Die Opfer von Hanau und der Notausgang – Ermittlungen wegen fahrlässiger Tötung eingestellt

von Prof. Dr. Henning Ernst Müller, veröffentlicht am 19.05.2022
Rechtsgebiete: StrafrechtKriminologieMaterielles Strafrecht8|6345 Aufrufe

Gestern kam die Nachricht, dass die Generalstaatsanwaltschaft in Hessen die Einstellung der Ermittlungen wegen des (möglicherweise) verschlossenen Notausgangs der Arena-Bar bestätigt hat.

Der Hintergrund:

Am 19.2.2020 hat ein offenbar rassistisch motivierter Täter in Hanau neun Menschen erschossen und anschließend sich selbst getötet.

Zwei der späteren Opfer befanden sich mit anderen Gästen in der Arena-Bar. Als die Gäste in der Bar Schüsse hörten, versuchten alle sich innerhalb der Bar in Sicherheit zu bringen. Die beiden Opfer wurden aber trotzdem durch Schüsse des Täters getötet.

Zwei Überlebende aus der Bar und die Familie Kurtovic erstatteten Anzeige gegen unbekannt: Durch einen Umbau hinter dem Tresen habe ein direkter Fluchtweg gefehlt, zudem sei der Notausgang in der Tatnacht von innen abgeschlossen gewesen. Das soll keine Ausnahme gewesen sein, Polizeibeamte hätten es gewusst und das Verschließen des Notausgangs sogar angeordnet, um bei Razzien eine mögliche Flucht von Besuchern zu verhindern.

 Die Staatsanwaltschaft Hanau fand dafür keine Belege und stellte die Ermittlungen im August ein. Es habe sich nicht sicher klären lassen, ob der Notausgang wirklich verschlossen war, so die Ermittler. Mitarbeiter hätten ausgesagt, die Tür sei unverschlossen gewesen. Zudem stehe nicht fest, dass den Männern die Flucht durch einen unverschlossenen Notausgang tatsächlich hätte gelingen können.“ Quelle: Der Spiegel

 

Der Vorwurf, den die Angehörigen der Getöteten erhoben, war, der Betreiber der Bar habe durch Versperren der Notausgangstür den Tod der beiden Opfer der Arena-Bar mitverursacht, strafbar nach § 222 StGB (fahrlässige Tötung).

Nach der Einstellung des Verfahrens im August 2021 hatten die Angehörigen bzw. ihre Rechtsanwältin eine Expertise ("Forensic Architecture")  dahingehend beauftragt, ob es den Opfern theoretisch möglich gewesen wäre, durch die Notausgangstür zu entkommen. Das Gutachten, das auch  sehr anschaulich in einer Animation besteht, das anhand von Überwachungsvideos die mögliche Geschwindigkeit der Opfer, nachdem sie Schüsse gehört hatten, mit den Örtlichkeiten in der Arena-Bar abglich, hat zum Ergebnis, dass  – bei unversperrter Notausgangstür - eine Fluchtmöglichkeit bestanden hätte (Link zu Forensic Architecture).
Der Spiegel schreibt dazu:

„Bewegung in die Frage zum Notausgang könnte nun ein Gutachten bringen, das das Recherchekollektiv Forensic Architecture im Auftrag der »Initiative 19. Februar« erstellt hat. Darin wird untersucht, ob die Personen in der Arena Bar genug Zeit gehabt hätten, vor dem Täter zu flüchten, wenn sie zum Notausgang gelaufen wären und dieser unverschlossen gewesen wäre. Die Untersuchung, deren Ergebnisse dem SPIEGEL vorliegen, kommt zu dem Schluss: »Alle fünf Personen hatten genug Zeit, um durch den Notausgang zu entkommen. Wenn der Notausgang offen gewesen ist, und sie das gewusst hätten, dann hätten sie alle den Anschlag überleben können." Quelle: Der Spiegel

Die Beschwerde zum GenStA wurde nun trotzdem abschlägig beschieden (FAZ). Eine gerichtliche Überprüfung durch das OLG Frankfurt kann noch erfolgen.

Dass eine Notausgangstür verschlossen ist und potentiellen Opfern in einer Notlage damit ein Fluchtweg versperrt wird, ist selbstverständlich eine kaum verzeihliche Fahrlässigkeit.

Aber die Verurteilung wegen fahrlässiger Tötung setzt hier noch mehr voraus, nämlich zumindest eine an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit, dass der (freie) Notausgang zur Rettung geführt hätte (hypothetische Kausalität).

Schon die Frage, ob der Notausgang überhaupt versperrt war oder nicht, ist umstritten geblieben.

„Im Bericht zum zweiten Tatort des rassistischen Anschlags von Hanau, der Arena-Bar mit angrenzendem Kiosk, steht: „Betritt man die Bar durch die Eingangstür, so befinden sich linksseitig vier Automaten, geradeaus gelangt man zu einem Lagerraum von welchem zwei weitere Türen abgehen. Diese zwei Türen waren jedoch bei der Tatortaufnahme verschlossen.“ Eine davon war der Notausgang.

Die beiden Sätze sind aber so gut wie wertlos geblieben. Die Staatsanwaltschaft, die nach einer Anzeige von Opfer-Angehörigen und Überlebenden wegen des Vorwurfs eines bewusst verschlossenen Notausgangs und fahrlässiger Tötung ermittelte, stellte das Verfahren im August 2021 ein – mangels hinreichenden Tatverdachts. So sei zum Beispiel aufgrund widersprüchlicher Zeugenaussagen unklar, ob die Tür am Abend des 19. Februar 2020 tatsächlich zugesperrt war.“ Quelle: Frankfurter Rundschau

Ergänzung/Korrektur am 1.12.2022:
Aus Videoaufnahmen 1 Stunde vor dem Attentat lässt sich wohl entnehmen, dass die Tür tatsächlich verschlossen war.

Jedoch: Darauf, ob der Notausgang offen oder versperrt war, kommt es wohl gar nicht an. Dieser Ermittlungsschritt wäre zwar für ein Ordnungswidrigkeitenverfahren gegen den Betreiber der Bar erforderlich und nützlich, nicht aber für die hier interessierende Fragestellung.

Denn die Gäste sind tatsächlich gar nicht in Richtung des Notausgangs geflohen.

„Der Notausgang war für uns keine Option, weil jedem klar war, dass er zu ist“, sagte Said Etris Hashemi, dessen Bruder in der Arena Bar sein Leben verlor, am Montag vor dem Untersuchungsausschuss des Hessischen Landtags zu den Hanauer Morden. Im Zentrum der Sitzung stand eine Frage, zu der sich die Angehörigen vom Ausschuss eine Antwort erhoffen: Könnten die beiden Männer noch leben, wenn sie zum Notausgang gelaufen und dieser offen gewesen wäre? Quelle: FAZ

I. Der Kausalnexus fehlt

Schon mit dieser Aussage des Zeugen scheidet der tatsächliche Zustand des Notausgangs aus der Kausalkette aus. Für die Strafbarkeit nach § 222 StGB ist nämlich völlig unbedeutend, ob er tatsächlich verschlossen war oder nicht, wenn keiner der Gäste in diese Richtung geflohen ist.

Beispiel zur Erläuterung: Wenn sich nach einem Brand herausstellt, dass ein Feuerlöscher im abgebrannten Gebäude leer war, ist dies zwar empörend, aber irrelevant für die Kausalkette, wenn gar niemand den Feuerlöscher gefunden hat bzw. benutzen wollte. Die Mitteilung, der Feuerlöscher sei leer gewesen, taugt dann jedenfalls nicht dazu, den für den Brandschutz Verantwortlichen für die Brandfolgen (mit-)verantwortlich zu machen. So ist es auch in Hanau: Da niemand in der konkreten Situation überhaupt in Richtung des Notausgangs geflohen ist, kann auch nicht der für den Notausgang Verantwortliche für die eingetretenen tödlichen Folgen haftbar gemacht werden, die (möglicherweise) durch einen geöffneten Notausgang hätten verhindert werden können. Es besteht hier schlicht kein Kausalnexus zwischen dem Notausgang und den konkreten Taterfolgen.

Dass die Gäste überzeugt waren, der Notausgang sei sowieso verschlossen, ändert daran nichts, denn dafür, was die Gäste wissen oder glauben zu wissen, kann der Wirt nicht verantwortlich gemacht werden (es sei denn, er hätte ihnen ausdrücklich mitgeteilt, dass der Notausgang gesperrt sei).

Ergänzung/Korrektur am 1.12.2022: Es gibt Hinweise darauf, dass durchaus weithin unter den Gästen bekannt war, dass dieser Ausgang verschlossen war. Ob dies für alle Gäste an diesem Abend galt, insbes. die späteren Opfer, ist jedoch nicht bekannt.

Zudem ist ja fraglich, ob dieses "Wissen" der einzige Grund dafür war, warum sie nicht zum Notausgang flohen. Denn wie in der Animation von Forensic Architecture  (You Tube - Link) zu erkennen ist, hätten sie, um zum Notausgang zu kommen, zunächst in Richtung der Eingangstür laufen müssen (siehe screenshots über diesem Beitrag unten links), in der jeden Moment der Täter hätte auftauchen können. Eine Verurteilung wegen fahrl. Tötung käme - wenn der Notausgang verschlossen war - nur in Betracht, wenn ein offener Notausgang mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit die beiden Todesopfer gerettet hätte. Das Gutachten von Forensic Architecture beantwortet nur die Frage, ob potentiell der Notausgang zur Rettung geeignet gewesen wäre. Das ist aber noch nicht hinreichend für einen (hypothetischen) Kausalnexus, der das tatsächliche Geschehen einbeziehen muss. Und tatsächlich sind die Gäste (auch die späteren Opfer) in die Gegenrichtung geflohen (siehe ersten screenshot über diesem Beitrag).

Der Grund: Fahrlässige Tötung ist ein reines Erfolgsdelikt. Es mag manchmal ungerecht erscheinen, wenn der Fahrlässigkeitstäter durch einen Zufall, den er nicht beeinflusst hat, trotz Fehlverhaltens vor Strafverfolgung geschützt ist, während andere, die weniger „Glück“ haben, bestraft werden müssen (Beispiele im Straßenverkehr dafür gibt es zuhauf). Aber eine noch so gravierende Fahrlässigkeit bleibt im Rahmen des § 222 StGB unbestraft, wenn sie nicht kausal (!) die tödliche Folge nach sich zieht, während auch eine leichte Fahrlässigkeit bei tödlicher Folge bestraft werden kann.

II. Der Zurechnungszusammenhang wäre fraglich

Ich möchte aber noch auf ein weiteres Missverständnis in dieser Frage eingehen und dazu einmal hypothetisch unterstellen, die Opfer hätten tatsächlich versucht, durch den Notausgang zu entkommen, hätten dieser aber versperrt vorgefunden. Dann wäre der (hypothetische) Kausalnexus immerhin naheliegend  (wenn auch nicht völlig sicher, denn möglicherweise hätte der Täter sie auch bei geöffneter Tür verfolgen bzw. auf sie schießen können)

Aber auch bei Bejahung der Kausalität hätte nicht ohne Weiteres eine Strafbarkeit des Barbetreibers resultiert.

Als nächstes stellt sich nämlich die Frage, ob der durch die fahrlässige Handlung mitverursachte Erfolg dem Fahrlässigkeitstäter auch objektiv zurechenbar ist.

Dies ist eine durchaus vertrackte Frage, deren Antwort in der juristischen Diskussion umstritten ist, und die praktisch geworden wäre, wenn die Staatsanwaltschaft sich im Hanauer Fall zur Anklage entschlossen hätte.

Es handelt sich um einen Fall der fahrlässigen Nebentäterschaft, aber nicht um den schon „üblichen“ Fall, dass mehrere fahrlässig Handelnde neben- oder nacheinander für denselben Erfolg kausal werden (Beispiele: Duisburger Loveparade 2010, Wuppertaler Schwebebahn), sondern um den Fall, in dem ein fahrlässiger Täter neben einem vorsätzlichen Täter haften soll.

In solchen Fällen kann der vorsätzlich handelnde Täter den nur fahrlässig handelnden Mitverursacher aus dem strafrechtlichen Zurechnungszusammenhang verdrängen.

Die Beantwortung dieser Frage hängt u.a. eng damit zusammen, wie weit der Vertrauensgrundsatz (gemeint ist konkret die Verantwortlichkeit bei gleichzeitigem vorsätzl. Fehlverhalten Dritter) überhaupt reicht, und ob diejenige Sorgfaltsnorm, die die Fahrlässigkeit begründet, zugleich den Schutzzweck hat, vorsätzliche Handlungen Dritter zu verhindern.

1. Zum Vertrauensgrundsatz/hier: Verantwortlichkeit für das vorsätzl. Fehlverhalten Dritter:
Es geht im Hanauer Fall nicht um die Förderung erkennbar Tatgeneigter (ein Beispielsfall wäre der Verkauf gefährlicher Gegenstände oder Gifte, ein anderer wäre der Fall des Vaters eines Amokschützen). Und es geht auch nicht um einen Fall der fahrlässigen Anstiftung.

Vielmehr geht es hier um die Fallkonstellation, in der fahrlässig eine Situation geschaffen wird, die eine Vorsatztat bzw. deren erfolgreiche Ausführung situativ erleichtert. In solchen Fällen wird man regelmäßig eine Zurechnung des Erfolgs zur Fahrlässigkeit verneinen. Roxin wendet sich deshalb m.E. zu recht gegen die Ansicht des Reichsgerichts in RGSt 61, 318. Das RG hatte argumentiert, der Erbauer einer feuergefährlichen Wohnung sei auch dann für den Brandtod seiner Mieter verantwortlich, wenn der Brand vorsätzlich gelegt worden sei (Roxin Strafrecht AT I, § 24 Rz. 33). Roxin hält dagegen: Der Erbauer habe eine vorsätzliche Brandstiftung nicht in Rechnung stellen müssen. Zustimmung verdient laut Roxin aber OLG Stuttgart NStZ 1997, 190 : Das OLG hat einen Angeklagten, der brennbare Stoffe im Hauseingang gelagert hatte, von dem Vorwurf fahrlässiger Tötung freigesprochen, nachdem ein Brandstifter mit diesem Material das Haus in Brand gesteckt hatte – immerhin mit sieben Todesopfern. Eine eingehende und differenzierte Besprechung dieses Falls findet sich auch im gerade erschienen neuen Buch "Strafrecht. Examenswissen. Examenstraining" von Wolfgang Frisch, dort bei Fall 13 auf S.93 ff.

Ich würde den vorliegenden Fall (wenn man die hypothetische Ergänzung vornimmt, s.o.) ähnlich beurteilen: Wegen des Versperrens der Notausgangstür wäre der Wirt zwar bei (zufälliger oder fahrlässiger) Brandentstehung für Todesfälle (mit-)verantwortlich zu machen, nicht aber konnte er ein solches Schusswaffen-Attentat, wie in Hanau geschehen, vorhersehen. Im Ergebnis wäre selbst dann, wenn die Flucht der späteren Opfer tatsächlich am versperrten Notausgang gescheitert wäre, eine Wahrscheinlichkeit der Verurteilung zu verneinen gewesen. 

2. Zum Schutzzweck bzw. normativer Pflichtwidrigkeitszusammenhang:
Zum gleichen Ergebnis kommt die Schutzzweck-Betrachtung. Die Pflicht zur Einrichtung von Fluchtwegen und deren Freihaltung besteht aus Brandschutzgründen. Ein Brand hat allerdings gar nicht vorgelegen. Deshalb fehlt es am Pflichtwidrigkeitszusammenhang, der eine wesentliche Komponente der strafrechtlichen Haftung für fahrlässiges Verhalten ist.

Abschließende Anmerkungen: Der gesamte Bereich, der die fahrlässige Beteiligung bzw. Mitverursachung an vorsätzlich von Dritten herbeigeführten tatbestandlichen Erfolgen betrifft, ist aber nicht so eindeutig geklärt, dass man mit wenigen Daumenregeln schon endgültige Ergebnisse erzielen kann.

Deshalb bin ich gespannt auf Ihre Diskussionsbeiträge und Kommentare, wobei wie immer gilt: Bitte sachlich bleiben und beim Thema.

Ergänzung am 1. Dezember 2022:

Wie ich aus zuverlässiger Quelle erfahren habe, gab es doch recht sichere Anzeichen dafür, dass der Notaugang generell verschlossen war und es auch an konkret diesem Abend war. Die Gäste wussten offenbar darüber Bescheid. Deshalb habe ich meine obigen Ausfühtungen an den entsprechenden Stellen ergänzt/korrigiert. An dem Problem des Zurechnungszusammenhangs bei fahrlässiger Erleichterung einer vorsätzlichen Tat (siehe oben II.) kommt man trotzdem m.E. kaum vorbei.

 

Diesen Beitrag per E-Mail weiterempfehlenDruckversion

Hinweise zur bestehenden Moderationspraxis
Kommentar schreiben

8 Kommentare

Kommentare als Feed abonnieren

Das ist ein besonders abwegiges Kausalitätsverständnis, weil jeweils eine Reversursache durch eine andere widerlegt wird. Ob die Tür tatsächlich verschlossen war, ist nur ein denkbarer Vorwurf. Der andere denkbare Vorwurf ist, dass die Tür generell verschlossen war und deshalb nicht als Fluchtweg angesehen wurde. Beides wären (das dürfte wohl unstrittig sein) objektiv pflichtwidrige Zustände. Der "Erfolg" wäre nur dann ausgeblieben, wenn einer der Vorwürfe tatsächlich nicht vorlag. Wäre z.B. der Fluchtweg tatsächlich an diesem Tag offen gewesen, so wäre das generelle Versperren nur eine versuchte fahrlässige Tötung, die bekanntlich nicht strafbar ist (oder gar nicht exisitert). Der Beitrag nimmt aber nicht in den Blick, dass beide Vorwürfe einschlägig sein könnten. Das bloße Austauschen zweier Vorwürfe, die für sich den Tatbestand begründen könnten, hindert die Kausalkette nicht.

0

Vielen Dank für Ihren Einwand. Wenn der Notausgang tatsächlich "allgemein bekanntermaßen" verschlossen war oder dies sogar vom Personal angekündigt gewesen wäre, wäre dies in der Tat eine andere Ursache, die man zu berücksichtigen hätte.  Insofern muss ich einräumen, dass mein Beirtrag dies etwas verkürzt darstellt. ich habe nur darauf abgestellt, dass die Frage, ob der Notausgang an diesem Tag offen oder verschlossen war, irrelevant wäre. 

Um auf Ihren Einwand zu antworten: Ja, wenn diese Annahme (Notausgang ist nicht verfügbar) vom Betreiber (oder auf seine Veranlassung) so verbreitet worden wäre, dann wäre er DAFÜR verantwortlich zu machen. Seine Strafbarkeit hinge immer noch davon ab, ob der Notausgang mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit vor dem Attentäter gerettet hätte. Aber dann wäre es wiederum unerheblich gewesen, ob der Notausgang an diesem Tag zufällig doch offen gewesen wäre. Denn die Gäste wären dann ja gar nicht durch den realen Zustand des Notausgangs an diesem Tag an der Flucht in diese Richtung gehindert worden, sondern durch die eigene Überzeugung, dass dieser Fluchtweg nicht existiert.

Ein kluger Strafverteidiger würde allerdings dann den Einwand der eigenverantwortlichen Selbstgefährdung formulieren, in Analogie dazu: Ein Erwachsener, der bewusst unangeschnallt in einem Fahrzeug mitfährt, das keinen funktionierenden Sicherheitsgurt hat, sei für den Körperschaden, den er selbst dadurch bei einem Unfall erleidet, selbst verantwortlich. Hier ergeben sich ähnliche Abgrenzungschwierigkeiten in der strafrechtlichen Erfolgszurechnung wie sie der vorliegende Fall aufwirft.

Flucht- und Rettungswege dienen einer Evakuierung unabhängig vom Grund der Evakuierung und nicht nur im Brandfall. Zitat aus obigem Beitrag: „Der Notausgang war für uns keine Option, weil jedem klar war, dass er zu ist“, sagte Said Etris Hashemi." Gekennzeichnete Notausgänge müssen im Betrieb offen und unversperrt sein; das Leben von Menschen hängt davon ab. Wenn ein Gastronom Zechprellerei fürchtet, kann eine Überwachungskamera aufgehängt werden; wenn Polizei bei einer Razzia ein Entweichen befürchtet, dann muss halt ein Beamter die Entweichenden aufhalten. Niemals aber darf Menschen das Überleben technisch unmöglich gemacht werden. Die öffentliche und daher allen Gästen bekannte Blockade von Notausgängen führt also dazu, dass die Gäste wissen, dass sie den Notausgang nicht nutzen können und sterben müssen. Die umfangreiche Bekanntgabe des rechtwidrigen Blockierens des Notausgangs führt also nach obiger juristischer Argumentation zur Straffreiheit, das Risiko wird vom Opfer getragen. Rechtskonform wäre gewesen, wenn das Gastronomiepersonal eingewiesen wäre in eine Evakuierung und in diesem Notfalle alle Gäste aufgefordert hätte, sofort durch den Notausgang zu flüchten.

Das ist juristisch interessant. Wenn ein Schiff keine ausreichenden Rettungsboote hat und die Reederei dies kundtut und die Passagiere garnicht versuchen in die nicht vorhandenen Rettungsboote zu gehen und mit dem Schiff untergehen, dann geht eine solche Reederei straffrei aus? Das deutsche Rechtssystem steht irgendwie nie auf Seite der Opfer und schützenswerter Güter wie menschlichem Leben. Durch Verstoß gegen Gesetze beizutragen zum Tod von Menschen ist nach obiger Auffassung eine Ordnungswidrigkeit und daher unternehmerisch jederzeit riskierbar, insbesondere wenn man hierzu als Unternehmer die Mitarbeiter nur mündlich anweist. Wie beim Loveparade-Prozess ist obiges Urteil ein erneuter Schlag ins Gesicht der Opfer.

In eigener beruflicher Praxis habe ich erlebt, dass ich das Freihalten von Notausgängen gegen die Feuerwehr durchsetzen musste. Gut dass ich jetzt weiß, dass man sich zum Freihalten der Notausgänge auch gegen die Polizei durchsetzen muss. Das nehme ich in die nächste Gefährdungsbeurteilung einer Versammlungsstätte auf.

0

Sehr geehrter Meister, danke für Ihren Diskussionsbeitrag

Flucht- und Rettungswege dienen einer Evakuierung unabhängig vom Grund der Evakuierung und nicht nur im Brandfall.

Dass die Flucht- und Rettungswege auch der Evakuierung in anderen Fällen "dienen", ist nicht dieselbe Fragestellung wie diejenige des Schutzzwecks der NORM, solche EINZURICHTEN.  Aber ich will nicht bestreiten, dass mir dazu nicht alle derartigen Normen - insbesondere nicht die hessischen - bekannt sind.

Gekennzeichnete Notausgänge müssen im Betrieb offen und unversperrt sein; das Leben von Menschen hängt davon ab. Wenn ein Gastronom Zechprellerei fürchtet, kann eine Überwachungskamera aufgehängt werden; wenn Polizei bei einer Razzia ein Entweichen befürchtet, dann muss halt ein Beamter die Entweichenden aufhalten. Niemals aber darf Menschen das Überleben technisch unmöglich gemacht werden.

Selbstverständlich ist das so. Die Verantwortlichkeit wegen fahrlässiger Tötung im konkreten Fall hängt aber vom (ggf. hypothetischen) Kausalverlauf ab, der ex post zu betrachten ist.

Die umfangreiche Bekanntgabe des rechtwidrigen Blockierens des Notausgangs führt also nach obiger juristischer Argumentation zur Straffreiheit, das Risiko wird vom Opfer getragen.

Nein, das haben Sie missverstanden: Wer (ob den Tatsachen entsprechend oder nicht) jemandem sagt, es gebe keinen Notausgang bzw. dieser sei versperrt, kommt durchaus grds. in die Haftung, unabhängig davon, ob es stimmt oder nicht. Im Beitrag habe ich nur geschrieben, dass es auf den tatsächlichen Zustand des Ausgangs an diesem Abend dann nicht ankommt.

Das ist juristisch interessant. Wenn ein Schiff keine ausreichenden Rettungsboote hat und die Reederei dies kundtut und die Passagiere garnicht versuchen in die nicht vorhandenen Rettungsboote zu gehen und mit dem Schiff untergehen, dann geht eine solche Reederei straffrei aus?

Nein. Es handelt sich um drei unterschiedliche Fälle, die jeweils verschieden zu beurteilen sind:

1. Wenn es keine ausreichenden Rettungsboote gibt, aber die Passagiere ohnehin - aus welchen Gründen auch immer - nicht in Richtung der Rettungsboote gegangen sind, dann ist das eine Unterbrechung des (hypoth.) Kausalverlaufs. Auf das tatsächliche Vorhandensein der Boote kommt es dann nicht an.

2. Wenn das Personal SAGT, es gebe keine ausreichenden Rettungsboote und die Passagiere DESHALB nicht zu den Rettungsbooten gehen, ist das Personal verantwortlich. Auf das tatsächliche Vorhandensein der Boote kommt es wiederum nicht an.

3. Wenn keine ausreichenden Boote vorhanden sind und die Passagiere, die sich zu den Booten begeben haben, DESHALB nicht alle gerettet werden können, ist die Reederei/Kapitän/Sicherheitsmanager verantwortlich. Hier kommt es auf das Vorhandensein der Boote an.

Das deutsche Rechtssystem steht irgendwie nie auf Seite der Opfer und schützenswerter Güter wie menschlichem Leben. Durch Verstoß gegen Gesetze beizutragen zum Tod von Menschen ist nach obiger Auffassung eine Ordnungswidrigkeit und daher unternehmerisch jederzeit riskierbar, insbesondere wenn man hierzu als Unternehmer die Mitarbeiter nur mündlich anweist.

Das ist nicht so. Aber natürlich muss zum Tod "beigetragen" worden sein, wie Sie schreiben. Darin steckt ja genau die Kausalitätsfrage, die hier beantwortet werden muss. Bei § 222 StGB haftet man eben nicht für jeden Fehler, sondern nur für diejenigen, die im konkreten Fall auch wirklich zum Tod beigetragen haben. Es gibt mit § 222 StGB keine Universalhaftung für Fehler, sondern nur für welche, die (nach ex post-Betrachtung) kausal für den Tod geworden sind. Deshalb ist auch nichts derartiges ex ante  "riskierbar", wie Sie schreiben.  

Wie beim Loveparade-Prozess ist obiges Urteil ein erneuter Schlag ins Gesicht der Opfer.

Es handelt sich hier NICHT um ein Urteil (sondern eine staatsanwaltliche Einstellung des Verfahrens) und auch im Loveparade-Prozess gab es kein Urteil (sondern eine gerichtliche Einstellung des Verfahrens). Im Loveparade-Prozess wurde aus denselben Gründen aber schon nicht ermittelt/angeklagt wegen der (z.T. fehlenden) hinreichenden  Notausgänge oben auf dem Gelände, weil diese Pflichtwidrigkeit eben NICHT kausal war für das Geschehen im Eingangs-/Ausgangsbereich. Dort lagen nach meiner Auffassung aber hinreichend andere kausal gewordene Fahrlässigkeiten vor, wofür man  hätte Verantworliche (aus Veranstalter, Stadt und Polizei) verurteilen können. Wie Sie wissen, ist der Prozess an anderen Umständen gescheitert. Aber es handelte sich, anders als in Hanau, dort auch nicht um einen vorsätzlichen Anschlag eines Dritten, weshalb der Einwand der Zurechnungsunterbrechung dort nicht galt.

In eigener beruflicher Praxis habe ich erlebt, dass ich das Freihalten von Notausgängen gegen die Feuerwehr durchsetzen musste. Gut dass ich jetzt weiß, dass man sich zum Freihalten der Notausgänge auch gegen die Polizei durchsetzen muss. Das nehme ich in die nächste Gefährdungsbeurteilung einer Versammlungsstätte auf.

Dass die Polizei Fluchtwege nicht immer ernst nimmt, fiel auch schon bei der Loveparade auf.

Im Übrigen sind wir uns ja bei der Strenge, mit der Rettungswege eingehalten werden müssen, durchaus einig. Es ist aber eine andere Frage, ob und inwieweit die Pflichtwidrigkeit im konkreten Fall zur strafrechtlichen Verantwortlichkeit führt.

Besten Gruß

Henning Ernst Müller

Das ganze Ermittlungsverfahren erstaunt etwas. Im Zusammenhang mit den Morden in Hanau sind wieder einmal wilde Behauptungen aufgestellt worden, offenbar ohne jeden Beleg (Ausgang verschlossen, das auch noch auf Betreiben der Polizei) und ohne dass es irgendeine Anfangswahrscheinlichkeit für ihre Richtigkeit gegeben hat. Dann stellt sich auch noch heraus, dass niemand überhaupt in Richtung des Notausgangs geflohen ist. Dennoch wird das in die Beschwerde und ggf noch ins Klageerzwingungsverfahren getrieben.  Ebenso wie bei der Notruf-Frage (selbst wenn die Notrufzentrale nicht ausreichend besetzt war, sind doch Notrufe eingegangen und wäre die Polizei nicht schneller da gewesen, um weitere Taten zu verhindern) wird von Seiten der Opferangehörigen (unterstützt durch Leute, die ohnehin überall finstere Polizeimachenschaften aufgrund strukturellen Rassismus'  vermuten, wie etwa eine Notausgangverschließanordnung) ein Verfahren betrieben ,um irgendwelche vermeintlich (Mit)schuldigen zu finden.

Ich weiß nicht, ob auch eine Strafanzeige gegen den GBA erstattet wurde, der nach Eingang eines Schreibens des Mörders die Morde auch nicht verhindert hat.

0

Kommentar hinzufügen