Loveparade 2010 - Der Gullydeckel/Bauzaun-Komplex in der Hauptverhandlung

von Prof. Dr. Henning Ernst Müller, veröffentlicht am 29.03.2018
Rechtsgebiete: StrafrechtKriminologieStrafverfahrensrecht11|7570 Aufrufe

Am Dienstag konnte ich einen Tag der Hauptverhandlung in Düsseldorf als Zuhörer miterleben. Zunächst auffallend: Die ausgiebigen Sicherheitskontrollen erscheinen wie ein Widerspruchsecho zur Loveparade selbst: Hier im Düsseldorfer Congress Center sind die Vorbereitungen von Prozess und seine technische Durchführung minutiös geplant, erfolgen durch mehr als ausreichendes (und noch dazu sehr freundliches) Polizei- und Justizpersonal und die Hauptverhandlung selbst ist technisch auf neuestem Stand – so wie ich es noch nie erlebt habe: Auf drei Leinwänden in Kinogröße werden die Zeugen (bzw. andere jeweils Sprechende) in Nahaufnahme bei ihrer Aussage gezeigt – Fotos aus der Akte und Skizzen, die die Zeugen anfertigen, werden ebenso für den gesamten Saal projiziert. Hier wird alles daran gesetzt, der Öffentlichkeit einen Musterprozess an Transparenz zu bieten. Von den hunderten Stühlen, die für Zuhörer und Pressevertreter reserviert sind, blieben am Dienstag die meisten allerdings leer.

Am Dienstag ist zunächst eine Zeugin geladen, deren Hauptaussage sich auf einen defekten Kanalschacht und Gullydeckel bezieht (wdr-Blog dazu). Sie war vor acht Jahren mit einer Freundesgruppe als Besucherin auf der Loveparade und beschreibt nun detailreich ihren damaligen Zugangsweg zur Veranstaltung, einschließlich der – nachträglich per Fotozeitstempel und Internetrecherchen ermittelten – jeweiligen (ungefähren) Uhrzeiten und dem jeweiligen Fülle- bzw. Engezustand auf ihrem Weg. Kern ihrer persönlichen Erfahrung war, dass sie auf der Rampe ca. gegen 16.35 Uhr (etwa 20 Minuten vor der tödlichen Massenturbulenz) im Gedränge über den am Boden liegenden, eine defekte Schachtabdeckung sichernden Bauzaun stolperte. Ihr Fuß verfing sich im Gitter und beim Herausziehen bemerkte sie Bauzaun und den darunterliegenden ungenügend abgedeckten Schacht. Ihre Angaben dazu waren präzise und detailliert. Sie schilderte auch, dass sie, die sich in den folgenden ca. drei Jahren in einer Selbsthilfegruppe engagiert hat, verwundert war, dass sie im August 2010 die einzige Besucherin gewesen sei, die über Gullydeckel und Bauzaun berichtet habe. Trotz intensiver Recherche habe sie zunächst keine weiteren unmittelbaren Berichte oder Bilder dazu gefunden. Sie äußert auch die Vermutung, dass diese „Stolperfalle“ in unmittelbarer Nähe zur späteren Massenturbulenz durchaus zur Katastrophe beigetragen haben könne. Die Zeugin war damals von der Polizei vernommen worden.

Exkurs Anfang:
Damit die heutigen Leser den Sachverhalt einschätzen können, sei an dieser Stelle auf die damaligen Recherchen und deren Ergebnisse hingewiesen: Eine Person mit dem Pseudonym „Bluemoonsun“ hat damals zum Gully/Bauzaun recherchiert und dazu sogar einen eigenen wordpressblog eingerichtet. Ob ihre Annahme, dies seien die „Schuldigen“ zutrifft, sei einmal dahin gestellt. Jedenfalls bietet ihre Seite wesentlich bessere Fotos als die am Dienstag im Gerichtssaal gezeigten, deshalb sei dies hier verlinkt.

(Update 21.04.18: Die Situation ist auf Bildern der Überwachungskamera 13 (Kamera 13-Video ab 16.00 bei Minute 7:00, links unten) und auf einem Foto von 14.25 Uhr  deutlich erkennbar)

Was die polizeilichen bzw. staatsanwaltlichen Ermittlungen angeht, kann ich Bezug nehmen auf einen früheren von mir erstellten Kommentar (Beckblog, Kommentar am 29. Juli 2011):

Der Bauzaun-Gully-Komplex in der staatsanwaltlichen Betrachtung

Ich möchte kurz referieren, was die Staatsanwaltschaft im Fall des mit einem Bauzaun überdeckten defekten Gullys - richtig wohl:  Kanalschachtabdeckung (und einer gleichzeitig dadurch verdeckten Baumwurzel) bis Januar ermittelt hat.

Zunächst:

Der Sachverhalt wurde meines Wissens von „bluemoonsun“ Anfang September öffentlich gemacht. Sie benennt dies dort als die eigentliche Ursache der Katastrophe. Nach  dieser Darstellung und dieser hier auf loveparade2010doku und den dortigen Videodokumenten lässt sich dafür einiges anführen, nämlich dass es genau an dieser Stelle zu dem dann tödlichen "Menschenknäuel" mit übereinanderliegenden und verkeilten Personen gekommen ist, wobei zumindest viele, wenn nicht alle der Getöteten innerhalb dieses Knäuels ums Leben kamen. Natürlich wäre es nicht dazu gekommen, hätte auf der Rampe mehr Platz zur Verfügung gestanden bzw. hätte ein ordnungsgemäßes Zu- und Abgangskonzept bestanden oder wäre - was wohl die naheliegendste Überlegung ist - diese Veranstaltung aufgrund des unzureichenden Sicherheitskonzepts gar nicht erst genehmigt worden. Aber dennoch: Möglicherweise ist auch diese Stolperfalle eine notwendige Bedingung der späteren Todesfälle - vielleicht wäre es ohne sie, wie anderswo auf der Rampe, nicht zu Stürzen gekommen und das Gedränge wäre zumindest glimpflicher abgelaufen. Anzumerken ist allerdings, dass es auch in anderen Fällen von Massenturbulenzen zu solchen Knäueln und Stürzen gekommen ist, ohne dass dazu Stolperfallen nötig waren.

Die Staatsanwaltschaft hatte jedenfalls Anlass, der Sache nach zu gehen, und dies hat sie auch getan.

Aus dem Einleitungsvermerk lässt sich entnehmen:

a) Offenbar wurden einige der Opfer auf bzw. direkt neben dem Gitter aufgefunden.

b) Zudem befanden sich auf und neben dem Gitter eine große Anzahl von Schuhen.

c) Das "Menschenknäuel" bzw. der "Menschenberg" befand sich auf diesem Gitter zwischen Verkehrsschild und Treppenaufgang.

d) Etliche Zeugen schildern das Menschenknäuel bzw. wie sie darauf geraten sind oder wie sie sich (gerade noch) befreien konnten oder wie sie als Retter den "Menschenberg" wahrnahmen.

e) Eine Zeugin schildert, dass sie mit dem Fuß im Gitter hängengeblieben ist (genaue Zeit wird aber nicht mitgeteilt), ein Zeuge schildert, dass er das Gitter unter den Füßen hatte, aber nicht hängengeblieben ist.

f) Die wichtigste Aussage ist wohl die eines Security-Mitarbeiters, der schildert, dass der Kanalschacht am Anfang der Veranstaltung noch geschlossen gewesen sei, erst später habe er dann bemerkt, dass der Deckel schräg gestanden sei und er habe diese Gefahrenstelle in Absprache mit dem - ohnehin beschuldigten - CM und mit einem Polizei-Verbindungsmann mit dem Bauzaungitter abgedeckt. (Dies muss allerdings vor 13.27 Uhr passiert sein, denn im ersten Film der Kamera 13 ist der liegende Bauzaun bereits zu sehen; frühere Bilder der Kamera 13 wurden von lopavent nicht ins Netz gestellt)

g) Der Polizei-Verbindungsbeamte sagt, er habe erst aus der Presse davon erfahren, am Veranstaltungstag selbst hätte er von Gully/Gitter keine Kenntnis gehabt.

h) Die Kanalschachtabdeckung wurde (bei einem Ortstermin am 8. September) sachverständig untersucht und festgestellt, dass die Beschädigung wohl schon seit längerer Zeit bestanden haben müsse.

i) Das Gitter wurde nicht sichergestellt, da es nachher nicht mehr auffindbar war.

j) Keine der tödlich verletzten Opfer wiesen bei nachträglicher Bewertung der Obduktionsergebnisse Verletzungen auf, die sich dem Gitter zuordnen ließen.

k) Die Baumwurzel findet im Vermerk keine Erwähnung

Insgesamt erwiesen sich demnach die Ermittlungen m. E. als nicht sehr ergiebig, was vielleicht auch der relativ späten Aufmerksamkeit geschuldet ist, die man diesem wichtigen Detail widmete.

Nachdem Anfang September die Gullydeckel/Bauzaun-Affäre öffentlich wurde, wurde sie auch von der Presse aufgenommen und die Staatsanwaltscahft darauf aufmerksam gemacht.

In einem Bericht der RP vom 17.09.2010 heißt es

Die ermittelnde Staatsanwaltschaft Duisburg (...) hat auch noch keine Ermittlungen in diese Richtung aufgenommen. „Sollte an der Sache etwas dran sein, werden wir aber selbstverständlich der Sache nachgehen“, so Oberstaatsanwalt Rolf Haferkamp im Gespräch mit unserer Redaktion.

Die Polizei habe nach der Katastrophe den Unglücksort „genauestens untersucht“. Ein schlecht abgedichteter Gullydeckel soll bei den Untersuchungen nicht aufgefallen sein.

Zu der Angabe von OStA Haferkamp, die "Polizei habe  genauestens untersucht" kann man nur so viel sagen: Es wäre wohl ein gravierendes Versagen der Ermittler, wenn sie einen Ort (immerhin den Tatort!) angeblich "genauestens untersuchen" und dabei den defekten Gully/Kanalschacht nicht entdecken.

Zur strafrechtlichen Bewertung: Ich denke, man wird eine Ursachenbeziehung zwischen den Todesfällen und den Stolperfallen durchaus annehmen können, selbst wenn sich nicht unmittelbar Verletzungen der Todesopfer auf den Bauzaun zurückführen lassen. Denn es ging ja um die Bedeutung als "Stolperfalle", nicht als Verletzungsobjekt. Ordnungskräfte und der CM des Veranstalters konnten einschätzen, dass es an dieser Stelle sehr eng werden würde. Es war unverantwortlich, den Gully-Deckel "nur" mit einem Bauzaun abzudecken. Auch kurzfristig kann man sich andere Schutzvorkehrungen vorstellen z.B. eine Stahlplatte, evtl. ein Fahrzeug. Andererseits lässt sich die Stolperfalle in den Gesamtkomplex "Hindernisse auf der Rampe"  einordnen, die dann insgesamt der sorgfaltswidrigen Vorbereitung durch den Veranstalter zuzuordnen sind. Leider ist die Beweislage wohl wegen der im Detail (bis Januar 2011) unpräzisen Ermittlungsergebnisse eher weniger aussichtsreich. Ich kann mir vorstellen, dass diese "Ursache" bis zum Hauptverfahren "untergeht".

Exkurs Ende

Soweit meine damaligen Einschätzungen und Überlegungen zu diesem Komplex.

In den Ermittlungen wurde die Tatsache der defekten Schachtabdeckung und ihrer provisorischen Sicherung durch einen darübergelegten Bauzaun also vollständig bestätigt. Dass dieser Zustand während der Loveparade existierte und zwar örtlich sehr nah am späteren tödlichen Ereignis, muss heute als feststehende Tatsache angesehen werden. Der Bericht der Zeugin in der Hauptverhandlung diente deshalb vor allem dazu, diese Tatsache, die niemand mehr bestreitet, prozessordnungsgemäß strengbeweislich einzuführen.

Dass diese Tatsache eine notwendige Ursache der Massenturbulenz gewesen ist, wird von den Ermittlungsbehörden allerdings verneint. Man habe keine (weiteren) Anhaltspunkte dafür, dass der am Boden liegende Bauzaun unmittelbar die Massenturbulenz herbeigeführt habe bzw. auch nur zu dieser beigetragen habe.

Etwas merkwürdig erschienen die Stellungnahmen einiger Verteidiger zur Zeugenaussage. Da die Zeugin sich nach ihrer eigenen Schilderung in den ersten Wochen viel mit den Loveparade-Videos beschäftigt hatte, vermuteten drei von ihnen, sie habe Gullydeckel und Bauzaun gar nicht vollständig selbst wahrgenommen, sondern ihr Gedächtnis sei eine Mischung aus eigener Wahrnehmung und späterer Recherche.

Obwohl im Allgemeinen durchaus die Gefahr besteht, dass Zeugen, die sich stark mit dem Gegenstand ihrer Aussage befassen, ihre eigene Aussage damit verzerren, kommt mir dieser Einwand sowohl inhaltlich als auch verteidigungs- bzw. prozesstaktisch wenig gehaltvoll vor. Die Zeugin hat dargelegt, dass sie als erste von diesem Gullydeckel berichtet hat, also unabhängig und BEVOR eine Internetrecherche dies hätte ergeben können. Ich selbst kann aufgrund meiner Recherchen und Aufzeichnungen für diesen Blog bestätigen, dass der Gullydeckel erst ab September 2010 im Netz thematisiert wurde – und damit einige Zeit nachdem die Zeugin schon über ihr Stolpererlebnis berichtet hatte. Vielmehr war es diese Zeugin selbst, die erst den Anstoß für entsprechende Ermittlungen gegeben hat. Soweit diese offiziellen Ermittlungen – wie bekannt (s.o.) – ihre Wahrnehmung bestätigt haben, wird die Glaubhaftigkeit ihrer Angaben dadurch gestützt.

Ich frage mich auch, welchen verteidigungstaktischen Sinn die Zweifel an dieser Zeugin haben: Die Glaubhaftigkeit der Zeugenaussage anzuzweifeln ist doch nur dann sinnvoll, wenn man den bezeugten Sachverhalt selbst in Zweifel ziehen will. Dieser Gullydeckel-Bauzaun-Sachverhalt ist jedoch durch Fotos, Videos und Ermittlungen hinreichend belegt. Auch die Stellungnahme eines anderen Verteidigers, es komme auf die Wahrheit der Zeugenaussage ohnehin nicht an, da ja die Staatsanwaltschaft den Ursachenzusammenhang mit der Masssenturbulenz ohnehin verneine, erscheint mir prozessrechtlich wie verteidigungstaktisch fragwürdig. Wie die Beweise zu würdigen sind, ist Sache des Gerichts, welches ganz unabhängig von der Vorab-Würdigung der Staatsanwaltschaft die Ursachen der Massenturbulenz festzustellen hat. Je nachdem, welchen Mandanten sie vertreten, könnte es ja durchaus auch sinnvoll sein darauf zu bestehen, dass der Gullydeckel-Bauzaun-Komplex als einziges unmittelbar zur Katastrophe führte. Für Beschuldigte/Angeklagte, die nur für die Planung, nicht aber für die Kontrolle des Geländes zuständig waren, könnte dies ja sogar entlastend wirken.

Link zum Hauptartikel "Die Hauptverhandlung beginnt"
(dort auch alle weiteren Links zur Loveparade-Diskussion hier im Beck-Blog und anderswo)

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11 Kommentare

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Stolperfallen dieser Art sind selbst für Laien erkennbar. Die Stolpergefahr ist ja auch erkannt worden - es ist dann leider dilettantisch durch einen darüber gelegten Bauzaun unzureichende Abhilfe geschaffen worden. Mit diesem Detail alleine ist nachzuweisen, dass

- die technische Leitung des Veranstalters ihren Aufgaben (Herstellen eines Veranstaltungsgeländes gemäß Bauo NRW, SBauO NRW sowie UVVs) grob fahrlässig nicht ausreichend nachgekommen ist

- Bauamt und Ordnungsamt ihren Aufgaben (Überprüfung des ordnungsgemäßen Zustandes der Versammlungsstätte gemäß Bauo NRW, SBauO NRW sowie UVVs) grob fahrlässig nicht ausreichend nachgekommen sind

- Polizei und Feuerwehr bei Antritt am Veranstaltungstag pflichtwidrig die Versammlungsstätte nicht ausreichend inspiziert haben - diese Mängel waren für Laien erkennbar und mussten bei einer Einweisung und Begehung auffallen. Polizei und Feuerwehr sind zur Gefahrenabwehr verpflichtet.

Diese Mängel haben das Unglück auf jeden Fall verstärkt. Will man in Zukunft jeden Rechtsbruch zulassen wollen mit der Begründung, man müsse jeden einzelnen Tatanteil in jedem Einzelfall nachweisen - ansonsten seien Rechtsbrüche straffrei? Das Baurecht (SBauVO NRW und BauO NRW) fordert ebene, tragfähige und stolperfreie Untergründe - die Gesetzgebung hat hier "Lessons learned" aus vergangenenen Jahrhunderten umgesetzt.

Wenn die Polizei laut OStA Haferkamp selbst bei genauester Untersuchung diese Mängel nicht entdecken konnte, dann wäre folgerichtig die Polizei (NRW?) unqualifiziert zur Gefahrenabwehr bei Veranstaltungen. Bei jeder Verkehrskontrolle überprüfen Polizeibeamte auch den allgemeinen Fahrzeugzustand durch Inaugenscheinnahme. Es ist allgemein bekannt, dass Fahrzeuge leider manchmal unsicher sind. Das ist wie bei Fahrzeugen leider auch bei Versammlungsstätten der Fall. Polizeibeamte sollten also genauso wachsam und aufmerksam sein.

Polizeibeamte müssen wie alle Beschäftigten auf Veranstaltungen eingewiesen und unterwiesen werden. Sicherheitsunterweisungen sind gesetzlich vorgeschrieben §12 Abs. 1 ArbSchG. Polizeibeamte sollen darüber hinaus noch aktiv für Sicherheit sorgen - bei Veranstaltungen ist damit eine Unterweisung bezüglich der VStättVO/ SBauVO sowie der relevanten UVVs unerlässlich. Dann würden Mängel wie fehlende/ versperrte Notausgänge, fehlende ELA, schlechter Bauzustand, fehlende Kommunikation auch sofort auffallen. Da es sich hier laut VStättVO/ SBauVO um Ordnungswidrigkeiten handelt, sollte die Polizei (wenn sie schon mal da ist) dann auch wissen, dass Bussgelder verhängt werden können und sollen bzw. bei erheblichen Mängeln (genauso wie bei Tanklastwagen mit abgefahrenen Reifen) stillgelegt werden kann und soll.

Hat es solche Unterweisungen bei der Loveparade 2010 gegeben?

Gibt es Unterweisungen in der Zukunft?

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"Will man in Zukunft jeden Rechtsbruch zulassen wollen mit der Begründung, man müsse jeden einzelnen Tatanteil in jedem Einzelfall nachweisen "

Das ist eine etwas seltsame Frage, auch wenn ich die dahinter stehende Intention durchaus nachvollziehen kann.

Aber vielleicht klärt es sich mit einer Gegenfrage: Möchten Sie als Angeklagter aufgrund einer solchen Überlegung schuldig gesprochen (und entsprechend bestraft) werden, obwohl Ihr Tatanteil nur sehr gering oder gar nicht gegeben war?

Deutlicher formuliert: Sie sprechen hier über einen Verurteilungswunsch, obwohl eine Tatbeteiligung nicht nachweisbar ist. Das aber würde (Sie ahnen es sicher) einen Strafprozess ad absurdum führen. Man könnte ihn sogar gleich ganz streichen.

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Sehr geehrter Herr Beckhaus,

ich halte den Tatanteil bei der Loveparade durch wissentliches Mißachten geltenden Rechts für erheblich. Es ist durchaus plausibel, dass bei strikter Befolgung der geltenden SBauVO NRW es nicht zum Unglück mit 21 Toten hätte kommen können. Dies musste den Beteiligten aufgrund ihrer beruflichen Kenntnisse klar sein. Damit wurde meiner Meinung nach durch Handeln und durch Unterlassen der Tod von Menschen billigend und wissentlich in Kauf genommen. Und das ist nicht tolerabel - egal ob der individuelle Tatanteil 12,5% oder 12,4% ist.

Darüber hinaus bin ich für eine Null-Toleranz-Politik bei sicherheitsrelevanten Verstößen im Veranstaltungsbereich. Die Androhung von Bußgeldern bei Verstößen gegen die VStättVOs und SBauVOs ist eher theoretischer Natur. Können Sie sich vorstellen wie es im Straßenverkehr zuginge, wenn die StVO nicht mit Bußgeldern und Fahrverboten durchgesetzt würde? Ich bin für Bußgeldkataloge, die der Gefährdung angemessen sind sowie für Kontrollen und bei Verstößen tatsächlich verhängte Bußgelder. Dann würden Sicherheitsrisiken auch nicht so eskalieren wie bei der Loveparade.

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Sie sollten sich bewusst machen, dass Sie bereits Ihr eigenes (Vor-) Urteil gesprochen haben, wenn Sie von "wissentliches Mißachten" schreiben. Sie unterstellen den Beteiligten sogar (bedingten) Vorsatz für Totschlag oder auch Mord, wenn Sie schreiben, dass "der Tod von Menschen billigend (...) in Kauf genommen" wurde.

Wenn Sie derart vorurteilsbehaftet in eine Diskussion wie hier reingehen, dann ist ein seriöses Diskutieren mit Ihnen kaum noch möglich.

Ob es "bei strikter Befolgung der SBauVO NRW" zu keinem Unglück gekommen wäre, dies herauszufinden ist auch Gegenstand des Gerichtsverfahrens. Ich denke aber, dass Sie das seriöserweise nicht einschätzen können und es auch nicht sollten.

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Am Dienstag dieser Woche wurde als letzter Rechtsmediziner Dr. Lars Althaus vernommen.
Er war 2010 Leiter der Duisburger Rechtsmedizin und noch am Abend der Katstrophe am Tatort. Er trug die Ergebnisse von acht Obduktionen vor.
Anschließend fragte ihn der Vorsitzende Richter nach seinen Erkenntnissen zum Komplex "Gullydeckel / Bauzaun".
Am Abend sei ihm, Althaus, der Gullydeckel unter dem Bauzaun nicht aufgefallen. Er erinnere wohl dass auf dem Bauzaun einer der Toten gelegen habe.
Später sei er von der Sonderkommission der Polizei auf das Thema hingewiesen worden und habe noch einmal geschaut, ob sich bei den von ihm obduzierten Toten Spuren und Verletzungen, die man mit diesem Komplex in Verbindung bringen könne, nachweisen ließen.
Das sei jedoch nicht der Fall gewesen. Das schließe natürlich nicht aus, dass jemand hier gestolpert sei. Nur nachweisbare Verletzungen für Hängenbleiben, eingeklemmt sein, gebe es nicht.
Damit scheint dieser Komplex das Gericht nicht mehr vorrangig zu beschäftigen.
Das zeigte sich an den beiden Folgetagen bei der Vernehmung des Verantwortlichen Mitarbeiters der Firma Aurelis. Die war 2010 die Besitzerin des alten Duisburger Hauptbahnhofes, hatte das Gelände für die Veranstaltung aufbereitet und der Veranstalterin Lopavent das Eigentum daran für einen Monat zur Durchführung der Loveparade gratis überlassen.
Vorsitzender Richter Plein verzichtete darauf dem Zeugen den Komplex Gullydeckel / Bauzaun aus dessen polizeilicher Vernehmung vorzuhalten, obwohl dieser bei der Übergabe des Geländes an Lopavent unmittelbar dort vorbei gegangen sein muss.

Man muss fairerweise festhalten, dass die ganze Fläche rund um den Gullidecke und die Baumwurzeln ursprünglich duch Bauzäune abgesperrt war. Man kann das in den Videos von Lopavent sehen. Die Verantwortlichen konnten also davon ausgehen, dass niemand diese Fläche betreten würde.

Erst durch das überklettern dieser Bauzäune anlässlich der Drucksituation durch eine Frau und einen Mann, die dann die Treppe zum Stellwerk genommen hatten, wurden die Bauzäune überrannt und die Gefährdungslage relevant - also auch hier vor allem Planungsfehler, die relevant wurden.

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Sehr geehrter Herr MarekL,

Sie irren sich. Gullydeckel und darüber liegender Bauzaun befanden sich mehrere Meter außerhalb der (unzureichenden) Absperrung um die Treppe, die erst unmittelbar vor dieser aufgestellt war. Das ist auf Bildern der Überwachungskamera 13 (Kamera 13-Video ab 16.00 bei Minute 7:00, links unten) und auf einem Foto von 14.25 Uhr  deutlich erkennbar. Ein Film vom September 2010 zeigt die Situation nachher. Bei Minute 1:02 zu erkennen: Die Haken, mit denen der Bauzaun der Absperrung direkt vor der Treppe angebracht war. Bei Minute 2:00 sieht man die Stelle mit dem kaputten Gullydeckel, nunmehr überdeckt von Betonteilen.
Besten Gruß
Henning Ernst Müller

Henning Ernst Müller schrieb:

Auf drei Leinwänden in Kinogröße werden die Zeugen (bzw. andere jeweils Sprechende) in Nahaufnahme bei ihrer Aussage gezeigt – Fotos aus der Akte und Skizzen, die die Zeugen anfertigen, werden ebenso für den gesamten Saal projiziert.

Sehr geehrter Herr Prof. Dr. H. E. Müller,

falls in einem der vielen Gerichtssäle dieser Republik die technischen Vorrichtungen (Mikrophone und Projektoren / Beamer) dazu vorhanden sind und auch funktionieren, das Gericht es aber nicht für nötig hält, diese auch zu benützen und andere Beteiligte dazu anzuhalten, welche rechtlichen Möglichkeiten sehen Sie dann für einen Zuschauer als Vertreter der Öffentlichkeit, das zu erreichen?

Was meinen Sie außerdem, müssen auch Vertreter der Öffentlichkeit  bei Inaugenscheinnahmen von Asservaten und Photomappen vor dem Richtertisch ebenfalls noch zugelassen werden, und wie wäre auch das ebenfalls noch zu erreichen?

Für eine (ausführliche) Antwort wäre ich Ihnen sehr dankbar.

Beste Grüße

GR

Sehr geehrter Herr Rudolphi,

die (wenigen) Normen, die die Öffentlichkeit anordnen, sehen eher eine eingeschränkte Öffentlichkeit vor, beschränkt darauf, im Gerichtsssaal zuzuhören und zuzusehen. Die Öffentlichkeit soll in der Lage sein, eine (oberflächliche) Kontrolle auszuüben, einen Anspruch auf Sichtung der Beweismittel ist nicht vorgesehen. Selbst wenn also die technischen Möglichkeiten bestehen, sind die Gerichte nicht verpflichtet, mehr zu leisten.  Schon gar nicht gibt es eine Rechtsgrundlage für einzelne nicht prozessbeteiligte Personen (Zuschauer) überhaupt nur auf eine Teilnahme geschweige denn Einsicht in die Beweise am Richtertisch.

Allenfalls für historisch-gesellschaftlich wirklich große Prozesse (Auschwitz-Prozess, NSU, RAF) könnte man weitergehende Rechte der Öffentlichkeit (sprich: Medien) annehmen.
Dass im Loveparade-Prozess so eine starke Öffentlichkeitsfürsorge betrieben wird, ist also ein Glücksfall.

Besten Gruß
Henning Ernst Müller

Sehr geehrter Herr Prof. Dr. H.E. Müller,

zuerst einmal vielen Dank für Ihre Antwort.

Mir war schon klar, daß es ja den StGB § 353d (Verbotene Mitteilungen über Gerichtsverhandlungen) gibt, und daß es sicher auch höchst problematisch wäre, wenn einzelne Personen, die nicht einer kontrollierten Schweigepflicht unterliegen, am Richtertisch auftauchen, auch wenn diese rein theoretisch unter einer Strafandrohung zum Schweigen ja verpflichtet werden könnten.

Denn auch alle Durchstechereien will ich ja keinesfalls haben, ebenso keinerlei unzulässigen Zeugenbeeinflussungen, speziell noch späterer Zeugen, die noch vernommen werden (könnten).

Zu Ihrem Zitat möchte ich aber doch nachfragen:

die (wenigen) Normen, die die Öffentlichkeit anordnen, sehen eher eine eingeschränkte Öffentlichkeit vor, beschränkt darauf, im Gerichtsssaal zuzuhören und zuzusehen. Die Öffentlichkeit soll in der Lage sein, eine (oberflächliche) Kontrolle auszuüben,

Wenn ich Sie richtig verstanden habe, dürfen also Videos auch so vorgeführt werden, daß sie von der Öffentlichkeit nicht gesehen werden können, und wenn der Zuschauerraum auch noch durch Glasscheiben abgetrennt ist, dann ist auch der Ton kaum noch zu verstehen, wenn er nicht richtig eingestellt wird.

Unter Herstellung der Öffentlichkeit stelle ich mir aber schon vor, daß zumindest alle Beteiligten, die im Gerichtssaal zur Sache sprechen, von dieser Öffentlichkeit - auch abgetrennt hinter Glasscheiben - dennoch gehört werden können.

Wenn das aber schon nicht mehr gewährleistet wird, dann allerdings sehe ich eine solche "öffentliche Verhandlung" nur als eine reine Farce  noch an und die vorhandenen Mikrophone lediglich als reine Attrappen bzw. Staffagen einer Inszenierung.

Immerhin ist es wenigstens noch warm in deutschen Gerichtssälen, auch im Winter, und ich muß keine Briketts selber auch noch zu einer Verhandlung mitbringen.

Besten Gruß

Günter Rudolphi

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