AG Siegen: Akteneinsicht in die Daten der gesamten Messserie? Nööööö!

von Carsten Krumm, veröffentlicht am 02.10.2018
Rechtsgebiete: Verkehrsrecht1|1913 Aufrufe

Die Daten für die Messung des Betroffenen hatte der verteidiger bzw. der von ihm beauftragte SV schon bekommen. Jetzt wollte der Verteidiger auch noch die Daten der gesamten Messserie. "Zu viel!", meint das AG Siegen:

Der Antrag des Betroffenen auf gerichtliche Entscheidung wird als unbegründet zurückgewiesen.

Die Kosten des Verfahrens einschließlich seiner notwendigen Auslagen trägt der Betroffene.

Gründe: 

1. Gegen den Betroffenen ist wegen einer Geschwindigkeitsüberschreitung am 26.6.2018 Bußgeldbescheid ergangen. Die Bußgeldbehörde hat seinem Verteidiger die seinen Fall betreffenden Meßrohdaten digital zur Verfügung gestellt, dem Sachverständigen wurden zudem sämtliche geforderten Unterlagen zur Verfügung gestellt.

Mit anwaltlichem Schreiben vom 24.7.2018 hat der Betroffene die Rüge der Aktenunvollständigkeit und beantragt, die Rohmessdaten der kompletten Messeserie nebst Token zur Akte beizuziehen bzw. ihm zu Verfügung zu stellen damit der Sachverständige die nötigen Anknüpfungspunkte finden könne, um die Amtsermittlungspflicht des Gerichts auszulösen. Der Betroffene sieht in der Nichtübersendung ein Verfahrenshindernis wegen einer Verletzung des Rechts auf rechtliches Gehör und des fairen Verfahrens. Insoweit beruft er sich unter anderem auf die Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs des Saarlandes im Beschluss vom 27.4.2018 – Lv 1/18 und weitere Rechtsprechung.

Nachdem die Behörde den Antrag abgelehnt hat, hat der Verteidiger mit Schriftsatz vom 19. 7. 2018 die gerichtliche Entscheidung gemäß § 62 Abs. 2 OWiG beantragt.

2. Der vom Betroffenen gestellte Antrag auf gerichtliche Entscheidung ist gemäß § 62 Abs. 1 OWiG zulässig, aber nicht begründet.

Die Frage, ob die kompletten Meßrohdaten einer Serie über die die Messung des betroffenen Kraftfahrer hinausgehenden Meßrohdaten herauszugeben sind, wird in der Rechtsprechung kontrovers diskutiert. Das Gericht schließt sich der überwiegenden Meinung der Fachsenate der Oberlandesgerichte an, wonach dies nicht erforderlich ist. Für diese Auffassung spricht immerhin die Fachkenntnis der mit den Messverfahren und der Bearbeitung von Ordnungswidrigkeitsverfahren vertrauten Fachsenate sowie die Praktikabilität des Ergebnisses. Der Gegenmeinung ist zuzubilligen, dass es schön und befriedigend sein mag, immer genauer zu arbeiten und immer mehr die einzelnen Verfahrensschritte zu ziselieren. Allerdings muss hier auch beachtet werden, dass wir es bei der Ahndung von Geschwindigkeitsverstößen im Straßenverkehr in der gesellschaftlichen Wirklichkeit und der Justiz mit einem Massenphänomen zu tun haben, welches in einem einfach strukturierten und zügig zu bearbeiten Verfahren bewältigt werden muss, wenn es funktionieren soll. Fachfremden Juristen ist häufig nicht geläufig, dass die Sachbearbeiter der Bußgeldbehörden, die und in der Regel über keine Hochschulausbildung im Bereich der Technik oder des Rechts verfügen, weit über 200 Verfahren täglich zu bearbeiten haben. Bei den Amtsgerichten hat der Einzelrichter im Jahr mehr als 1000 Verfahren dieser Art zu erledigen, wenn das gesamte System funktionieren soll. Dazu findet die Vorprüfung der Ordnungsgemäßheit der standardisierten Messverfahren durch die physikalisch Technische Bundesanstalt (PTB) statt als eine Art antizipiertes Sachverständigengutachten. Die amtliche Zulassung von Geräten und Methoden verfolgt gerade den Zweck, Gerichte von der Sachverständigenbegutachtung freizustellen (BGHSt 39, 291, 297; OLG Frankfurt, Beschluss vom 08.09.2017 - 2 Ss-OWi 919/17 - ZfSch 2018, 234, 235 m.w.N.). Die weitere Kontrolle der fachgerechten Anwendung des Messverfahrens einschließlich der Frage, ob es sich im konkreten Falle um ein standardisiertes Messverfahren handelt, obliegt dann den Fachgerichten. Dabei vermag die abstrakt-theoretische Möglichkeit eines Messfehlers keine Zweifel an der Zuverlässigkeit einer Messung zu wecken und weitere Ermittlungen durch Beiziehung von Unterlagen/Daten auszulösen, die nicht zu den Voraussetzungen des standardisierten Messverfahrens gehören, so wie sie von den Fachgerichten definiert werden.

Unter diesen Umständen stellt es weder eine Ungerechtigkeit noch einen Verstoß gegen das Gebot des fairen Verfahrens oder sonstige verfassungsrechtlichen Gebote und Rechte dar, wenn dem Betroffenen lediglich die ihn betreffenden Daten ohne die Datenschutz zu beanspruchenden Daten von Dritten ausgehändigt werden. Andernfalls stellte sich die vom Verfassungsgerichtshof des Saarlandes wohl nicht fokussierte Frage, inwieweit die Zubilligung des begehrten Anspruches nicht praktisch zu einem Verstoß gegen den Grundsatz gemäß Art. 3 Abs. 1 GG führt, da sich diesen Aufwand der Nachprüfung eines einfachen Massenverstoßes durch umfassende Begutachtung der kompletten Messserie durch einen Sachverständigen stets nur ein Teil der Bevölkerung leisten können wird bzw. im Verfahren bereits wegen des begrenzten Angebotes an Sachverständigen nur ausnahmsweise umsetzbar ist. Das würde in der Folge zu einem unerwünschten Auseinanderfallen der Rechtsanwendung im Einzelfall und weiteren Absinken der Akzeptanz durch die Gesellschaft führen. Dem ist der mögliche Mehrgewinn an Richtigkeit der Messung gegenüberzustellen, der in anwaltlichen Schriftsätzen häufig Verfassungsrang erreicht, in der Wirklichkeit der Rechtsanwendung aber geradezu unbedeutend ist. In der Vielzahl der in letzten Jahren durch den Unterzeichner bearbeiteten Verfahren waren eine ganze Reihe von solchen, in denen die Verteidigung private Sachverständigengutachten vorgelegt hat, in denen Sachverständigen sich redlich bemüht hatten im Sinne ihres privaten Auftraggebers einen Messfehler zu finden. Im Regelfall beschränkte sich das Ergebnis auf Aussagen des Inhalts „könnte sein … dürfte“. Wurden ausnahmsweise tatsächliche Messfehler erörtert, dann bewegten sie sich im Bereich von 1 - 2 km/h, also einem Bereich, der durch die Meßtoleranz von 3 km/h bzw.3% abgedeckt wird.

Nach Abwägung aller Umstände, nicht nur der in den hier vorliegenden Schriftsätzen des Verteidigers, war daher der Antrag zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 62 Abs. 2 S. 1 OWiG, 473 Abs. 1 StPO.

Diese Entscheidung ist nicht anfechtbar.

AG Siegen Beschl. v. 9.8.2018 – 430 OWi 1508/18, BeckRS 2018, 22327

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