Energiesicherungsrecht: Was passiert, wenn die Notfallstufe greift? – „Die Unsicherheit ist riesengroß“

von Gastbeitrag, veröffentlicht am 29.02.2024
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Dr. Stephan Gerstner | Energiesicherungsrecht

Interview mit Rechtsanwalt Dr. Stephan Gerstner, Mitherausgeber des Kommentars Gerstner/Gundel, Energiesicherungsrecht bzw. des BeckOK Energiesicherungsrecht  

Was waren und sind derzeit die größten Herausforderungen, die Ihre Mandanten beim Energiesicherungsrecht verzweifeln lassen? 

Dr. Gerstner: Die größte Herausforderung ist die Unsicherheit. Die Mandanten fragen sich: Was kommt als nächstes? Worauf müssen wir uns einstellen? Was ist sinnvoll im Hinblick auf eine mögliche Mangellage und die Notfallstufe? Die zweite große Herausforderung, die sich besser eingrenzen lässt, weil sie nicht so diffus ist, ist der Umgang mit den Bremsengesetzen, also mit der Strompreisbremse, der Erdgas- und Wärmepreisbremse. Diese Gesetze sind einzigartig in der EU: Diese Strompreisreduktion – als Bestandteil des viel zitierten „Doppel-Wumms“ – gab es in anderen Mitgliedstaaten nicht. Leider ist der Abwicklungsprozess sehr kompliziert. Obwohl die Strompreisbremsen ausgelaufen sind, beschäftigt der Prozess die Unternehmen nach wie vor.  

Warum?  

Dr. Gerstner: Unternehmen müssen eine Selbsterklärung abgeben, damit die Strompreisreduktion auch rückwirkend Bestand hat und sie das eingesparte Geld nicht zurückzahlen müssen. Für energieintensive Unternehmen geht es hier um enorm hohe Summen. Die Bremsengesetzen mussten von der Europäischen Kommission abgesegnet werden, weil sie – soweit sie Unternehmen begünstigen – staatliche Beihilfen darstellen. Es muss jetzt sichergestellt werden, dass die im EU-Beihilferahmen vorgesehenen Höchstgrenzen nicht überschritten werden. Leider hat der Gesetzgeber diesen Prüfprozess, den jetzt zwei Wirtschaftsprüfer übernommen haben, nicht bis zum Ende dekliniert, was möglicherweise in der Schnelle der Zeit auch gar nicht ging.  

Inwiefern beeinflussen die europäischen Vorgaben zur Energiesicherung die nationale Gesetzgebung? 

Dr. Gerstner: In sehr hohem Maße. Dass der lebenswichtige Bedarf bei einer Notfallstufe bis zuletzt geschützt ist, ist ein Gedanke aus dem Europarecht. Es war ein guter Kunstgriff des Gesetzgebers, dass in das Energiesicherungsgesetz aus den 1970ern, das bis zum russischen Angriff auf die Ukraine vor sich hindämmerte, die europäischen Regelungsmechanismen integriert wurden. Das ist über den Umweg des nationalen Notfallplans nach unserer Auffassung gemäß der rechtsstaatlichen und demokratischen Grundsätze machbar. Auch das Ausrufen der Alarmstufe, in der wir uns immer noch befinden, geht auf den europäischen Notfallplan und die europäische SoS-Verordnung zurück, also eine unmittelbar wirkende Verordnung, die das Energiesicherungsrecht von Anfang bestimmt hat. Die SoS-Veordnung hat übrigens eine wunderbare Doppelbedeutung im Akronym. Man assoziiert sofort das Wort Notfall, gemeint ist damit aber Security of Supply, also die Versorgungssicherheit.  

Wer erhält nun konkret weiter beispielsweise Gas, wenn es zum Notfall kommt?  

Dr. Gerstner: Der nationale Notfallplan wurde überarbeitet – dass das notwendig ist, darauf haben wir im Kommentar immer wieder hingewiesen. Die Abschaltreihenfolge wird näher präzisiert. Wenn die Notfallstufe ausgerufen würde, müsste die Bundesnetzagentur bestimmen, wo können und wo müssen wir den Gasbezug einschränken und wo dürfen wir ihn nicht einschränken. Der lebenswichtige Bedarf kommt bis zuletzt zum Zuge, da darf erst gekürzt werden, wenn alle anderen Mittel ausgeschöpft werden.  

Können Sie hier ein Beispiel nennen?  

Dr. Gerstner: Ein Beispiel sind die Herstellung und die Verteilung der lebenswichtigen Mengen an Grundnahrungsmitteln. Generell ist bei der Abwägungsentscheidung, wie die knappen Mengen verteilt werden, wichtig, die jeweils konkrete Gefährdungslage im Blick zu behalten: So kann beispielsweise die Menge an verfügbarem Gas die Abschaltreihenfolge ebenso beeinflussen wie die vermutliche Dauer der Notfalllage. Diese Aspekte werden auch in der vierten Edition des BeckOK Energiesicherungsrecht vertieft.   

In Ihrem Kommentar schreiben Sie, dass die hektischen Änderungen beim Energiesicherungsrecht und anderer energierechtlicher Bestimmungen in Folge des russischen Angriffs auf die Ukraine gezeigt haben, dass der Instrumentenkasten nicht auf alle Eventualitäten vorbereitet war. Ist nun – zwei Jahre später, im Februar 2024 - das Energiesicherungsrecht besser gewappnet? Ist der Instrumentenkasten besser gefüllt?  

Dr. Gerstner: Eindeutig ja. Der Gesetzgeber hat nicht nur an der einen oder anderen Stelle die Ermächtigungsgrundlagen aus den 1970er-Jahren nachgeschärft, sondern er hat einen neuen Abschnitt geschaffen, in dem er auf gesetzlicher Ebene neue Möglichkeiten zur Bewältigung der Krise geregelt hat, zum Beispiel die Treuhandverwaltung – Unternehmen, bei denen man davon ausgegangen war, dass sie – salopp gesagt – in russischer Hand sind, konnte man in die Treuhandverwaltung überführen und hat dadurch Möglichkeiten geschaffen, Enteignungen vorzunehmen, um die Infrastruktur, um die Bereitstellung von Energie entsprechend steuern zu können. Diese Instrumente waren der Sachlage angemessen und erforderlich und würden uns für den Fall, dass es tatsächlich zur Notfallstufe kommen würde, deutlich besser wappnen als es zu Beginn dieses hektischen Gesetzgebungsprozesses der Fall gewesen ist.  

Der BeckOK Energiesicherungsrecht, der nun auch in gedruckter Fassung vorliegt, ist die erste vollständige Kommentierung des Energiesicherungsgesetzes, des Strompreisbremsengesetzes und des Erdgas- und Wärmepreisbremsengesetzes. Wer profitiert von der Kommentierung? 

Dr. Gerstner: Der einzige Kommentar auf dem Markt zu diesem Thema ist insbesondere für drei Gruppen relevant: die Unternehmen, die Behörden und die Institutionen, die als Prüfbehörden fungieren, sowie die Wissenschaft. 

Vielen Dank für das Gespräch.

(Interview: TF)

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Ich weise hin auf die Entscheidung des BVerfG, 21.12.2022 - 2 BvR 378/20 – dejure.org Bekanntlich hat das BverfG mit dieser Entscheidung einen ganzen Stall voll Straftatbestände erfüllt, u.a. sukzessive Beihilfe zum Mord. Die Mörder hatten von Anfang an darauf spekuliert, dass der Rechtsstaat auch in ihrem Fall nicht funktionieren würde und sie für ihren Mord nie zur Rechenschaft gezogen werden würden. Indem das BverfG durch das Zunichtemachen aller Möglichkeiten zur Aufklärung des Mordes diese Spekulation wahr werden lässt, begeht das BverfG Sukzessive Beihilfe zum Mord.

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An dem aktuellen Beispiel dieses Justizskandals kann man sehen, wie wichtig ein funktionierendes Verfahren der Klageerzwingung nach den Vorschriften der Verwaltungsgerichtsordnung wäre:

Beschwerden verworfen: Keine Ermittlungen nach Antisemitismus-Eklat bei documenta (msn.com)

Gericht bestätigt: Keine Antisemitismus-Ermittlungen gegen Documenta-15-Künstler (msn.com)

KURZMELDUNGEN - Kultur: Keine Ermittlungen nach Antisemitismus-Eklat bei documenta (msn.com)

Documenta: Kunst, Justiz und Judenhass | Jüdische Allgemeine (juedische-allgemeine.de)

Jerzy Montag [ˈjεʒɨ] (* 13. Februar 1947 in KatowicePolen) ist ein deutscher Politiker (Bündnis 90/Die Grünen).

Sonderermittler

Montag war neben Manfred Nötzel einer der beiden Sonderberater des Landtags von Sachsen-Anhalt zum Fall Ouri Jallow. Bei der Vorstellung des Abschlussberichts am 28. August 2020 warf er der Polizei fehlerhafte bzw. rechtswidrige polizeiliche Maßnahmen vor, sah allerdings keine Ansätze für neue Ermittlungen.[7] Obwohl zum Zeitpunkt der Erstellung des Sonderberichts bereits durch mehrere wissenschaftliche Gutachten nachgewiesen worden war, dass Ouri Jallow sich in seinem gefesselten Zustand gar nicht selbst angezündet haben konnte und damit das staatliche Narrativ von einer Selbstentzündung nach Art eines sommerlichen Heuballens widerlegt worden war, stellte Jerzy Montag aus politischem Kalkül alle Mordvorwürfe gegen die diensthabenden Polizeibeamten wider jedes bessere Wissen in Abrede.[8]

Einzelnachweise

  1.  Christian Jakob: Jerzy Montag über Fall Ouri Jallow: „Keine zweite Anklage“. In: Die Tageszeitung: taz. 29. Oktober 2019, ISSN 0931-9085 (taz.de [abgerufen am 28. August 2020]).

  2.  Juristische Ausführungen zum Fall Ouri Jallow, abgerufen am 14. August 2024

In meinem Verteiler befindet sich seit letzten Herbst u.a. auch Katharina Schulze. Das Problem, dass das eMail-Postfach des Adressaten überläuft und deswegen Mails an mich zurückkommen, kenne ich gut von besagter Katharina Schulze. Das war im Fall von Katharina Schulze bisher zwei Mal der Fall, um Neujahr herum und zuletzt Ende Juni. Das einzige, was ich von Katharina Schulze höre, sind von Zeit zu Zeit automatisierte Abwesenheitsagenten ihrer Mitarbeiter, wenn sich der betreffende Mitarbeiter allgemein, offenbar an alle in seinem elektronischen Adressbuch, in den Urlaub oder sonstwohin verabschiedet. Sonst höre ich von Katharina Schulze nichts, gar nichts, und ich wüsste auch nicht, warum sich das in Zukunft nochmal ändern sollte.

Ist hier gerade die Rede von der Zeitenwende?

Der Aufsatz HRRS 2016, 29 stellt die Verfahren nach den §§ 172 ff StPO auf eine gesetzliche Grundlage.

So allmählich sieht ja auch die Justiz ein, dass die Klageerzwingung einer gesetzlichen Grundlage bedarf: VIS Berlin - 80/22 | Verfassungsgerichtshof des Landes Berlin | Beschluss | Verfassungswidrige Zurückweisung eines Klageerzwingungsantrags aufgrund überspannter ...

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