tragfähigeren tatsachengestützten Begründung von Risiken, die durch eine Aufhebung der konkreten Form der Ausgangsbeschränkung befürchtet werden. Reine Vermutungen genügen dazu ebenso wenig wie die Feststellung, dass sich weiterhin Neuinfektionen ereignen.

„Der damit7 erzielte Gewinn an Gesundheitsschutz ist nicht nachvollziehbar dargelegt. Absolute Zahlen einer Zunahme von Infektionen mit dem Sars-Cov2- Virus belegen nichts außer der Zunahme selbst. Sie sind – so dramatisch und tragisch Krankheitsverläufe im Einzelfall sind und so furchtbar der Tod eines jeden kranken Menschen ist und, vor allem, so wichtig der Schutz der behandelnden medizinischen und pflegerischen Kräfte ist – aussageleer. Steigt die Zahl der Infizierten, kann das auf vielerlei Gründen beruhen: Die Zahl der Infizierten und Kranken wird von den Gesundheitsbehörden derzeit in kein Verhältnis zur Zahl der Getesteten und Nichtgetesteten gesetzt. Die Zahl der Verstorbenen lässt nicht erkennen, ob Menschen an der Virusinfektion oder gelegentlich der Virusinfektion verstorben sind.“8

Insbesondere angesichts des letzten Satzes des Zitats sei noch auf eine Feststellung des RKI aus dem Infektionsepidemiologischen Jahrbuch meldepflichtiger Krankheiten für 2018; Datenstand: 1. März 2019 verwiesen: „Wie bei den meisten Infektionskrankheiten ist ein kausaler Zusammenhang zwischen Influenza-Infektion und Tod nicht immer eindeutig.“9


1 Nedden-Boeger ist Richter des Verfassungsgerichtshofs für das Land Nordrhein-Westfalen.

2https://www.handelsblatt.com/meinung/gastbeitraege/gastkommentar-ueber-einschraenkungen-der-grundrechte-muessen-gerichte-entscheiden/25774894.html

3Der Begriff findet sich insbesondere im Strafvollzugsrecht wieder; vgl. § 11 StVG

4Unter Verweis auf die bereits zitierte Entscheidung des BVerfG vom 10.04.2020; 1 BvQ 28/20 – Rdn. 14

5 Nedden-Boeger a.a.O.

6Lv 7/20

7Das Verlassen der eigenen Wohnung war im Saarland nur bei Vorliegen triftiger Gründe erlaubt.

8a.a.O.; S. 15

9https://www.rki.de/DE/Content/Infekt/Jahrbuch/Jahrbuch_2018.pdf?__blob=publicationFile

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"Die Landesregierungen werden ermächtigt, unter den Voraussetzungen, die für Maßnahmen nach den §§ 28 bis 31 maßgebend sind, auch durch Rechtsverordnungen entsprechende Gebote und Verbote zur Bekämpfung übertragbarer Krankheiten zu erlassen" (§ 32 Abs. 1 S.1). "[...] so trifft die zuständige Behörde die notwendigen Schutzmaßnahmen, insbesondere die in den §§ 29 bis 31 genannten, soweit und solange es zur Verhinderung der Verbreitung übertragbarer Krankheiten erforderlich ist. Unter den Voraussetzungen von Satz 1 kann die zuständige Behörde Veranstaltungen oder sonstige Ansammlungen von Menschen beschränken" (§ 28 Abs. 1 und 2 IfSG a.F.).

"Während der Zweck und gerade noch der Inhalt – zumindest in seinen groben Umrissen – möglicher landesrechtlicher Rechtsverordnungen zur Infektionsabwehr sich noch aus der Zusammenschau von § 32 IfSG und den in dessen Satz 1 in Bezug genommenen Vorschriften der §§ 28 bis 31 IfSG bestimmen lässt, ist das Ausmaß etwaiger Verordnungsregelungen nicht mehr hinreichend bestimmt vorgegeben. So lässt § 32 Satz 1 IfSG als Zweck noch erkennen, dass das Ziel die Bekämpfung übertragbarer Krankheiten ist, und auch die möglichen Inhalte – nämlich die Normierung von solchen Geboten und Verboten, die auch als Einzelmaß-nahmen nach den §§ 28 bis 31 IfSG zulässig wären – können im Rahmen einer systematischen Normzusammenschau gerade noch ermittelt werden" (Arne Pautsch und  Volker M. Haug, NJ 7/2020, S. 283).

Problematisch ist nach Pautsch und Haug nicht Bestimmbarkeit nach Zweck und Inhalt, sondern bezüglich des Ausmaßes, und zwar unter Berücksichtigung der "Programmformel" und der "Vorhersehbarkeitsformel".

https://www.neue-justiz.nomos.de/fileadmin/neue-justiz/doc/2020/Aufsatz_NJ_2020_07.pdf

Programmformel BVerfGE 5, 71 (77):
"Schließlich läßt sich nicht feststellen, welchen Zweck die Bundesregierung bei der von ihr zu treffenden Regelung verfolgen soll; denn das Gesetz gibt weder an, noch läßt sich aus ihm ermitteln, welches vom Gesetzgeber gesetzte "Programm" durch die Verordnung erreicht werden soll (vgl. Wolff, AöR Bd. 78, S. 194 [197])."

Vorhersehbarkeitsformel BVerfGE 1, 14 (59):
"Ob die Ermächtigung zum Erlaß von Verordnungen nach Inhalt, Zweck und Ausmaß hinreichend begrenzt ist, läßt sich nur von Fall zu Fall entscheiden. Jedenfalls fehlt es dann an der nötigen Beschränkung, wenn die Ermächtigung so unbestimmt ist, daß nicht mehr vorausgesehen werden kann, in welchen Fällen und mit welcher Tendenz von ihr Gebrauch gemacht werden wird und welchen Inhalt die auf Grund der Ermächtigung erlassenen Verordnungen haben können."

Der Verordnungsgeber wird nach §§ 32 i.V.m. 28 Abs. 1 und 2 IfSG ermächtigt, Veranstaltungen oder sonstige Ansammlungen von Menschen zu beschränken. Ist es etwa danach nicht vorhersehbar gewesen, dass die 3. ThürSARS-CoV-2-EindmaßnVO vom 18.04.2020 in § 3 Abs. 1 wie folgt gefasst wird: "Veranstaltungen, Versammlungen im Sinne des § 1 des Versammlungsgesetzes in der Fassung vom 15. November 1978 (BGBl. I S. 1789) in der jeweils geltenden Fassung, Demonstrationen, Ansammlungen und sonstige Zusammenkünfte mit mehr als zwei Personen sind verboten mit der Ausnahme, dass es sich um Angehörige des eigenen Haushalts handelt und zusätzlich höchstens eine haushaltsfremde Person hinzukommt"?

Jedenfalls wird in dem Urteil des AG Weimar weder die Vorhersehbarkeitsformel noch die Programmformel bezgl. Inhalt, Zweck und Ausmaß geprüft.

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Sehr geehrter Herr Prof. Müller,

können Sie mir einen Gefallen tun und folgende simple Frage beantworten:

Wie kommen Sie darauf, dass die Verordnung (und in der Folge für mich viel interessanter: der Lockdown) nicht materiell verfassungswidrig sein soll, wenn feststeht, dass der Lockdown keine (signifikante) Auswirkung auf die Fallzahlen hatte (siehe: https://onlinelibrary.wiley.com/doi/10.1111/eci.13484, Metastudie - Heranziehung aller relevanten Studien - P.Ioannidis, renommierter Medizinstatistiker)?

Wo ist mein Denkfehler? Was braucht es noch um eine materielle Verfassungswidrigkeit annehmen zu dürfen? Weitere Evidenz? Wo ist die Grenze? Haben Sie vielleicht eine dieser widersprechenden Studie zur Hand? Das BayVGH hat bislang nicht inhaltlich dagegen argumentiert, sondern - zunächst die Oberfläche angegriffen (objektiv wirkungslos) - und die Studie als "bestenfalls umstritten" beschrieben. Das ist seitens des BayVGH entweder ebenfalls eine Wissensanmaßung, die ihr "ersichtlich nicht zusteht", oder sie haben weitere Evidenz, die ich nicht kenne. Die interessiert mich aber für die Wahrheitsfindung. Die saubere rechtliche Würdigung ist für mich zweitrangig geworden, ich habe das Gefühl darum geht es (leider) nicht mehr. Ansonsten gilt es abzuwarten, was das OLG zum Urteil sagen wird.

LG

F. Hoog

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Sehr geehrter Falco Hoog,

was Sie als feststehend beschreiben, ist unabhängig von der herausragenden Expertise der Forscher um Ioannidis eben nicht "feststehend". Die Studie beobachtet allgemein den Effekt von ganz verschiedenen nicht-pharmazeutischen Maßnahmen/Interventionen, wobei jeweils die Wachstumsrate der durch Tests gemessenen Infektionszahlen als Maßstab angenommen wird. Sie setzt sich aber nicht konkret mit dieser einzelnen angegriffenen Maßnahme in Thüringen auseinander. Die "Fallzahlen"-Statistik ist ohnehin für Vergleichszwecke (zeitlich/regional) unzuverlässig, sogar innnerhalb nur eines Landes, noch mehr im Vergleich zwischen verschiedenen Ländern. Das wird in dem Paper auch anerkannt:

While we find no evidence of large anti-contagion effects from mandatory stay-at-home and
business closure policies, we should acknowledge that the underlying data and methods have
important limitations. First, cross-country comparisons are difficult: countries may have different
rules, cultures, and relationships between the government and citizenry. For that reason, we collected
information on all countries for which subnational data on case growth was obtainable. Of course,
these differences may also exist across subnational units, as demonstrated in the case of different
states in the US.  Additional countries could provide more evidence, especially countries that had
meaningful epidemic penetration and did not use mrNPIs for epidemic control. Second, confirmed
case counts are a noisy measure of disease transmission. Testing availability, personal demand for or
fear of getting tested, testing guidelines, changing test characteristics, and viral evolution all interfere
in the relationship between the underlying infections and case counts. Because the location and timing
of policies is endogenous to perceived epidemic stage, the noise in case counts is associated with the
policies, making bias possible and very difficult to eradicate.

Zumal es natürlich auch Studien gibt, die zu anderen/gegenteiligen Schlüssen kommen, z.B. diese hier von Haug et al.

Es ist meines Erachtens evident, dass die Minimierung der Übertragungsgelegenheiten bei einer Infektion, die per Luft/Aerosolen übertragbar ist, das Virus zumindest bremsen kann - bei einzelnen Maßnahmen für sich mag das wenig oder auch gar nicht signifikant sein, bei anderen aber durchaus. Manche Personen in manchen Ländern (abhängig von Kultur etc.) halten sich unabhängig von gesetzlichen oder untergesetzlichen Regelungen daran, weil es einfach "vernünftig" ist. Daher ist der Effekt einer Regelung sehr stark abhängig von der jeweiligen Compliance in dem Land, über das geredet wird. Dass die im Frühjahr und Sommer beobachteten Spreading-Ereignisse (z.B. in Ischgl, in südkoreanischen Gottesdiensten, im "Rosengarten" des Weißen Hauses, in hunderten von Schlachthäusern weltweit etc. pp.) bei Schließung der jew. Einrichtung, Maskenpflicht, Einhaltung von Distanzregeln nicht aufgetreten wären, erscheint mir ziemlich offensichtlich. Und bei stärker ansteckender Virusmutation (die von der Studie nicht berücksichtigt werden konnte) bei zugleich nachlassender Compliance, kann es durchaus sein, dass die verordneten Maßnahmen sogar noch wichtiger werden.

Besten Gruß

Henning Ernst Müller

Es überzeugt daher nicht, wenn die eigene richterlich gewonnene Expertise aus der Auswertung der Publikationen von als skeptisch bekannten Wissenschaftlern derjenigen entgegengesetzt wird, die die Exekutive zu ihren Entscheidungen veranlasst hat. Dies gilt insbesondere, wenn der Richter die eigenen zitierten Quellen nicht ebenso kritisch würdigt wie diejenige wissenschaftliche Seite, auf die sich die Exekutive berufen hat.

Im Prinzip ist diese Auffassung korrekt. Allerdings besteht hier ein großer Irrglauben, den auch der VGH Bayern begeht.

Keine Regierung hat sich bei den Maßnahmen auf irgendwelche Expertisen berufen. Für keine Maßnahme wird auch nur eine einzige Begründung angeführt, warum diese auch nur geeignet sein soll. Von der Erforderlichkeit und der Verhältnismäßigkeit ganz abgesehen.

Es ist nämlich in der Tat so, dass es keinerlei wissenschaftliche Evidenz für diese Maßnahmen gibt. Sie beruhen allesamt lediglich auf Glaubenssätzen.

Insofern hat der Amtsrichter in diesem Fall sogar mehr getan, als erfordlich, indem er die offziellen Zahlenreihen und Dokumente von WHO und RKI heranzieht. Ich hätte mir diese Mühe bestimmt nicht gemacht. In einem amtsgerichtlichen Verfahren wäre zu prüfen, ob die Tatsachenbehauptungen der Regierung auch korrekt und vollständig sind. Aber wo nichts ist, kann auch nichts geprüft werden.

Die VGH/OVG machen im Übrigen in ihren Eilentscheidungen genau das, was sie nun dem Amtsrichter vorwerfen: sie suchen sich irgendeinen Kram von den Seiten des RKI zusammen und reißen die dortigen Aussagen aus dem Kontext. Aus wagen Empfehlungen werden Rechtfertigungen für Zwangsmaßnahmen.

Sehr geehrter Herr Winkler,

kann es sein, dass Sie das vergangene Jahr in einer Blase verbracht haben? Nahezu die ganze Welt (Regierungen von demokratischen Industriestaaten, einschließlich Schweden!) hat sich für ihre Antworten (Lockdown-Maßnahmen, Distanzregeln in unterschiedlichen Versionen) beraten lassen von ihren jeweiligen Experten, nationalen und internationalen Wissenschaftlern. Die Maßnahmen sind keineswegs so populär, dass man damit viele Wählerstimmen gewinnen kann, erst recht nicht Lobbyisten aus der Wirtschaft (nach deren Nase es doch sonst immer geht). Zusätzlich wurden auch wissenschaftliche Kritiker der Maßnahmen eingeladen dazu Stellung zu nehmen, ja sogar deren teure Forschungsprojekte initiiert und finanziert (Streeck). Aber, wie schon gesagt, es muss von der Politik auch einmal entschieden werden und zwar auch in einer Situation, in der noch nicht alles bekannt ist.
Im Nachhinein betrachtet hat man übrigens im Oktober viel zu spät reagiert. Doch war damals ein Lockdown noch nicht durchsetzbar. weil zu viele damals nicht auf die Warnungen von Experten (vor einer zweiten Welle) gehört haben.

Besten Gruß

Henning Ernst Müller

 

Sehr geehrter Herr Professor Müller,

nein, ich habe nicht in einer Blase verweilt. Ich habe die Aktivitäten der Verordnungsgeber und die Rechtsprechung sehr genau beobachtet und auch begleitet.

Es ist aber das eine, ob sich die (unzuständige) Bundesregierung in geheimen Expertenzirkeln beraten lässt, und das andere, ob die Landesregierungen die Maßnahmen ihrer bundesweit sehr unterschiedlichen Verordnungen begründen. Die Abwägungsentscheidungen sollten in einer Demokratie eigentlich transparent gemacht werden, damit der Bürger sie auch nachvollziehen kann.

Aus eigener Einsichtnahme von Verwaltungsakten kann ich Ihnen sagen: da ist nichts. Es gibt überhaupt keine Abwägung der Verhältnismäßigkeit im weiteren Sinne. Auch die Begründungen zu den Verordnungen, die nach § 28a IfSG jetzt vorgelegt werden müssen, enthalten, soweit ich sie zur Kenntnis genommen habe, nicht viel bis überhaupt nichts zur Geeignetheit der gewählten Maßnahmen.

Darauf richtet sich meine Kritik. Dass man ex ante nicht alles wissen kann, ist mir auch klar. Aber sich auf reine Glaubenssätze zurückzuziehen, geht eben nicht.

Rechtsstaatlich müssen wir uns fragen, wie damit umzugehen ist. Wenn eine Ordnungswidrigkeit, oder gar eine Strafbarkeit am Ende steht, ist der Nachweis der Rechtmäßigkeit der Exekutivverordnungen für mein Empfinden etwas dünn.

Beste Grüße

Kay Winkler

Eine am Anfang noch ordentlich, zum Ende hin nur noch peinlich begründete Entscheidung. 

Am Rande: ich habe nicht gehört, dass das AG den Beteiligten und insofern der nun beschwerten StA einen Hinweis auf die dann als gerichtsbekannt festgestellten Tatsachen (die letzten links im Urteil...) gegeben hat, so dass man Gelegenheit hätte erhalten müssen und können, dazu noch in der Hauptverhandlung vorzutragen; also FALLS jemand von der StA in der Hauptverhandlung dabei war.:-)

Sehr geehrter Herr Müller!

ich habe folgende Fragen an Sie und Ihren Aussagen:

  1. Sie sprechen von Infektionszahlen: Der PCR-Test kann keine Infektionen nachweisen. Warum verwenden Sie diesen Begriff im Zusammenhang von positiv getesteten?
  2. Sie schreiben: "Es überzeugt daher nicht, wenn die eigene richterlich gewonnene Expertise aus der Auswertung der Publikationen von als skeptisch bekannten Wissenschaftlern derjenigen entgegengesetzt wird, die die Exekutive zu ihren Entscheidungen veranlasst hat." Herr John Ioannidis ist ein Wissenschaftler, der zu den skeptisch bekannten Wissenschaftlern zugerechnet wird. Bitte erläutern Sie, warum es nicht überzeugt, wenn dieser Wissenschaftler den "anerkannten" Wissenschaftlern entgegengesetzt wird.
  3. In Ihrem letzten Absatz schreiben Sie: "Hiermit wird schlichtweg kontrafaktisch abgestritten , dass es die Pandemie sei, die diese Schäden potentiell oder real verursacht. Es wird ignoriert, dass Entscheidungen gerade zur Prävention getroffen werden und ihr Erfolg (Minimierung der Todesfälle) wird dann als Gegenargument ("war gar keine Pandemielage") in Anspruch genommen.  Es werden weder die direkt durch die Maßnahmen verhinderten Todesfälle noch die indirekten positiven Folgen der Maßnahmen in Rechnung gestellt, noch wird geprüft, wie viele der immensen wirtschaftlichen Schäden (in einer Exportwirtschaft) gar nicht auf die konkreten thüringischen bzw. bundesdeutschen Maßnahmen zurückzuführen sind, sondern auf die weltweite Verbreitung des Virus. Und es wird eine Tatsache behauptet (vielfach erhöhte Todesfallanzahl), für die es außerhalb der Corona-Verschwörer-Szene keinen Beleg gibt.  Das alles gehört m.E. nicht in ein Urteil."
    1. Bitte legen Sie dar (z.B. wissenschafliche Studie), dass die Pandemie diese Schäden verursacht.
    2. Welche Pandemie meinen Sie in diesem Zusammenhang? Die Erkrankung an SARS-CoV2 oder die daraus resultierenden Maßnahmen.
    3. Bitte legen Sie dar (z.B. wissenschaftliche Studie) wie viele Todesfälle durch die einzeln getroffenen Maßnahmen im einzelnen verhindert werden konnten.
    4. Bitte legen Sie dar, wie viele Todesfälle und weitere Schäden durch die einzeln getroffenen Maßnahmen im einzelnen entstanden sind.
    5. Bitte legen Sie dar, welche indirekten Positiven Folgen im einzelnen entstanden sind.

Über die Schäden (drastisch erhöhte Hungersnöte samt Toten in der Welt, Psychische Schäden von Kinder, Häusliche Gewalt, Kindermisshandlungen, Depressionen, mit dramatischen Langzeitfolgen usw.) existieren verherrende Informationen (z.B. LMU München, österreichische Institute), da diese gemessen werden können. Über eine negativen Wirkung eines Lockdowns gibt Studien, die bei der WHO veröffentlich sind.

Über die von Ihnen genannten positiven Auswirkungen existieren m.E. keine Studien. Evtl. können Sie mir diese nennen? Auch die genannten Folgewirkungen von SARS - CoV2 werden zwar genannt. Aufgrund von fehlender Dauer, kann hier nicht von einer Langzeitwirkung gesprochen werden.

Ich freue mich, auf eine entsprechende Rückmeldung!

Mit freundlichen Grüßen

Hans Germering

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Sehr geehrter Herr Germering,

es handelt sich bei der Epidemiologie und Virologie nicht um meine Fachgebiete und ich habe nicht die Absicht, nun meinerseits erhebliche zusätzliche Recherchekapazitäten außerhalb meines Fachgebiets in diese Sache zu stecken, über meinen seit vielen Monaten regelmäßig aktualisierten Beitrag hier nebenan im Blog hinaus. Ich habe ja schon geschrieben: Auch der Weimarer Amtsrichter ist offenkundig kein Experte, und wenn er seine tatsächlichen Ausführungen wirklich für entscheidungserheblich hielt, dann hätte  er darüber ordnungsgemäß Beweis erheben müssen. Das musste er freilich nicht tun, weil der größte Teil der Urteilsbegründung  eben nur ein obiter dictum ist, sprich: Er hat die Chance dieses Rechtsstreits genutzt, seine eigene Meinung und sein zusammengegoogeltes kritisches Wissen zu verbreiten. Das sei ihm als Meinungsäußerung unbenommen, aber Gegenkritik in der Sache muss er dann auch mit Fassung tragen.

Nur zwei Beispiele, weil Sie Ioannidis erwähnen:

1. Der Amtsrichter (Rz. 35) argumentiert mit dessen im Mai bzw. Oktober veröffentlichter Studie. Diese Studie wurde übrigens zunächst wegen methodischer Probleme kritisiert, woraufhin sich Ioannidis teils korrigiert, teils gewehrt hat  - alles völlig ok und üblich in der wissenschaftlichen Welt, nur dass jetzt Jünger und Hater auf beiden Seiten auf solche Dinge lauern und Namen wie "Drosten", Ioannidis" und/oder "Streeck" wie gute Trumpfkarten oder Schwarze Peter in die Höhe recken. Ist mir alles nichts Neues, auch hier im Blog. Entscheidend: Diese Studie von Ioannidis kann überhaupt nichts zum hiesigen Fall sagen, da die vom AG Weimar als verfassungswidrig benannte Verordnung (und der Verstoß dagegen) bereits im April stattfanden, also lange VOR Publikation der zitierten Ioannidis-Studie. Dem Verordnungsgeber Verfassungswidrigkeit vorzuwerfen, weil er eine erst später publizierte Studie nicht berücksichtigt habe - das ist frech, finde ich.  Nur so viel zum Inhalt: Inzwischen - die wissenschaftliche Welt ist ja nicht  stehen geblieben, nur weil Ioannidis gesprochen hat,  und das würde Herr Ioannidis auch nicht verlangen  - ist klar, dass die Fatality Rate sehr stark vom Alter der betr. Population  abhängig ist und entsprechend stark von Ort zu Ort schwankt. Ioannidis hatte offenbar recht, als er sie im Durchschnitt für viel niedriger hielt als viele zu Beginn noch angenommen haben, aber seine Daten sind eben auch zu niedrig, um für die ganze Welt zu gelten.

2. Zudem konfrontiert der Weimarer Amtsrichter (Rz. 51 des Urteils) die politische Stellungnahme der Regierung am 18.03. (Verkündung des ersten Lockdowns) mit einem eher infektionspolitischen Zeitschriftenartikel von Ioannidis, der einen (!) Tag  zuvor erschienen ist. Dieser populärwissenschaftliche Artikel gibt zu bedenken, dass wir für einschneidende Maßnahmen eine zu geringe Tatsachenbasis haben. Hinsichtlich der Tatsachenbasis ist das übrigens fast dieselbe Kritik, die ich hier - pandemiebegleitend sozusagen - im Blog ab dem 29.03. regelmäßig geschrieben habe, mit wöchentlichen Updates bis heute.

Es geht aber entscheidend um ein politisches, entscheidungstheoretisches, Problem, zu dem Ioannidis seine Meinung beiträgt, zu dem er aber genausowenig Fachmann ist wie Sie und ich: Was soll man als Politiker der Regierung tun bei einer offenkundigen Gefahr durch eine Pandemie, aber (noch) unsicherer Tatsachenlage?

Soll man nichts tun und erst einmal Forschungsergebisse abwarten? - im Vertrauen auf ein paar wenige (gute!) Wissenschaftler, die sagen, es wird schon nicht so schlimm werden, zB Ioannidis im o.g. Artikel, den der Weimarer Amtsrichter ja ausdrücklich für seine Argumentation in Anspruch nimmt: 

If we assume that case fatality rate among individuals infected by SARS-CoV-2 is 0.3% in the general population — a mid-range guess from my Diamond Princess analysis — and that 1% of the U.S. population gets infected (about 3.3 million people), this would translate to about 10,000 deaths.

Hochgerechnet aus seiner vorläufigen Expertise meint also Ionannidis im März 2020, es gäbe möglicherweise "10.000 Tote" in den USA -  tatsächlich sind es bis heute über 450.000. Der Amtsrichter aus Weimar vertraut offenbar darauf, dass wir nicht nachlesen, was er da zitiert, weil man ehrfürchtig vor dem großen Namen Ioannidis erstarrt. Herr Ioannidis hat sich bei dieser Erwägung auch nur mal eben um den Faktor 45 verschätzt. Aber ich würde ihm das nicht vorwerfen, denn Ioannidis wollte ja auch nur klar machen: Wir wissen/wussten im März 2020 noch wenig. Ich werfe es allerdings dem Weimarer Amtsrichter vor, der es aus heutiger Sicht besser wissen muss.

Oder sollen die Politiker auf viele (ebenfalls gute!) Wissenschaftler hören, die sagen, ohne gravierende Distanzmaßnahmen wird es schlimm kommen. Die (immerhin ja gewählten) verantwortlichen Politiker haben da eher auf Nummer sicher gesetzt. Fast überall in der Welt. Und in DE haben wir im Frühjahr auch das Glück der Tüchtigen gehabt: Viel niedrigere Todeszahlen als in den meisten Staaten mit ähnlicher Infrastruktur. Vielleicht stellt sich hinterher heraus (im Moment sieht es leider eher nicht so aus), dass die Pandemie doch gar nicht so schlimm ist bzw. gewesen wäre. Und dass die Folgen der Maßnahmen doch gravierender sind, als man zu Beginn dachte. Aber würde ich mich dann hinstellen und behaupten, dass die Regierung in dieser Beziehung "katastrophale Fehler" gemacht hat? Nein, das sehe ich anders. Denn wenn das Kreuzfahrschiff  Leck schlägt und droht zu sinken, kann man nicht mit der Rettung warten, bis das Loch im Schiffskörper ausgemessen ist.

Übrigens denke ich, dass die Regierung durchaus fatale Fehler gemacht hat bei der Vorbereitung auf die Gefahr einer Pandemie, bei dem "Einkauf" von Impfstoff bzw. dem Verzicht auf das Einrichten eigener Produktionskapazitäten für diesen. Und auch einige der Maßnahmen sind überflüssig und deshalb unverhältnismäßig, aus meiner Sicht. Und wiederum kamen einige der Maßnahmen im Herbst zu spät. Glücklicherweise nicht so spät wie in UK, wo man mehrere Wochen vor Weihnachten geöffnet hat und nun damit leben muss, dass die Politik viele Tote zu verantworten hat. Kann man natürlich abstreiten, und das versucht Johnson auch. Aber in seinen Schuhen will ich nicht stecken. Sie vielleicht?

Besten Gruß

Henning Ernst Müller

Pandemieabwehr fält juristisch wohl in dem Bereich der Gefahrenabwehr und des Gefahrenabwehrrechts.

Im Rahmen des Gefahrenabwehrrechts brauchen die Gefahrenabwehrbehörden nicht unbedingt zweifelsfreie Beweise für die Annahme einer konkreten gegenwärtigen Gefahr sowie für die Eignung von Gefahrenabwehrmaßnahmen.

Im Bereich des Gefahrenabwehrrechts stehen der handelnden Exekutive, jedenfalls wenn Gefahr in Verzug ist, sogenannte "Einschätzungsprägorativen" zu.

Diejenigen, die behaupten, die Regierung brauche zweifelsfreie Beweise, liegen also juristisch falsch, wenngleich man im Rahmen der Entwicklung und Veränderung des Rechts anstreben könnte, dies zu verändern, was mir jedoch weder praktikabel noch hilfreich noch verantwortbar erscheint.

Unabhängig von diesen Themen und Fragen kann man aber natürlich beklagen, daß angesichts des gewaltigen Aufwandes der Gefahrenabwehr und angesichts der damit verbundenen gewaltigen Grundrechtseingriffe, dann auch wesentlich mehr zum Zwecke der Gefahrenerforschung unternommen werden sollte und müßte.

In der seit einem Jahr andauernden pandemiebedingten Stresssituation scheint der Bereich der Gefahrerforschung wohl etwas vernachlässigt worden zu sein. Die Regierungen haben anscheinened weltweit immer noch gewaltige Wissenslücken. (Falls der Schein trügt, halten die Regierungen Wissen unter Verschluss, aber es spricht wohl sehr viel mehr dafür, daß der Schein nicht trügt, sondern daß man tatsächlich immer noch viel zu wenig über das Virus und seine Auswirkungen weiß).

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Sehr geehrter Herr Müller,

vielen Dank für Ihre sachliche Rückmeldung!

Ihre Argumentation könnte ich nachvollziehen, wenn wir uns im März oder April 2020 befänden. Das tun wir allerdings nicht.

Sie schreiben: "Was soll man als Politiker der Regierung tun bei einer offenkundigen Gefahr durch eine Pandemie, aber (noch) unsicherer Tatsachenlage?"

Nach fast 11 Monaten haben wir angeblich noch eine unsichere Tatsachenlage. Es gibt unheimlich viele Studien (auch von John Ioannidis), die darlegen, dass die Tatsachenlage nicht unsicher ist. Wir wissen unheimlich viel. Wir müssten es nur annehmen und umsetzen (z.B. Falsch-Positive, fehlerhafte Interpretation der PCR-Test, Sterblichkeit, Durchschnittsalter der Verstorbenen, an oder mit Covid gestorben, Kollateralschäden, wirtschaftliche Schäden, Mutationen, Impfschäden, und und und). Warum werden diese in Frage gestellt.

Des Weiteren bin ich der Ansicht, dass die regierenden in nicht nur unerheblichen Maße Fehler gemacht haben (z.B. Altmaier: Aussage Ende Januar: "Wir haben seit 4 Wochen keinen Überblick über die Infektionen", Merkel: "Uns ist die Pandemie entglitten", keine Obduktionen, keine Aussagen zu Kolleteralschäden, keine Unterlagen über die Gründe zu getroffenen Maßnahmen (Hr. Söder), Impfdesaster, Meldezeitraum der Toten durch die Gesundheitsämter (Verzug von ca. 3 Wochen), Corona-Hilfen-Desaster, keine wissenschaftliche Gründe, sondern nur politisch gesteuert, und und und).

Zudem sind keine Vorkehrungen auf die alle Jahre wiederkehrende Grippewelle getroffen worden (Schulen, Altenheime, Bevölkerung, etc.).

Nach 11 Monaten kann ich nicht bei einem Leck im Schiff weiter mit eine Schöpfer das Wasser schöpfen. Da muss ich bitte schon die Leute evakuiert, versorgt, informiert und gerettet haben. Dann das Schiff borgen und wieder seetüchtig gemacht haben. Wir sind in der Corona-Krise noch beim schöpfen!

Sie Schreiben: "Hochgerechnet aus seiner vorläufigen Expertise meint also Ionannidis im März 2020, es gäbe möglicherweise "10.000 Tote" in den USA -  tatsächlich sind es bis heute über 450.000. Der Amtsrichter aus Weimar vertraut offenbar darauf, dass wir nicht nachlesen, was er da zitiert, weil man ehrfürchtig vor dem großen Namen Ioannidis erstarrt."

Genau diese Art von Übertreibung finde ich absolut unsäglich. Es stellt sich die Frage: Wer ist informiert und wer nicht. Welche Zahlen werden bewusst übertrieben dargestellt, damit wir möglichst vor Ehrfurcht erstarren.

  1. Üblicherweise endet die Zählung einer Grippesaison im Juli. Dieses Jahr wird einfach weitergezählt. Warum?
  2. Die Annahme von 450.000 ist eine reine Behauptung, die keineswegs dokumentiert ist. Die von Ihnen genannten 450.000 sind die mit oder an Covid gestorbenen. Das CDC in den USA gibt an, dass ca. 6% tatsächlich an Covid gestorben sind. Das wären ca. 27.000. Bezogen auf fast 2 Grippe-Zeit-Phasen ist das eine äußerst geringe Fehlschätzung. Im Gegensatz müsste man nun die Fehlschätzung von Herrn Fergusen vom Imperial College heranziehen, der Millionen von Toten Amerikanern vorhergesagt hat und diese Aussage als Grundlage für die Maßnahmen herangezogen wird (bis heute). Bei ca. 27.000 tatsächlich an Covid gestorbenen in den USA ist das wohl der wesentlich höhere Fehlfaktor.
  3. Wir gehen in Deutschland für das Jahr 2020 von einer Übersterblichkeit aus. Tatsache ist allerdings, dass wir in Bezug auf die Bevölkerungsentwicklung und der Altersstruktur eine Untersterblichkeit haben. Das Jahr 2020 war unter diesen Bezug sogar das 2. Beste seit 2012. Nachzulesen unter www.destatis.de, wenn man sich die Mühe machen möchte dies zu analysieren. (Wenn Sie wollen, kann ich Ihnen die Auswertung hierzu zur Verfügung stellen.)
  4. Der Richter aus Weimar hat sich offenbar die Mühe gemacht, weiter zu recherchieren und nicht nur die oberflächigen Informationen verwendet. Die Fakten, z.B. 6% der an und mit an Covid verstorbenen sind tatsächlich an Covid gestorben.

Sie schreiben: "Aber in seinen Schuhen will ich nicht stecken. Sie vielleicht?" Das ist eins der Totschlag-Argumenten. Wieso gehen Sie davon aus, dass in UK besonders viele Menschen im Jahr 2020 gestorben sind. Haben Sie die Bevölkerungsentswicklung und die Altersentwicklung analysiert sowie die erwartenden Tote für das Jahr 2020 berücksichtigt?

In der freien Wirtschaft z.B. Aktiengesellschaft oder GmbH werden die Führungskräfte ausgetauscht, die nicht mehr in der Lage sind, das Unternehmen weiter zu führen bzw. nicht mehr entsprechend führen können. Stellen Sie sich eine Firma vor, das sich in der Krise befindet, Millionen von Verlusten macht, das Eigenkapital schon negativ ist und eigentlich kurz vor der Insolvenz steht und der Geschäftsführer sagt: "Ich habe seit 4 Wochen keinen Überblick über die Firma und mir ist das vollkommen entglitten. Ausserdem geben uns die Banken kein Darlehen bzw. die Darlehen kommen verspätet, weil ich um 0,1% Zinsen gefeilschft habe. Welches Vertrauen hätten Sie in diese Firma?

Wäre es sinnvoll, wenn sich der Geschäftsführer in seine Kammmer zurückzieht und nach einer Lösung sucht. Oder würde man da einen Steuerberater, Wirtschaftprüfer, Unternehmensberater, Insolvenzberater und sonstige Berater aus allen Bereichen konsultieren und versuchen das "Schiff" wieder auf die richtige Bahn zu bringen?

Grundsätzlich muss nicht derjenige, der seine Grundrechte wieder zurück haben möchte, beweisen, dass er die wieder haben kann. Derjenige der, die Rechte einschränkt muss den Beweis hierzu führen. Das allerdings geschieht nicht.

Vielen Dank für den Austausch!

Schöne Grüße

Hans Germering

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Sehr geehrter Herr Germering,

1. es geht hier um ein Urteil des AG Weimar zu einem Fall aus dem April 2020. Zur Beurteilung der Rechts- und Tatsachenlage für die Entscheidung des Falles sollte ein Richter nicht auf Tatsachen zurückgreifen, die erst später ermittelt bzw. publiziert wurden. Ich mache Ioannidis keinen Vorwurf, denn in der empirischen Wissenschaft gibt es immer wieder neue Erkenntnisse und Wissenschaftler dürfen sich irren. Auch die Ansage, nach mehreren Monaten müsse man nun endlich alles wissen, ist höchst naiv. In wichtigen Wissenschaftsbereichen ist man auch nach Jahrhunderten der Forschung bei Weitem nicht an einem „Ende“ des Wissens, selbst über Grundlagen. Skepsis ist eher angebracht bei Wissenschaftlern, die Irrtümer nicht einräumen.

Wem ich einen Vorwurf mache (einen sachlichen, keine persönlichen) ist dem Weimarer Amtsrichter, der uns diesen überholten Ioannidis-Aufsatz präsentiert, um damit seine Entscheidung zu begründen. Er hat diesen Aufsatz doch zitiert, um nachzuweisen, die Verordnung sei verfassungswidrig. Das geht eben nach hinten los. Es war nicht meine Idee, diesen Aufsatz hervorzukramen.

2. Ioannidis wird gern zitiert, als stehe er auf der Seite der Querdenker und anderer Amateur-Fachleute. Aber wenn er etwas schreibt, was offenkundig nicht stimmt oder den Zitierenden nicht passt, wird er nicht mehr ernst genommen und wird uminterpretiert oder verschwindet in der Schublade. Dasselbe gilt übrigens für Streeck. Auch er wird gern von der Querdenker-Seite mit seinen kritischen Aussagen zur derzeitigen Pandemie-Politik zitiert. auch ich schätze ihn, weil ich denke, er hat in Vielem recht, selbst wenn er manchmal auch schon falsch gelegen hat mit seinen Prognosen. Sobald er aber treffend die Aussagen eines Herrn Bhakdi widerlegt, werden „Querdenker“ still. Man sucht sich immer die Aussagen heraus, die gerade dem eigenen Weltbild entsprechen, alles andere, sogar wenn es aus derselben Quelle stammt, wird einfach verschwiegen.

3. Ihnen ist besonders wichtig (deshalb doppelt erwähnt) was Sie in Ihrem Punkt 2 und dann nochmal in Punkt 4 schreiben: Nur in 6% der Fälle seien die Menschen an COVID19 gestorben. Hier die wörtliche Originalaussage (wenn man sich wirklich für „Fakten“ interessiert, sollte man immer danach suchen!)

“For 6% of the deaths, COVID-19 was the only cause mentioned. For deaths with conditions or causes in addition to COVID-19, on average, there were 2.6 additional conditions or causes per death,” the report reads.

Dies bedeutet, dass in 6% der Fälle allein die Diagnose COVID19 gestellt wurde, in den anderen Fällen gab es eine Komorbidität. Das wurde nun uminterpretiert in die Aussage, nur 6% der Verstorbenen seien überhaupt an COVID19 gestorben. So hörte man es von dem pathologischen Lügner Trump, von QAnon und von Amateur-Fachleuten. und so wird es von Ihnen als „Fakt“ hier weiterverbreitet. Aber es ist ja seit langem bekannt, dass das Virus besonders dann tödlich ist, wenn Vorerkrankungen vorliegen. Ich gehe jetzt einfach freundlicherweise davon aus, dass Sie hier einem Irrtum aufgesessen sind.

4. Ioannidis (der sich hier ja nicht wehren kann) beruft sich außerdem gar nicht auf fehlerhafte Todesdiagnostik, wie Sie annehmen. Seine damalige Schätzung (10.000 Tote) beruht ja darauf, dass er meinte, nur 1% der Menschen in den USA werde voraussichtlich infiziert (3,3 Millionen) und davon stürben nach seiner Berechnung nur 0,3 %. Seine Sterblichkeitseinschätzung (0,3 %) als richtig unterstellt, lag sein Fehler hier in der Infektionsprognose von (nur) 1 %. Es müssen sich nämlich bis heute weit mehr Menschen als 3,3 Millionen in den USA angesteckt haben mit dem Virus, wenn man seine Sterblichkeitsrate als richtig unterstellt. Inzwischen sind ca. 8% der amerikanischen Bevölkerung (ca. 27 Millionen „cases“) positiv getestet worden. Natürlich werden dort einige falsch positiv Getestete dabei sein, aber es existiert andererseits auch ein gewisses Dunkelfeld. Man weiß aber ziemlich sicher, dass die Schätzung Ioannidis (nur 1 % werden infiziert und nur 10.000 werden sterben) unrichtig war. Entweder hat er die Zahl sich künftig tatsächlich Infizierender grob unterschätzt, oder die Sterblichkeitsrate ist doch wesentlich höher oder beides stimmt teilweise. Wie schon gesagt, einen Vorwurf mache ich ihm nicht, im März wussten alle nicht so viel.

Was man von Ioannidis gelernt hat: Wenn man bevölkerungsweit repräsentativ testet, ergibt sich eine viel geringere Sterblichkeit. Es finden sich dann viele Infizierte mit geringer oder ohne Symptomatik, von denen nur relativ wenige schwer erkranken oder sterben. Eine niedrige Sterblichkeit wird v.a. dann ermittelt, wenn es viele Infizierte gibt, von denen nur ein kleiner Anteil stirbt. Das ist ja der Grund dafür, dass man Anfang 2020 eine viel höhere Sterblichkeit angenommen hat, weil eben nur wenige Personen mit eher schwerer Symptomatik getestet wurden: Also: Wer hohe Infektionszahlen annimmt, der kommt zu einer geringen Sterblichkeit, wer niedrige annimmt, zu einer hohen.

Zweifelt man die Validität der positiven Tests an, kommt man automatisch zur höheren Sterblichkeit. Beides gleichzeitig nach unten korroigieren geht nur, wenn man die Todesdiagnostik selbst anzweifelt. Aber selbst wenn man (durchaus plausibel!) annimmt, dass ein gewisser Prozentsatz der positiv getesteten Verstorbenen nicht „an“ Corona gestorben ist, dann fehlt noch immer die Erklärung, wie es zu den starken Anstiegen von Todesfällen im Herbst und Winter (weltweit) gekommen sein soll. Werden jetzt immer mehr Corona-Tote weltweit „erfunden“? Gibt es da eine Verschwörung der Mediziner?  Oder ist es vielleicht doch so, wie uns der erste Blick auf die Kurven zeigt und trotz aller möglichen Testfehler im Grundsatz plausibel ist. Die Todeszahlen entwickeln sich (mit zeitlichem Abstand) in der Trendrichtung im Wesentlichen so wie die gemessenen Infektionen.

5. Ich habe übrigens nirgends behauptet, dass in Deutschland 2020 eine deutliche Übersterblichkeit aufgrund von COVID19 gemessen werden kann. ´Im Gegenteil. Sie können dazu gern meinen anderen Beitrag und die Updates lesen. Die vergleichsweise geringe bzw. nicht messbare Übersterblichkeit liegt meines Erachtens u.a. an den erfolgreich ergriffenen und eingehaltenen Distanzmaßnahmen. Es ist ja bekannt, dass die Politik in Deutschland für vieles zutreffend kritisiert werden kann, aber nicht für den sehr erfolgreichen Umgang mit der Pandemie im Frühjahr, für den „wir“ weltweit beneidet wurden. Die geringe bzw. nicht vorhandene Übersterblichkeit in Deutschland widerlegt übrigens auch die von einigen Querdenkern und vom Weimarer Amtsrichter beleglos behauptete Tödlichkeit der Maßnahmenpolitik. So wird ja vom AG Weimar behauptet, die Maßnahmen hätten sogar „vielfach“ höhere Todeszahlen bewirkt (etwa durch Suizid) als das Virus selbst. Was die Querdenker und der Amtsrichter nicht bemerken ist, dass sie sich damit in Widersprüche verwickeln, denn auch diese Todesfälle müssten sich ja in der Sterbestatistik niederschlagen. Bislang gibt es glücklicherweise für diese befürchteten Auswirkungen auf die Sterblichkeit insgesamt bzw. die Suizidstatistik keine Anhaltspunkte, auch wenn ich der Kritik zustimme, dass wichtige Krebsoperationen nicht hätten verschoben werden sollen bzw. dürfen. Aber im Gegenteil zur Annahme einer erhöhten Sterblichkeit durch die Maßnahmen gibt es auch Hinweise darauf, dass die Maßnahmen nicht nur COVID19- sondern auch sehr viele Influenza-Infektionen verhindert haben.
Die kumulierten COVID19-Todeszahlen in Deutschland liegen trotz der sehr hohen Todesrate im Dezember 2020, im internationalen Vergleich immer noch im Mittelfeld. Es beunruhigt mich sehr, dass dieser international gesehen relative Erfolg im Umgang mit der Krise nun wieder als Argument dafür angeführt wird, das Virus sei doch gar nicht so gefährlich. Ein Blick über den deutschen Tellerrand tut einfach Not.

 

Besten Gruß

Henning Ernst Müller

PS:  Übersterblichkeit in UK (für jede Kalenderwoche) kann man googeln, da braucht man sich nicht dumm stellen. Ich habe damit gerechnet, dass Sie das hier finden: Euromomo

 

Sehr geehrter Herr Müller,

ich war in der Hoffnung, dass ich mit Ihnen auf einer vernünftigen Weise argumentieren kann.

Wenn Sie mir unterstellen, dass ich mich "dumm stelle", endet für mich die Diskussion an dieser Stelle. Die von Ihnen gewünschte Achtsamkeit haben Sie an dieser Stelle leider selber untergraben.

An dieser Stelle wäre es wissenschaftlich gewesen, wenn Sie die Sterblichkeit der jeweiligen Jahre ins Verhältnis zur Bevölkerung und der Altersgruppen gesetzt hätten. Bei einer Person mit Ihrer Stellung hätte ich erhofft, dass Sie nicht auf den Fehler (bloßer Vergleich von absoluten Zahlen) hereinfallen.

Ich wünsche Ihnen für Ihre Zukunft mehr Weitsinn, weniger Unvoreingenommenheit, Klarheit, Weitblick, Bodenständigkeit, vorallem Achtsamkeit und ein offenes Herz.

Mit freundlichen Grüßen

Hans Germering

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"Das Gericht hat hier ohnehin nur eine beschränkte Überprüfungskompetenz: Es wäre also zu fragen, ob die thüringische Exekutive, zu dem Zeitpunkt, als sie das Kontaktverbot erließ, sich NICHT von den empirischen Anhaltspunkten für eine epidemische Notlage hätte leiten lassen DÜRFEN. Nicht erheblich ist es hingegen, ob dieser Einschätzung von einigen Wissenschaftlern widersprochen wurde, noch weniger, ob diese Einschätzung HEUTE noch als richtig angesehen wird. Sofern die Exekutive sich also (vertretbar) von der wissenschaftliche Expertise leiten ließ, es bestehe eine gravierende Lage, muss die richterliche Kontrolle diese Expertise zugrunde legen und darf (Ausnahme: offenkundiger Missbrauch oder Willkür) nicht seine eigene aus gegenläufigen Publikationen gewonnene an deren Stelle setzen."

Es fällt ins Auge, dass die Expertise, die die Exekutive zu ihren Entscheidungen veranlasst hat – mal ganz abgesehen davon, dass es in der Bayerischen Staatskanzlei im September zu den Entscheidungsprozessen noch nicht einmal eine Aktenlage gab – ausschließlich aus Quellen zu entspringen scheint, bei denen sich eine Verbindung zur Bill & Melinda Gates Foundation nachweisen lässt (Charité [Drosten], RKI [Wieler], Helmholtz Zentrum für Infektionsforschung). Belegbare Indizien (Rechtsbegriff), die in diesem Fall die Ausnahme Willkür zulässig erscheinen lassen.

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Sorry, Herr Ganß, aber dieser verschwörungstheoretische Mist ist im Beck Blog unerwünscht, jedenfalls bei mir. Hier wird diskutiert über das Urteil des AG Weimar. Beiträge zu anderen Themen werde ich sperren.

Noch einmal der Hinweis: Der hier auftretende "kommentator" hat sich in der Vergangenheit (unter anderem Namen) durch jahrelangen ständigen Verstoß gegen die hiesigen Diskussionsregeln, jeweils hart an der Grenze der Beleidigung und Volksverhetzung hervorgetan. Ich habe ihn deshalb nach mehreren erfolglosen Mahnungen und Bitten, zu einem sachlichen Diskussionstil zurückzukehren und nach einem volksverhetzenden Kommentar aus den Diskussionen unter meinen Beiträgen ausgeschlossen. Dies erhalte ich ausdrücklich ohne Rücksicht auf den Inhalt seiner jeweiligen Beiträge aufrecht. Ich werde diesen Diskussionsort nicht mehr von diesem Troll stören lassen.

Durch Beschluss vom 5. Februar 2021 (1 S 321/21) hat der VGH-BW nach Eilantrag einer Tübingerin die nächtlichen Ausgangsbeschränkungen nach der Corona-Verordnung der Landesregierung (Antragsgegner) mit Wirkung ab dem 11. Februar, 5 Uhr außer Vollzug gesetzt.

Pressemitteilung v. 8.2.2021:
https://verwaltungsgerichtshof-baden-wuerttemberg.justiz-bw.de/pb/,Lde/Startseite/Medien/Corona-Verordnung_+Naechtliche+Ausgangbeschraenkungen+ab+Donnerstag+ausser+Vollzug_+Erfolgreicher+Eilantrag+gegen+Corona-Verordnung/?LISTPAGE=1213200

Der Senat gab dazu eine bemerkenswerte Begründung ab: Der Antragsgegner habe voraussichtlich den gesetzlichen Voraussetzungen aus § 28a Abs. 2 i.V.m. Abs. 3 IfSG zuletzt nicht mehr entsprochen.

[...]

Der Antragsgegner sei für die Voraussetzungen des § 28 Abs. 2, 3 IfSG begründungspflichtig. Den gesetzlichen Anforderungen für die nächtlichen Ausgangsbeschränkungen habe der Antragsgegner zuletzt - anders als Ende Dezember und Mitte Januar, als Eilanträge gegen die nächtlichen Ausgangbeschränkungen erfolglos blieben - nicht mehr entsprochen.

[...]

Daran fehle es angesichts des aktuellen Pandemiegeschehens:

[...]

Das Pandemiegeschehen im Land habe sich seither in beachtlichem Umfang verändert. [...]

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Der VGH-BW wendet lt. PM § 28a Abs. 3 S. 2 IfSG  in seiner Entscheidung offensichtlich wörtlich an. Darin heißt es:

"Die Schutzmaßnahmen sollen unter Berücksichtigung des jeweiligen Infektionsgeschehens regional bezogen auf die Ebene der Landkreise, Bezirke oder kreisfreien Städte an den Schwellenwerten nach Maßgabe der Sätze 4 bis 12 ausgerichtet werden, soweit Infektionsgeschehen innerhalb eines Landes nicht regional übergreifend oder gleichgelagert sind."

Wörtliche Anwendung dieser Regelung ist aber mit der Vollzugskompetenz nicht vereinbar. Es ist allein Sache der Länder, darüber zu entscheiden, ob und welche Aufgaben sie an Landes- und Kommunalbehörden übertragen. Ausdrücklich legt Art. 87 Abs. 1. S. 7 fest, dass der Bundesgesetzgeber das nicht tun darf:

"Durch Bundesgesetz dürfen Gemeinden und Gemeindeverbänden Aufgaben nicht übertragen werden."

§ 28a Abs. 3 S. 2 IfSG müsste demnach verfassungskonform dahin ausgelegt werden, dass allein die Länder darüber zu entscheiden haben, ob und unter welchen Voraussetzungen sie nächtliche Ausgangsverbote von Landkreisen, Bezirken oder kreisfreien Städten regeln lassen. Diese Entscheidung der Länder darf keine Wirksamkeitsvoraussetzung für die Ermächtigungsgrundlage sein.

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Professor Müller schreibt in seinem Leitbeitrag oben:

"Das AG Weimar argumentiert nun, dass es für ein allg. Kontaktverbot, sich mit mehr als einer haushaltsfremden Person zu treffen, in § 28 IfSG aF keine Rechtsgrundlage gegeben habe.

Das ist – angesichts der gesetzgeberischen Entscheidung am 18.11.2020, das InfSG insofern zu konkretisieren – nicht nur eine gut vertretbare Auffassung des AG Weimar, sondern entspricht sogar einer verbreiteten Meinung, wie das Gericht feststellt:"

Es folgt ein Zitat aus der Entscheidung des AG Weimar:

"Dass § 28 IfSG hinsichtlich der tiefgreifenden Grundrechtseingriffe einschließlich eines Kontaktverbots durch die verschiedenen Corona-Verordnungen der Länder jedenfalls im Grundsatz nicht den Anforderungen der Wesentlichkeitsdoktrin genügt, ist in Rechtsprechung und Literatur inzwischen weitgehend Konsens."

Die Auffassung des AG Weimar ist keinesfalls gut vertretbar. Und mag sie auch einer verbreiteten Meinung entsprechen, so lässt sie jedenfalls die Rechtsprechung des BVerwG außer Acht. Das AG Weimar stützt seine Auffassung zwar auf BVerwG, Beschluss vom 31. Januar 2019 - 1 WB 28.17 - juris, Rn. 35. In dieser Entscheidung heißt es unter Rn. 31:

"Weder dem Wortlaut von § 4 Abs. 3 Satz 2 und 3 SG noch den Gesetzgebungsmaterialien zu den verschiedenen Fassungen der Norm ist mit der gebotenen Eindeutigkeit zu entnehmen, dass der Erlassgeber im Sachzusammenhang mit bzw. als Annex zu Regelungen der Dienstuniform auch zu solchen Eingriffen ermächtigt werden soll, die - wie Vorgaben zur Haar- und Barttracht von Soldaten - nicht nur den dienstlichen, vielmehr notwendig auch den privaten Lebensbereich von Soldaten betreffen."

In der genannten Entscheidung des BVerwG ging es also um die Wirksamkeit einer Ermächtigungsgrundlage nach dem Soldatengesetz, die das BVerwG zwar verneinte, gleichwohl den darauf gestützten Erlass aber für eine Übergangszeit hinnehmbar hielt (Rn. 35).

Nicht erwähnt wird dagegen die Entscheidung des BVerwG (Urt. v. 22.03.2012 - 3 C 16.11), in der es um die Wirksamkeit eines mehrtägigen Schulbetretungsverbots nach der Generalklausel des § 28 Abs. 1 u. 2 IfSG ging. Das BVerwG führt unter Rn. 29 zusammenfassend dazu zwar wie folgt aus: "Das Oberverwaltungsgericht ist revisionsrechtlich fehlerfrei davon ausgegangen, dass das gegenüber dem Kläger angeordnete Betretungsverbot in § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG keine Rechtsgrundlage findet, weil weder die Voraussetzungen für eine Inanspruchnahme des Klägers als Störer noch als Nichtstörer gegeben waren und es sich daher bei dem Betretungsverbot nicht um eine notwendige Schutzmaßnahme im Sinne der Norm handelte". Anlass
der Maßnahme war eine der Beklagten bekannt gewordene Masernerkrankung eines Schülers der benachbarten Grundschule (so genannter Indexfall). Probleme für Anwendbarkeit der Generalklausel sieht das BVerwG dagegen nicht. Im Gegenteil, es wird sehr ausführlich zur Anwendbarkeit der Generalklausel ausgeführt. Auch Probleme bezüglich der Wesentlichkeitstheorie stellen sich nicht.

An Eingriffsintensität steht ein Schulbetretungsverbot einem Kontaktverbot keineswegs nach - an sich. Allerdings ist die Dauer von Bedeutung. Es gibt einen Unterschied zwischen einem Eingriff von mehreren Tagen und einem von mehreren Wochen oder gar Monaten. Aber es gibt auch einen Unterschied zwischen Masern und Corona und auch zwischen einem Maservorfall an einer benachbarten Grundschule und der weltweiten Coronapandemie.

"Weil bei Menschenansammlungen Krankheitserreger besonders leicht übertragen werden können, stellt § 28 Abs. 1 Satz 2 Halbs. 1 IfSG klar, dass Anordnungen auch gegenüber Veranstaltungen oder sonstigen Zusammenkünften von Menschen sowie gegenüber Gemeinschaftseinrichtungen ergehen können („Schutzmaßnahmen gegenüber der Allgemeinheit“, BTDrucks 8/2468 S. 27 f.; BRDrucks 566/99 S. 169 f.). Schließlich können (sonstige) Dritte („Nichtstörer“) Adressat von Maßnahmen sein, beispielsweise um sie vor Ansteckung zu schützen (vgl. § 28 Abs. 1 Satz 2 Halbs. 2 IfSG; BTDrucks 8/2468 S. 27; Bales/Baumann, IfSG, 2001, § 28 Rn. 3)." (BVerwG Urt. v. 22.03.2012 - 3 C 16.11)

Wenn der Bundesgesetzgeber des IfSG am 18.11.2020 nachgebessert hatte, dann ist das kein Argument dafür, dass die alte Fassung des IfSG keine hinreichende Ermächtigungsgrundlage für das in Corana-Verordnungen geregelten Kontaktverbot war. Die Nachbesserung war notwendig, um für heutige Eingriffe verfassungsrechtliche Bedenken bezüglich des allgemeinen Kontaktverbots auszuräumen. Der von AG Weimar entschiedener Fall war aber vom 24.04.2020. Es galt die ThürSARS-CoV-2-EindmaßnVO vom 23.04.2020. Zu diesem Zeitpunkt waren die verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Bestimmtheit (auch bezgl. des problematischen Ausmaßes) noch erfüllt.

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