Gibt es eine verfassungsrechtliche Gesetzesbefolgungspflicht des Einzelnen?

von Dr. iur. Fiete Kalscheuer, veröffentlicht am 20.01.2021
Rechtsgebiete: Staatsrecht3|3243 Aufrufe

Ein alter Streit ist es, ob die Glaubens-, Gewissens- und Bekenntnisfreiheit nach Art. 4 Abs. 1, 2 GG unter einem einfachen Gesetzesvorbehalt steht oder nur durch Güter von Verfassungsrang einschränkbar ist. Die einen sagen so, die anderen so. Dieser Streit lässt sich in den einschlägigen Kommentaren nachlesen, soll uns also hier nicht weiter interessieren. Ein Augenmerk soll jedoch auf das Argument gerichtet werden, das zugunsten der Einschränkbarkeit durch einen einfachen Gesetzesvorbehalt vorgebracht wird. Exemplarisch sei hierfür die Entscheidung des BVerwG vom 23.11.2000 - 3 C 40.99 - angeführt. Darin heißt es wie folgt:

Nach Auffassung des erkennenden Senats ergibt sich die Legitimation des Gesetzgebers für die in § 4a TierSchG getroffene Regelung aus Art. 140 GG i.V. mit Art. 136 I WRV. Nach der zuletzt genannten Bestimmung, die durch Art. 140 GG zum Bestandteil des Grundgesetzes geworden ist, werden die bürgerlichen und staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten durch die Ausübung der Religionsfreiheit weder bedingt noch beschränkt. Damit wird die Ausübung der Religionsfreiheit, wie sie in Art. 4 II GG gewährleistet ist, ausdrücklich unter einen staatsbürgerlichen Pflichtenvorbehalt gestellt. Zu den staatsbürgerlichen Pflichten zählt zu allererst die Gesetzesbefolgungspflicht (vgl. Muckel, in: BerlKomm zum GG, Art. 4 Rdnr. 47).

Unabhängig davon, dass diese Auffassung des BVerwG mithilfe von historischen und systematischen Argumenten entkräftet werden kann, stellt sich die Frage, ob überhaupt der Ausgangspunkt der Argumentation des BVerwG zutrifft: Folgt aus dem staatsbürgerlichen Pflichtenvorbehalt eine Gesetzesbefolgungspflicht des Einzelnen? Gibt es eine staatsbürgerliche, d.h. verfassungsrechtliche, Gesetzesbefolgungspflicht? Anders gewendet: Kann ich Verfassungspatriot sein und dennoch bei "Rot" über die Ampel laufen? - Die Antwort hierauf ist nicht so eindeutig, wie sie zunächst scheint. Das Grundgesetz bindet in Art. 1 Abs. 3 GG zunächst nur die Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung an die Grundrechte als unmittelbar geltendes Recht. Ähnlich sieht es in Art. 20 Abs. 3 GG aus; danach sind die Gesetzgebung an die verfassungsmäßige Ordnung, die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung an Gesetz und Recht gebunden.

Eine ausdrückliche Pflicht des Einzelnen zur Gesetzesbefolgung findet sich im Grundgesetz damit nicht. Das Grundgesetz lebt diesbezüglich vielmehr von einer Voraussetzung - der Gesetzesbefolgung des Einzelnen -, die es selbst nicht als Pflicht statuiert. Der These des BVerwG im Urteil vom 23.11.2000, aus dem staatsbürgerlichen Pflichtenvorbehalt in Art. 136 Abs. 1 WRV folge eine Gesetzesbefolgungspflicht des Einzelnen, ist daher zu widersprechen.

Somit offenbart sich auch die Weisheit meines ersten Lehrers für Verfassungsrecht in Greifswald, der mir - bei "Rot" über die Ampel gehend - lachend zurief:

Ich bin Verfassungsrechtler! Was interessiert mich das einfache Recht?

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3 Kommentare

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Ich sehe nicht, dass das Bundesverwaltungsgericht insoweit unbedingt anderer Meinung als Sie ist. Es spricht von staatsbürgerlichen Pflichten und nicht von verfassungsrechtlichen Pflichten. Das sind zwei Paar Stiefel.

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Den Satz "Zu den staatsbürgerlichen Pflichten zählt zu allererst die Gesetzesbefolgungspflicht." finde ich sehr bedenklich.

Zum einen gibt es hierzulande derart viele Gesetze, daß ein einzelner Mensch völlig überfordert wäre, von ihnen allen Kenntnis zu nehmen und sie alle zu verstehen und sicherzustellen sie stets Alle, unabhängig davon, wie bekannt und wie logisch die Gesetze sind (manche Gesetze sind für jeden vernünftig denkenden erwachsenen Menschen natürlich und selbstverständlich, wie zum Beispiel das gesetzliche Verbot Morde zu begehen, andere Gesetze dagegen muß man erst lesen, um von ihnen Kenntnis zu erlangen), einzuhalten.

Und zum anderen sollte die Treue zur Verfassung höher stehen, als blinder Kadavergehorsam gegenüber dem Gesetzgeber.

Gesetzgeber in aller Welt, und auch unsere gesetzgeber hierzulande, produzieren neben vernünftigen gesetzen leider immer wieder auch Gesetze, welche mit dem Grunsatz auf Achtung der Menschenwürde oder mit anderen Grundrechten oder Verfassungsprinzipien nicht vereinbar sind.

Erste und höchste staatsbürgerliche Pflicht darf daher nicht eine (blinde) Gesetzetreue sein, sondern die Verfassungstreue.

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Gesetzesbefolgungspflicht als staatsbürgerliche Pflicht?

Dann würde also ein Grundstückseigentümer, der einen Nachbarn als "Blödmann" tituliert und beleidigt, seine staatsbürgerlichen Pflichten verletzen?

Oder ein Autofahrer, der pflichtwidrig vergisst die Parkscheibe unter die Windschutzscheibe zu legen, würde gegen seine staatsbürgerlichen Pflichten verstoßen?

Dürfte er dann kein öffentliches Amt mehr anstreben, oder dürften der Staat oder die Medien ihn dann als schlechten Staatsbürger etikettieren?

Oder wer eine gesetzlich vorgeschriebene Pflicht versäumt, verletzt der seine staatsbürgerlichen Pflichten?

Das erscheint mir doch etwas weit hergeholt.

In aller Welt anerkannte staatsbürgerliche Pflichten sind das Zahlen von Steuern, die Ableistung von Wehrdienst oder Ersatzdienst, von seinem Wahlrecht soweit wie möglich und zumutbar Gebrauch zu machen, keine Spionage für das Ausland zu betreiben, keinen Landesverrat zu begehen.

Demnächst zählt die vielleicht demnächst herrschende Meinung vielleicht auch noch dazu, sich impfen zu lassen.

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