Loveparade 2010 - Hauptverhandlung in Düsseldorf. Die Besetzungsrüge der Verteidigung

von Prof. Dr. Henning Ernst Müller, veröffentlicht am 15.12.2017
Rechtsgebiete: StrafrechtKriminologieStrafverfahrensrecht21|12605 Aufrufe

Die Verteidigung im Loveparade-Strafverfahren hat gestern eine Besetzungsrüge eingelegt und begründet. Während einige diesen Antrag und insbesondere dessen mehrere Stunden in Anspruch nehmende Begründung als Zeichen des Beginns einer Verzögerungsstrategie der Verteidigung ansahen und schon deshalb inhaltlich nicht besonders ernst nahmen, lassen Andeutungen in der Presseberichterstattung darauf schließen worum es ging. Und das ist keineswegs so leicht zur Seite zu wischen.

Kern der Rüge ist § 210 Abs.3 StPO, eine Norm, die 1942 (!) in die Strafprozessordnung aufgenommen wurde und die es dem Beschwerdegericht ermöglicht („kann“), das Hauptverfahren vor einem anderen Gericht bzw. „einer anderen Kammer“ zu eröffnen als derjenigen, die das Verfahren zunächst nicht eröffnet hat.

Ich muss zugeben, dass mir die Problematik im April 2017, als der Eröffnungsbeschluss des OLG Düsseldorf erging, nicht sofort auffiel. Das OLG Düsseldorf hat ja nichts anderes getan als dem Gesetzeswortlaut nach eben „bei einer anderen Kammer“ zu eröffnen, nämlich der jetzt verhandelnden sechsten Kammer des LG Duisburg (die fünfte Kammer hatte die Eröffnung abgelehnt).

Jedoch stecken in diesem auf den ersten Blick gesetzeskonformen Beschluss gleich zwei nicht ganz unproblematische Entscheidungen des OLG-Senats, die deshalb nicht zu Unrecht von der Verteidigung aufgegriffen worden sind.

1. Die Regelung des § 210 Abs.3 StPO wird in der Wissenschaft von einigen als Verstoß gegen Art. 101 Abs.1 S. 2 GG angesehen. Ein Grund wie bei § 354 Abs.2 StPO (Zurückverweisung an eine andere Kammer nach erfolgreicher Revision) bestehe nämlich nicht, denn das Eröffnungsgericht sei regelmäßig eben nicht in der Sache als „befangen“ anzusehen, da mit der (Nicht-)Eröffnung nur eine vorläufige Einschätzung abgegeben werde. Zudem sei das Tatgericht nach der Eröffnung, anders als im Falle der Revision, auch nicht an die sachlich-rechtliche Auffassung des Beschwerdegerichts gebunden. Diese Auffassung wird mit beachtlichen Argumenten von Seier (StV 2000, 586) vertreten; ebenso von Sowada (S. 802) in seiner maßgebenden Habilitationsschrift zum gesetzlichen Richter im Strafverfahren. Wohl die Mehrheit des Schrifttums und auch die bisherige Rechtsprechung ist hingegen der Ansicht, man könne die Norm verfassungskonform auslegen, indem man für die Entscheidung des Beschwerdegerichts, vor einer anderen Kammer zu eröffnen, besondere Sachgründe verlangt; solche Sachgründe hat das OLG in seinem Beschluss auch angeführt.
Das BVerfG hat jedenfalls im Jahr 2000 eine Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen, die sich gegen § 210 Abs.3 StPO richtete und dabei auf eine frühere Entscheidung aus dem Jahr 1966 Bezug genommen, in der das BVerfG § 354 Abs.2 StPO für verfassungsgemäß angesehen hat. Auch der BGH und mehrere OLG-Entscheidungen bestätigen die Gültigkeit des § 210 Abs.3 StPO.

2. Eine zweite Frage ist die, ob das Beschwerdegericht, wie es das OLG Düsseldorf in seinem Beschluss getan hat, selbst die „andere Kammer“ bestimmen kann, vor der das Hauptverfahren stattzufinden hat. Nach sämtlichen Kommentaren zu § 354 Abs.2 StPO verweist das Revisionsgericht nur an eine „andere Kammer“, die Auswahl dieser anderen Kammer trifft der Geschäftsverteilungsplan des zuständigen Landgerichts, der eben für diese Fälle eine Auffangzuständigkeit zu regeln hat. Im Schrifttum wird dies auch bei § 210 Abs.3 StPO so gesehen. Schließlich ist der Wortlaut (Zurückverweisung an eine andere Kammer“) der gleiche und dafür, dass das Beschwerdegericht sich die Kammer aussuchen kann, spricht wenig angesichts des Art. 101 Abs.1 S. 2 GG.

Allerdings ist über diese Frage bereits einmal im Jahr 1970 vom BGH entschieden worden. Auch damals ging es um einen Fall der fahrlässigen Tötung (Skiabfahrt bei einer Bergbahn). Der BGH zur gerügten Kammerauswahl durch das Beschwerdegericht:

„Es trifft zu, dass die Strafsenate des Bundesgerichtshofs in den entsprechenden Fällen des § 354 Abs. 2 StPO - deren Regelung mit Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG vereinbar ist (vgl. für § 354 Abs. 2 StPO a.F.: BVerfGE 20, 336) - sich auf den Ausspruch beschränken, dass die Sache an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen wird. Dabei gehen sie davon aus, dass es Aufgabe der landgerichtlichen Geschäftsverteilung ist, im Einzelnen die für diese Zurückverweisungen zuständige Kammer zu bestimmen. Regelt die Geschäftsverteilung des Landgerichts diesen Fall jedoch nicht und würde das Revisionsgericht die Sache an eine bestimmt bezeichnete Strafkammer zurückverweisen, könnten unter dem Gesichtspunkt des gesetzlichen Richters - wie bei der Zurückverweisung an ein anderes Gericht (BVerfGE 20, 336, 346) - Bedenken nur erhoben werden, wenn die Auswahl dieser Kammer auf sachfremden Erwägungen, also auf Willkür beruht hätte. Das gilt entsprechend auch für die Anordnung gemäß § 210 Abs. 3 StPO, dass die Hauptverhandlung vor einer anderen Kammer des Gerichts stattzufinden hat. Die Tatsache, dass es sich insoweit bei § 354 Abs. 2 StPO um eine Muss-, bei § 210 Abs. 3 StPO aber um eine Kannvorschrift handelt, ist dabei ohne Bedeutung. Da hier die landgerichtliche Geschäftsverteilung keine Regelung darüber enthielt, welche Kammer in einem solchen Fall zuständig ist, war das Oberlandesgericht nicht gehindert, die Durchführung der Hauptverhandlung vor der 1. Strafkammer anzuordnen. Dass es hierbei willkürlich verfahren wäre, ist nicht ersichtlich und von dem Beschwerdeführer auch nicht behauptet worden.“ (BGH Urt. v. 13.11.1970, Az.: 1 StR 412/70 (bei Jurion))

Der BGH sieht also die Grenze zur Rechtswidrigkeit erst erreicht, wenn die Entscheidung des Beschwerdegerichts „willkürlich“ ist. Daraus erklärt sich, dass die Verteidigung versuchte, eine solche Willkür darzustellen (Quelle: RP).

Trotz dieser BGH-Entscheidung tendiere ich auch dazu, den Kritikern des § 210 Abs.3 StPO zuzustimmen und halte zumindest die Auswahl einer bestimmten Kammer durch das Beschwerdegericht für sehr bedenklich.

Interessant: Es besteht hier die Chance, einmal grundsätzliches zu § 210 Abs.3 StPO zu sagen, an einem Beispiel, in dem die Anwendung dieser problematischen Vorschrift wirklich etwas bedeutet. Meine (äußerst vorläufige) Einschätzung zum vorliegenden Verfahren ist, dass § 210 Abs.3 StPO als verfassungsgemäß bestätigt wird und auch die konkrete Auswahl der Kammer durch das Beschwerdegericht als rechtmäßig angesehen wird (ähnlich sieht es wohl Thomas Feltes in seinem Loveparade-Blog). Dazu wird man sich auf BGH und BVerfG berufen, die bislang offenbar keine durchgreifenden Bedenken gegen diese Norm und ihre Anwendung hatten.

Verfährt man so, dann wird sich der BGH möglicherweise in der Revision mit der Frage beschäftigen müssen (was übrigens wegen § 78 Abs.3 StGB die Verjährung nicht mehr betrifft).

Wie ist die Einschätzung der praxiserfahrenen Leser/innen dazu?

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Link zum Hauptartikel zum Beginn der Hauptverhandlung in der Sache Loveparade 2010

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21 Kommentare

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Trotz dieser BGH-Entscheidung tendiere ich auch dazu, den Kritikern des § 210 Abs.3 StPO zuzustimmen und halte zumindest die Auswahl einer bestimmten Kammer durch das Beschwerdegericht für sehr bedenklich (ähnlich sieht es wohl Thomas Feltes in seinem Loveparade-Blog).

Ich stimme Ihnen völlig zu! Im dortigen Blog wird von Kolos, den wir auch hier kennen, schon wieder argumentiert, es sei Rechtsmißbrauch seitens der Verteidigung, das zu rügen. Muß eigentlich jede juristische Frgae zwischenzeitlich mit  Rechtsmißbrauch gelöst werden? Gibt es kein Gesetz und keine Verfassung mehr, sondern nur noch "Rechtsmißbrauch" nach Gusto der jeweiligen nach gesundem Volksempfinden etc. "venünftigen" Mehrheit o. ä.? Das ist keine Juristrerei, sondern Schaumschlägerei.

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Wenn das Rechtsmissbrauch wäre, dann könnte man die Strafverteidigung gleich ganz abschaffen. Es ist selbstverständlich das Recht der Verteidigung,  die Anwendung dieser Norm (§ 210 Abs.3 StPO) zu rügen, eigentlich sogar - im Sinne der Mandanten - ihre Pflicht. Immerhin wird in dem verbreitetsten StPO-Kommentar, also derjenige, der auf jedem Richtertisch steht, vertreten, das § 210 Abs.3 StPO es dem Beschwerdegericht nicht erlaubt, die konkrete Kammer zu bestimmen (Meyer-Goßner/Schmitt zu § 210 StPO Rn.8: "Vor einer bestimmten StrK wird auch dann nicht eröffnet, wenn der Geschäftsverteilungsplan keine Ausweichkammer vorsieht").

Trotz dieser BGH-Entscheidung tendiere ich auch dazu, den Kritikern des § 210 Abs.3 StPO zuzustimmen und halte zumindest die Auswahl einer bestimmten Kammer durch das Beschwerdegericht für sehr bedenklich (ähnlich sieht es wohl Thomas Feltes in seinem Loveparade-Blog).

Nun ja, andererseits hat sich das OLG wohl einfach an dem Geschäftsverteilungsplan des Landgerichts Duisburg orientiert. Dieser sah im Jahr 2017 für den Fall einer "Zurückverweisung durch das Revisionsgericht oder das Bundesverfassungsgericht" in I D 1 vor, dass für die zurückverwiesenen Sachen der 5. Strafkammer die 6. Strafkammer zuständig ist.

Man könnte also argumentieren, dass - falls die Auswahl durch das OLG falsch war - sich dieser Fehler jedenfalls nicht ausgewirkt hat, da auch das LG in der Geschäftsverteilung sicher so entschieden hätte. Die Regelung in I D 1 ist jedenfalls dem Fall des § 210 Abs.3 StPO so ähnlich, dass ihre entsprechende Anwendung kaum eine Willkür darstellen kann.

 

Nun ja, andererseits hat sich das OLG wohl einfach an dem Geschäftsverteilungsplan des Landgerichts Duisburg orientiert. Dieser sah im Jahr 2017 für den Fall einer "Zurückverweisung durch das Revisionsgericht oder das Bundesverfassungsgericht" in I D 1 vor, dass für die zurückverwiesenen Sachen der 5. Strafkammer die 6. Strafkammer zuständig ist.

In den Jahren 2014 (S. 13), 2015 (S. 11) und 2016 (S. 13) gab es diese oder eine entsprechende Bestimmung noch nicht! Erst im Jahr 2017 hat man daran "gedacht". Warum wohl? Honi soit qui mal y pense. Ein weites Feld für findige Verteidiger...

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Genaugenommen habe ich geschrieben: "knapp an der Grenze zum Rechtsmissbrauch". Das vor allem wegen des Umfangs. Begründet ist der Antrag doch nur dann, wenn die Zurückverweisung an eine andere Kammer (210 III StPO) oder konkret an die 6. Kammer willkürlich war. Laut Pressemitteilungen stützt der Antragsteller seinen Antrag auch auf Willkür. Es gibt aber erkennbar vertretbare Gründe für die Zurückverweisung an eine andere Kammer. Das OLG hat seine Entscheidung vom 18.04.2017 dazu ausführlich begründet. Es gibt auch einen vertretbaren Grund für die Zurückverweisung an die 6. Kammer. Zwar enthält der Geschäftsverteilungplan für 2017 keine Zuständigkeitsregelung nach Zurückverweisung gem. 210 III StPO, sondern nur nach 354 Abs. 2 StPO. Deswegen ist diese Regelung analog auch für die Zurückverweisung nach 210 III StPO anwendbar. Danach wäre die 6. Kammer zuständig. (so auch im Ergebnis  @Cage_and_Fish s.o.)

Aber selbst dann, wenn man die OLG-Entscheidung zur Zurückverweisung für willkürlich halten will und sich eine Besetzungsrüge nicht verkneifen kann, nichts lässt sich in der Regel kürzer begründen als Willkür. Das liegt in der Natur der Sache. Um zu begründen, dass eine Entscheidung willkürlich, weil unter keinem denkbaren Aspekt noch rechtlich vertretbar ist, dazu bedarf es keine 74 Seiten und drei Stunden Sitzungszeit zum Vorlesen. Wenn schon von Schaumschlägerei die Rede ist, dann ist es das.

 

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Sehr geehrter Herr Kolos,

wenn Sie vor allem den Umfang meinten, warum haben Sie dann (drüben im Blog von Thomas Feltes) nicht vor allem mit dem Umfang argumentiert? Sie erwähnen den Umfang mit keinem Wort. Da ich den Text der Besetzungsrüge nicht kenne, weiß ich nicht, wie sie aufgebaut war - vielleicht war sie redundant in der Argumentation, dann hätten Sie mit dem Vorwurf, der Umfang sei grenzwertig, einen Punkt; vielleicht hat man sich aber auch besonders viel Mühe gegeben, denkbare Einwände wie den Ihren zu widerlegen. Sie argumentierten in Ihrem Diskussionsbeitrag v.a. so, dass man daran zweifeln musste, ob sie der Verteidigung überhaupt eine relevante Position im Strafprozess zubilligen: Weil die Rechtsprechung (z.T. aus ganz anderen Konstellationen zitiert) früher eine bestimmte Grenze gezogen hat, "grenzt" es für Sie schon an Rechtsmissbrauch, wenn die Verteidigung nun in einer Besetzungsrüge mögliche Rechtsfehler beanstandet. Und in der Revisionsinstanz heißt es dann womöglich seitens des BGH, die Verteidigung habe in der Tatsacheninstanz nicht alles korrekt vorgetragen. Was viele Juristen (vor allem Richter) übersehen, ist, dass es z.T. eine Folge der überaus engen BGH-Revisionsrechtsprechung ist, dass nun ellenlange Anträge gestellt werden, um dem BGH nicht die Chance/Ausrede zu geben, eine rechtlich aussichtsreiche Revision aus formalen Gründen abzulehnen.

Besten Gruß

Henning Ernst Müller

Sehr geehrter Gast,

Sie schreiben:

In den Jahren 2014 (S. 13), 2015 (S. 11) und 2016 (S. 13) gab es diese oder eine entsprechende Bestimmung noch nicht!

Sie irren sich. Die Bestimmung findet sich jeweils genau an der Stelle, die Sie zitieren. Es soll bei Zurückverweisung durch das Revisionsgericht/BVerfG jeweils die 6. StrK zuständig sein, wenn zuvor die 5. entschieden hat. Cage_and_Fish argumentiert, dass es nicht willkürlich sei, wenn das Beschwerdegericht nun auch bei Entscheidung gem. § 210 Abs.3 StPO diesen Ersatzspruchkörper annimmt. Ich weiß nicht, was Sie überhaupt sagen wollen, wenn Sie das glatte Gegenteil behaupten von dem, was Sie zitieren.

Wenn Sie meinen, dass die im Geschäftsverteilungsplan 2017 aufgenommene neue Regel:

Die vorstehenden Zuständigkeiten gelten auch, wenn ein Hauptverfahren durch das Beschwerdegericht
gemäß § 210 Abs.3 StPO vor einer anderen Kammer des Landgerichts eröffnet wird.

irgendwie "verdächtig" ist, dann ist dies eben der normale und korrekte verfahrenstechnische Ablauf, der für künftige Verfahren gilt (man verzichtet bislang bei den meisten Landgerichten offenbar darauf, weil der Fall so selten vorkommt, aber diese Bestimmung sollten alle LG in ihren Geschäftsverteilungsplan aufnehmen). Allerdings hat ja in diesem Fall das Beschwerdegericht eben nicht vor "einer anderen Kammer" eröffnet, sondern vor der 6. Strafkammer direkt. Und das ist es eben, was die Verteidigung kritisiert. 

Eher noch erfährt das Argument der "entsprechenden" Anwendung eine Verstärkung, wenn im Jahr 2017 tatsächlich ohnehin schon diese Geschäftsverteilung galt.

Besten Gruß

Henning Ernst Müller

Nur im Geschäftsverteilungsplan 2017 heißt es unter "Zuständigkeit nach Zurückverweisung durch das Revisionsgericht oder das Bundesverfassungsgericht": "Die vorstehenden Zuständigkeiten gelten auch, wenn ein Hauptverfahren durch das Beschwerdegericht gemäß § 210 Abs. 3 StPO vor einer anderen Kammer des Landgerichts eröffnet wird."

Diese Bestimmung gab es in den Geschäftsverteilungsplänen der Jahre 2014 bis 2016 nicht. Wenn man nicht an Zufall glaubt, könnte man denken, dass das LG Duisburg (im Jahr 2016) einen Tipp bekommen hat, eine diesbezügliche Bestimmung vorzusehen.

3

Danke für den Hinweis. Seite 15 des Geschäftsverteilungsplans 2017 habe ich nicht gelesen. Dann bedarf es zur Begründung der Zuständigkeit der 6. Kammer nicht einmal einer analogen Anwendung des Geschäftsverteilungsplans. Der Willkürvorwurf der Verteidigung ist dann also noch unverständlicher.

 

4

Sehr geehrter Gast,

Sie schreiben:

Diese Bestimmung gab es in den Geschäftsverteilungsplänen der Jahre 2014 bis 2016 nicht. Wenn man nicht an Zufall glaubt, könnte man denken, dass das LG Duisburg (im Jahr 2016) einen Tipp bekommen hat, eine diesbezügliche Bestimmung vorzusehen.

Nein, wenn es die Aufgabe des LG ist, eine Zuständigkeit für diese Fälle im Geschäftsverteilungsplan zu bestimmen, dann ist es dieser Aufgabe eben noch rechtzeitig nachgekommen. Nach der Mehrheitsmeinung im Schrifttum soll es sogar so sein, dass das LG den zuständigen Spruchkörper erst bestimmt, nachdem das Beschwerdegericht nach § 210 Abs.3 StPO an eine andere Kammer zurückverweist, aber der Geschäftsverteilungsplan dazu schweigt. Wenn man dies als richtig annimmt, ist es überhaupt nichts Verdächtiges, wenn das LG dieser Aufgabe sogar schon vorher nachgekommt, insbesondere wenn nicht eine ganz andere Kammer bestimmt wird, sondern jeweils die, die auch nach § 354 II StPO zuständig wäre.  

Besten Gruß

Henning Ernst Müller

Wir haben hier im Zusammenhang zwei interessante heutzeitige Argumetantionsfiguren. 1.) Ein Gesetz, eine Regelung, stammt von (.... beliebig, muss nur aus 1933-1945 ) sein. Das wird selten absichtslos erwähnt. Das rceicht aber vielen Argumentateuren und wohl auch manchen Adepten solcher auf political correctness bedachten Geistesrichtung bereits, mindestens als glebe Karte dies einzufügen.   2.) Hier als Rechtssprechungstatbestandsmerkmal ("willkürlich"), im BVerfGG als geschriebenes Tatbestandsmermal ("offensichtlich") für eine Entscheidungsbefugnis einer Kammer, werden Extreme anzeigende Wertungen als maßgeblich deklariert. Bei der Normsetzung wirkt das auch plausibel - die Anwendung hat dann bisweilen verheerende Konsequenzen. Ich muss dann schon im einen Fall den bösartig wirkenden Vorwurf von "Willkür" erheben und belegen, und kann andererseits dem, der das tut, es als bösartig vorwerfen und geradezu prompt "missbräuchlich", wenn und weil er es tut.  Ähnlich unhübsch eigentlich, wenn man bei erfolgreichen Grundrechtsbeschwerden etwa die Verlautbarung einer BVerfG-Kammer liest, sie sei "offensichtlich" begründet. Wenn damit Entscheidungen geradezu serieller Art im Instanzenzug bis zu einem Bundesgericht aufgehoben werden - ja, waren da denn alle Idioten? Sie sahen alle das "Offensichtliche" nicht? Rechtsblind oder gar verfassungsfeindlich? Und wenn der Verfassungsverstoß "offensichtlich" war - liegt dann nicht auch Rechtsbeugung nahe? - Man sieht: emotional aufgeladene Begriffe, die nach normalem Sprachverständnis auch persönliche Vorwürfe auszudrücken geeignet sind, als Tatbestandsmerkmale zu verwenden, führt nur im ersten Schritt zu vordergründiger Billigung ( wer könnte schon "Willkür" billigen? Wer dagegen sein, dass im kleinen Zirkel von drei Richtern einer Kammer statt des Plenarsenats durchentschieden wird, wenn etwas "offensichtlich" ist?)

Das Drama scheint mir doch recht übersichtlich:

Das, was der Beitrag unter Ziffer 1 zusammenfasst, mögen ja einige Litertaur-Stimmen kritisch sehen, ist aber durch den Schlossplatz abgesegnet. Auf der nach oben offenen Drama-Skala für Verteidiger also eine 2.

Das unte Ziffer 2 Zusammengefasste ist ein deklaratorischer Hinweis des OLG gewesen, die vorher in den GVP des LG geschaut haben. So what. Beruhen ausgeschlossen. Auf der nach oben offenen Drama-Skala ungefähr 0 bis 0,1.

Als nächstes ist nun die Frage zu klären, ob ein Schöffe, dessen (unverletzte) Stieftochter eine der rund 500 T Besucher war, befangen ist. Ich darf mal vorgreifen: Nö. Wenn irgendein Irrer durch eine Millionenstadt läuft und Menschen erschießt, soll ich dann die Schöffen aus der nächsten Stadt holen, weil jeder Bewohner der Millionenstadt Opfer hätte sein können. Drama-Skala aber zugegebenermaßen höher, tippe mal auf 5 bis 6.

Die NS-Zeit war grausam und darf sich nicht wiederholen. Mit Schaffung des gesetzlichen Richters haben die Väter des Grundgesetzes dem Vorbauen wollen, gut so. Aber die Ausmaße, die das annimmt, hat keiner geahnt und kaum einer gewollt. Die Vorstellung, dass finstere Mächte Akten verteilen, ist doch einfach nur albern. Jeder ist froh, wenn er Sachen nicht abbekommt.

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Sehr geehrter Herr Professor Müller.

Dass sich auch Nebenkläger der Besetzungsrüge angeschlossen haben, das ist bemerkenswert. Das macht sie dennoch weder besser noch schlechter.

Der von Ihnen genannte Handkommentar behandelt den Fall "wenn der Geschäftsverteilungsplan keine Ausweichkammer vorsieht" (Rn. 8). Hier liegt der Fall aber doch anders, denn der Geschäftsverteilungsplan 2017 des LG Duisburg regelt eindeutig die Zuständigkeit der 6. Kammer - wie Cage_and_Fish schon darauf hingewiesen und ich zunächst übersehen hatte. Der Einwand, das Beschwerdegericht könne sich nicht einfach den gesetzlichen Richter aussuchen, greift vorliegend nicht. Denn das OLG hatte sich die 6. Kammer nicht einfach ausgesucht.

Man könnte noch (m.E. nicht sehr überzeugend) einwenden, das Beschwerdegericht sei mangels gesetzlicher Grundlage überhaupt nicht befugt, über die Zuständigkeit einer konkreten Kammer zu entscheiden, unabhängig davon, ob sie im Geschäftsverteilungsplan geregelt sei oder nicht. In diesem Fall wäre die Entscheidung dahingehend auszulegen, dass die Hauptverhandlung vor einer anderen Kammer als der 5. stattzufinden hat. Wer und auf welcher Grundlage trifft dann aber die Entscheidung über die Kammerzuständigkeit und wendet den Geschäftsverteilungsplan 2017 an? Wohl die mit der Sache zunächst befasste Kammer. Das wäre also die 6. Kammer. Aber das ändert nichts am Ergebnis, denn das ist zwingend.

Kein Richter und keine Kammer stürzt sich blind in ein Verfahren und erst recht nicht in so eins, ohne die Zuständigkeit geprüft zu haben. Man kann wohl davon ausgehen, dass die 6. Kammer als erstes ihre Zuständigkeit ganz genau geprüft hatte bevor sie mit der Einarbeitung in die Aktenberge begann und beim geringsten Zweifel die Sache mit Freude abgegeben hätte. Ich bin auch davon überzeugt, dass der 6. Kammer die Diskussion zu 210 III StPO durchaus bekannt ist.

Wie man die Sache dreht und wendet, alle Wege und Meinungen führen zur Zuständigkeit der 6. Kammer. Von Willkür keine Spur.

Besten Gruß
Waldemar Robert Kolos

 

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Sehr geehrter Herr Müller,

wie läge aus Ihrer Sicht der Fall, wenn die Verweisung an eine andere Kammer ohne jegliche Begründung erfolgt? Ein solcher Fall ist mir nämlich vor kurzem untergekommen.

Besten Dank und viele Grüße

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Sehr geehrter Herr Nimzowitsch,

war dies ein Fall des § 210 Abs. 3 StPO? Wurde lediglich an eine "andere Kammer" verwiesen oder an die konkrete "Kammer X des LG Y"? Gab es beim LG einen Geschäftsverteilungsplan, der diesen Fall regelte? Entsprach die konkrete Verweisung diesem Plan?

Alles Fragen, die für die Antwort (Beurteilung der Revisionsaussichten) entscheidend sein könnten.

Mit bestem Gruß

Henning Ernst Müller

 

Sehr geehrter Herr Müller,

vielen Dank für Ihre Antwort. In meinem Fall wurde ohne jegliche Begründung „vor einer anderen Kammer“ eröffnet . Im Geschäftsverteilungsplan des LG findet sich für diese Fallgestaltung keine Regelung. Die Sache wurde über Turnus neu verteilt.

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Wie inzwischen bekannt sein dürfte, hatte die 6. Kammer die Besetzungsrüge zurückgewiesen. Daraufhin kündigte der Verteidiger, RA Prof. Dr. Gercke, eine weitere Besetzungsrüge. "Umfang 142 Seiten – oder mehr als 30 MB als pdf, denn inzwischen bekommen wir alle Unterlagen als (verschlüsselte) pdf per Email zugesandt, zudem (im Moment?) zusätzlich noch als Fax. Entsprechend musste das Faxgerät in der Kanzlei am 22.12. erst einmal von den 142 Seiten „befreit“ werden. Und natürlich muss dieser Antrag am nächsten Verhandlungstag (am 03. Januar) komplett verlesen werden, was ca. 6 Stunden dauern wird (denn der 74-seitige frühere Antrag benötigte 3 Stunden für die Verlesung). Und dann kommen noch die anderen Stellungnahmen (u.a. der Staatsanwaltschaft, 50 Seiten) hinzu.

Wir werden also am kommenden Mittwoch fast ausschl. „Verlesungen“ haben, es sei denn, es kommt noch etwas Anderes dazwischen." (Thomas Feltes: https://loveparadeprozess.blog/2017/12/31/antraege-ueber-antraege/)

Die Kammer hatte am Mittwoch die zweite Besetzungsrüge zurückgewiesen, ohne dass sie verlesen wurde. So natürlich ist also nicht, dass Besetzungsrügen verlesen werden müssen. Für eine Verteidigerin die Gelegenheit, eine 3. Besetzungsrüge sowie eine Gegenvorstellung zur Ablehnung der 2. Besetzungsrüge anzukündigen, ohne Rücksicht auf den Einwand des Vorsitzenden zum Rechtsmissbrauch.

Was für ein Circus? Zu den Hintergründen noch einmal:

Die zunächst zuständige 5. Kammer hatte die Eröffnung des Hauptverfahrens abgelehnt. Auf die Beschwerde der Staatsanwaltschaft hatte das OLG das Hauptverfahren eröffnet und von § 210 Abs. 3 S. 1 StPO Gebrauch gemacht:

"Gibt das Beschwerdegericht der Beschwerde statt, so kann es zugleich bestimmen, dass die Hauptverhandlung vor einer anderen Kammer des Gerichts, das den Beschluss nach Absatz 2 erlassen hat, [...] stattzufinden hat." (§ 210 Abs. 3 S. 1 StPO)

In der Regel ist in Eröffnungsbeschlussen die Zuständigkeitsentscheidung enthalten.
"In dem Beschluss, durch den das Hauptverfahren eröffnet wird, lässt das Gericht die Anklage zur Hauptverhandlung zu und bezeichnet das Gericht, vor dem die Hauptverhandlung stattfinden soll." (207 I StPO).
Typische Formulierung:
"[...] wird die Anklage [...] zur Hauptverhandlung zugelassen und das Hauptverfahren eröffnet. Die Hauptverhandlung soll vor [...] hier stattfinden."

Hätte also die 5. Kammer das Hauptverfahren eröffnet, dann hätte sie zugleich die Entscheidung getroffen, dass sie für die Durchführung des Hauptverfahrens zuständig ist. § 210 Abs. 3 S. 1 StPO regelt ergänzend den Fall, wenn die 5. Kammer die Anklage zur Hauptverhandlung nicht zulässt und das für die Durchführung des Hauptverfahrens nicht zuständige Beschwerdegericht über die Eröffnung entscheidet. Aber auch in diesem Fall enthält die Eröffnungsentscheidung eine Zuständigkeitsentscheidung. Denn das LG kann nicht über die Zuständigkeit der Kammer für die Durchführung des Hauptverfahrens entscheiden, wenn es die Anklage nicht zulässt (LG Duisburg, 5. gr. Strafkammer, 35 KLs -112 Js 23/11 - 5/14: "Die Eröffnung der Hauptverhandlung wird aus tatsächlichen Gründen abgelehnt."). Liest man §§ 207 Abs. 1 und 210 Abs. 3 StPO zusammen (systematische Auslegung), dann soll auch das Beschwerdegericht in seinem Eröffnungsbeschluss das Gericht bezeichnen, vor dem die Hauptverhandlung stattfinden soll.

Das OLG hatte wie folgt entschieden:

"Die Anklage der Staatsanwaltschaft Duisburg vom 10. Februar 2014 wird zur Hauptverhandlung zugelassen und das Hauptverfahren eröffnet. Die Hauptverhandlung hat vor der 6. großen Strafkammer des Landgerichts Duisburg stattzufinden."

Natürlich kann sich das OLG als Beschwerdegericht die Kammer nicht einfach aussuchen oder würfeln. Es ist an den Geschäftsverteilungsplan gebunden, der die Zuständigkeit der großen Strafkammern beim Landgericht Duisburg für 2017 wie folgt regelt:

"C. Strafkammern
1. Strafkammer
3. als große Strafkammer
a) Strafsachen erster Instanz gegen Erwachsene, soweit nicht eine Spezialkammer zuständig ist, nach Turnuszuteilung mit 6 Turnusanteilen"'

D. Besondere Zuständigkeiten:
1. Zuständigkeiten nach Zurückverweisung durch
das Revisionsgericht oder das Bundesverfassungsgericht

Es ist zuständig, wenn

f) die 5. Strafkammer entschieden hat: die 6. Strafkammer,"

Und dann heißt es weiter - jetzt kommt das Besondere des Geschäftsverteilungsplans beim Landgericht Duisburg für 2017, denn bisher entspricht der Plan des Landgerichts vielen anderen Plänen der Landgerichte:

"Die vorstehenden Zuständigkeiten gelten auch, wenn ein Hauptverfahren durch das Beschwerdegericht gemäß § 210 Abs. 3 StPO vor einer anderen Kammer des Landgerichts eröffnet wird."

Das OLG konnte also die nach Turnuszuteilung vorbefasste 5. Kammer oder aber die 6. Kammer als die nach dem Geschäftsverteilungsplan andere Kammer bestimmen. Das OLG entschied sich für die "andere Kammer". Ich teile diese Entscheidung, aber das müssen andere nicht, weder die Verteidigung, noch die von der Entscheidung betroffene 6. Kammer. Auch der BGH muss diese Entscheidung nicht teilen. Das ist aber für die Wirksamkeit der OLG-Entscheidung irrelevant. Es sei denn, die Entscheidung des OLG ist willkürlich. Das wäre sie dann, wenn die Bestimmung bzw. Bezeichnung der 6. Kammer als der Kammer, vor der die Hauptverhandlung stattfinden soll, unter keinem noch vertretbaren Aspekt denkbar wäre. Die Betonung liegt auf denkbar(!).

Die Vorbefassung der 5. Kammer ist nicht zwingend ein Grund für das Beschwerdegericht, eine andere Kammer zu bestimmen. Es kann aber ein Grund sein. Jedenfalls ist es durchaus denkbar, dass nach Art ihrer Meinungsäußerung im Zulassungsbeschluss das OLG den Eindruck hatte, dass die 5. Kammer sich die Auffassung des OLG nicht zu eigen machen wird und eine nicht unvoreingenommene Verhandlung zu befürchten war. Zumal das OLG seine Entscheidung darüber wirklich ausgiebig begründet hat.

Willkürliche Bestimmung der 6. Kammer durch das OLG lässt sich mit der Besetzungsrüge und ggf. einer späteren Revision angreifen. Über den konkreten Inhalt der ersten, zweiten und der angekündigten dritten Besetzungsrüge ist nichts bekannt. Ist es aber vorstellbar, auf 84 und auf weiteren 142 Seiten ernsthaft darüber vorzutragen, was angeblich nicht denkbar sein soll? Oder liegt der Verdacht nicht näher, dass mit der Besetzungsrüge andere, ihr fremden Ziele verfolgt werden?

Die Geduld und Gelassenheit des Vorsitzenden halte ich für bemerkenswert. Bin gespannt wie lange das bei dieser Verteidigung noch hält.

 

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Thomas Feltes schreibt am 5. Januar in seinem Blog:

"Der Termin am 9. Januar wurde aufgehoben. Grund: An diesem Tag soll außerhalb der Hauptverhandlung über die jüngste Besetzungsrüge entschieden werden."

https://loveparadeprozess.blog/2018/01/05/es-geht-voran/

Bravo. Die Verteidigerin hat es doch geschafft: Ein ganzer Sitzungstag fällt weg. Spätestens an dieser Stelle wird man nicht leugnen können, dass von Besetzungsrügen rechtsmissbräuchlich Gebrauch gemacht werden kann, ohne dass der Rechtsmissbrauch in der StPO ausdrücklich geregelt wäre - wie etwa bei einem unzulässigen Ablehnungsantrag (§ 26a StPO: "Das Gericht verwirft die Ablehnung eines Richters als unzulässig, wenn [...] durch die Ablehnung offensichtlich das Verfahren nur verschleppt oder nur verfahrensfremde Zwecke verfolgt werden sollen.")

 

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Bravo. Die Verteidigerin hat es doch geschafft: Ein ganzer Sitzungstag fällt weg. Spätestens an dieser Stelle wird man nicht leugnen können, dass von Besetzungsrügen rechtsmissbräuchlich Gebrauch gemacht werden kann...

Nicht alles, was Zeit braucht, ist "rechtsmißbräuchlich"! Sollte man mit diesem rechtsstaatwidrigen deus ex machina nicht langsam etwas vorsichtiger umgehen lernen? "Gut Ding will Weile haben", sagt ein bewährtes deutsches Sprichwort. Das gilt vor allem dann, wenn, wie hier, ein für März geplantes Gutachten ohnehin erst verspätet vorliegen wird, vgl. hier.

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