Urteilsabsetzungsfrist verbaselt: Beim Antrag auf Zulassung der Rechtsbeschwerde ist das u.U. egal!

von Carsten Krumm, veröffentlicht am 08.02.2020
Rechtsgebiete: Verkehrsrecht1|2340 Aufrufe

Egal ist das natürlich nicht. Aber unschädlich. So wie hier:

 

 

Der Antrag des Betroffenen auf Zulassung der Rechtsbeschwerde gegen das Urteil des Amtsgerichts Potsdam vom 26. August 2019 wird als unbegründet verworfen, da dem Betroffenen das rechtliche Gehör nicht versagt wurde und die Nachprüfung des angefochtenen Urteils zur Fortbildung des materiellen Rechts nicht geboten ist (§ 80 Abs. 2 Nr. 1 OWiG).

 Der Betroffene trägt die Kosten seines Rechtsmittels (§§ 46 Abs. 1 OWiG, 473 Abs. 1 Satz 1 StPO).

 Gründe: 

 Der Senat nimmt Bezug auf die zutreffenden Ausführungen in der Stellungnahme der Generalstaatsanwaltschaft des Landes Brandenburg vom 21. November 2019.

 Zu ergänzen ist auf den Anwaltsschriftsatz vom 3. Dezember 2019 lediglich folgendes:

 Die Rüge der Verletzung der Urteilsabsetzungsfrist nach § 275 Abs. 1 Satz 2 StPO iVm. §§ 71, 79 Abs. 3, 80 Abs. 3 OWiG ist vorliegend schon deswegen irrelevant, da bei einer erkannten Geldbuße - wie im vorliegenden Fall - von nicht mehr als 100,00 € nach § 80 Abs. 2 Nr. 1 OWiG die Zulassung der Rechtsbeschwerde nur bei Verletzung des rechtlichen Gehörs und zur Fortbildung des materiellen Rechts möglich ist, darüber hinaus eine Prüfung des formellen Rechts nicht stattfindet.

 Dessen ungeachtet kann die Verletzung der Urteilsabsetzungsfrist nacn § 275 Abs. 1 Satz 2 StPO iVm. § 71 OWiG im Regelfall die Zulassung der Rechtsbeschwerde nicht begründen. Die gegenteilige Auffassung würde die Bedeutung und Reichweite des Zulassungsverfahrens in Ordnungswidrigkeitenrecht verkennen. In den Fällen des § 80 OWiG sind selbst bei einem Urteil ohne Gründe die Zulassungsvoraussetzungen des § 80 OWiG zu prüfen (grundlegend: BGHSt 42, 187,189 ff. = NJW 1996, 3157 = NStZ 1997, 39 = VRS 92, 135; ebenso OLG Celle NdsRpfl. 1997, 52; OLG Köln NZV 1997, S. 371; Göhler, OWiG, 16. Aufl., § 77b Rdnr. 8, § 80 Rdnr. 12, 13; ständige Senatsrechtsprechung, vgl. statt vieler: Senatsbeschluss vom 9. November 20171 Z - 53 Ss-OWi 653/17 - 308/17; Senatsbeschluss vom 22. Mai 2012, 1 Z - 53 SS-Owi 256/12 - 136/12; Senatsbeschluss in: VRS 116, 279 m.w.N.; Senatsbeschluss vom 11. März 2013, 1 Z - 53 Ss-OWi 80/13 - 64/13).

 Selbst das Fehlen der Urteilsgründe führt nicht zwingend zur Zulassung der Rechtsbeschwerde. Eine solche Auffassung würde auf der fehlerhaften Annahme beruhen, dass die Voraussetzungen des § 80 Abs. 1, 2 OWiG nur an Hand der Urteilsgründe überprüft werden könnten. Damit aber würden sachlich-rechtliche Rechtsbeschwerdegrundsätze auf das Zulassungsverfahren ausgedehnt, ohne dass dies zwingend ist. Die bei Nichtvorliegen von Urteilsgründen lediglich nicht ausschließbare Möglichkeit, dass die Zulassung der Rechtsbeschwerde geboten sein kann, ersetzt nicht die Voraussetzungen des § 80 Abs. 1, 2 OWiG. Hierzu hat der Bundesgerichtshof hervorgehoben, dass selbst in den Fällen, in denen die Sachrüge erhoben ist, die Voraussetzungen zur Zulassung der Rechtsbeschwerde häufig ohne Kenntnis von Urteilsgründen geprüft werden können. Dies gelte insbesondere bei massenhaft auftretenden Bußgeldverfahren wegen einfacher Verkehrsordnungswidrigkeiten, die in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht keine Schwierigkeiten aufzeigen und bei denen nach den Gesamtumständen ausgeschlossen werden kann, dass die Zulassungsvoraussetzungen nach § 80 OWiG vorliegen. Zur Prüfung der Zulassung der Rechtsbeschwerde ist es möglich, den Bußgeldbescheid (vgl. dazu auch BGHSt 23, 336; BGHSt 23, 365; BGHSt 27, 271), den Zulassungsantrag, nachgeschobene Urteilsgründe oder dienstliche Äußerungen heranzuziehen; sonstige Umstände können selbst bei Vorliegen von Urteilsgründen berücksichtigt werden, wenn beispielsweise zu erwägen ist, ob ein rechtsfehlerhaftes Urteil sich als bloße Fehlentscheidung im Einzelfall darstellt (BGHSt 42, 187,189). All dies folgt schon daraus, dass es sich bei dem Zulassungsverfahren um ein Vorschaltverfahren handelt (vgl. KK-Senge, OWiG, 3. Aufl., § 80 Rdnr. 5), bei dem ermittelt wird, ob ein Rechtsbeschwerdeverfahren durchzuführen ist (ständige Senatsrechtsprechung, Senatsbeschluss vom 14. Januar 2009, 1 Ss-OWi 238 Z/08, abgedr. bei juris; Senatsbeschluss vom 21. November 2011, 1 Z - 53 Ss-OWi 450/11 - 246/11; Senatsbeschluss vom 22. Mai 2012 1 Z - 53 SS-Owi 256/12 - 136/12; Senatsbeschluss vom 11. März 2013, 1 Z - 53 Ss-OWi 80/13 - 64/13).

 Die Zulassung der Rechtsbeschwerde bei Fehlen von Urteilsgründen ist auch nicht aus Gründen der Verfassung (Rechtsstaatsprinzip, Gewährung rechtlichen Gehörs) geboten. Denn durch den Verfahrensverstoß ist der Betroffene nicht gehindert, die Zulassung der Rechtsbeschwerde zu beantragen und Umstände vorzutragen, die zu einer Zulassung führen können (BGHSt 42, 187, 190 f.). Da zudem die Zulassung der Rechtsbeschwerde einer einheitlichen und sachgerechten Rechtsprechung und nicht in erster Linie der Entscheidung des Einzelfalls dient, ist es von Verfassung wegen nicht geboten, allein aus dem Umstand, dass Urteilsgründe fehlen, einen Zulassungsgrund herzuleiten.

 Wenn aber schon bei einem Urteil ohne Gründe die Zulassung der Rechtsbeschwerde bei einfacher Fallgestaltung nicht geboten ist, muss dies im Zulassungsverfahren nach § 80 OWiG erst recht gelten, wenn die Frist zur Absetzung der Urteilsgründe nach § 275 Abs. 1 Satz 2 StPO, 71 OWiG überschritten worden ist (im vorliegenden Fall um einen Tag).

OLG Brandenburg, BeckRS 2020, 161

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1 Kommentar

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Richtig spannend wird ja, was eigentlich ist, wenn das Urteil erst nach vielen Monaten oder erst nach Jahren bei der Geschäftsstelle eintrudelt, weil der Richter die Frist nicht nur verbaselt, sondern das Verfahren nahezu vergessen hat und die Akte irgendwann ganz unten im Stapel wiederfindet.

Dagegen dürften die Betroffenen des AG Pinneberg, deren Akten im einsturzgefährdeten Westflügel lagerten, nachdem sie im Mai 2020 zu einem Bußgeld verdonnert worden waren, wohl nicht so einfach davon kommen, auch wenn der Bergungsroboter ihre Akten erst jetzt einsammelt. Denn das Betretungsverbot wegen Lebensgefahr dürfte wohl ein hinreichender Grund bzw. ein "im Einzelfall nicht voraussehbarer unabwendbarer Umstand" im Sinne des § 275 Abs. 1 Satz 4 StPO sein, oder?

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