Die Polizeiliche Kriminalstatistik 2017 – „wundersame Heilung“ oder „Mogelpackung“?

von Prof. Dr. Henning Ernst Müller, veröffentlicht am 08.05.2018
Rechtsgebiete: StrafrechtKriminologie1|7531 Aufrufe

„Nichts genaues weiß man nicht“ titelt heute die FAZ (Artikel von Marlene Grunert), und meint damit die heute von Bundesinnenminister Seehofer vorgestellten (allerdings schon vor 10 Tagen verbreiteten) Grundzahlen der Polizeilichen Kriminalstatistik für das Jahr 2017. Nun kann man sich als Kriminologe freuen, denn nach meiner Beobachtung erstmals seit langer Zeit sind die Medien in breiter Front aufmerksam geworden darauf, dass die „Kriminal“statistik der Polizei eigentlich keine solche ist, sondern eine Aufzeichnung der polizeilichen Tätigkeit im Bereich der Strafverfolgung (Spiegel Online, Zeit Online, Frankfurter Rundschau). Die meisten ihrer Zahlenangaben hängen ja von Strafanzeigen der betroffenen Bürger und Unternehmen ab, deren Häufigkeitsveränderung nicht zuverlässig mit der Häufigkeitsveränderung der tatsächlichen Kriminalität einhergeht. Die Gesamtzahl der Delikte wird nach wie vor primär vom angezeigten Diebstahl und anderen Vermögensdelikten bestimmt.

Das sind Punkte, die kriminologisch Bewanderte seit Jahr und Tag bei der Vorstellung der PKS äußern, ohne dass sich die Schlagzeilen und Berichte davon wesentlich beeinflussen ließen.

So war es 2008, als die im Gegensatz zum Trend stark gestiegene Zahl der schweren und gefährlichen Körperverletzungen auf Straßen, Wegen und Plätzen, Richard Wagner in einem Leitartikel der FASZ veranlasste, den Bürgern die Rückeroberung der Straßen zu empfehlen. Allerdings beruhte der damals festgestellte Trend auf Fehlern der (sonst zuverlässig arbeitenden) Statistiker beim BKA (siehe hierzu meinen damaligen Artikel im Beck-Blog).

Zu begrüßen ist also die Skepsis an den Zahlen der Polizeistatistik, die nun sogar von Seiten der Polizei selbst kommt, die sonst steigende Zahlen auch einmal gern zum Anlass nimmt, die eigene Personalaufrüstung zu fordern (so z.B. 2014 Herr Wendt, der heute ganz anders argumentiert). Wermutstropfen: Ausgerechnet in einem Jahr, in dem der statistische Trend nach unten weist, ist die Kritik an der Statistik plötzlich ubiquitär geworden. Hoffentlich erinnert man sich an die Unzuverlässigkeit der Statistik zur Wiedergabe der Kriminalität auch dann, wenn sie wieder nach oben zeigen sollte in der Zukunft.

Obwohl die Kritik an der PKS als Kriminalstatistik, insbesondere an den Gesamtzahlen der Fälle, der Tatverdächtigen und der Aufklärungsquote, berechtigt ist, gibt die PKS doch Anlass zu einigen kriminologische Anmerkungen:

1. Ein rückläufiger Trend der Kriminalität kommt nicht überraschend per PKS 2017, sondern kann seit Mitte der 1990er Jahre gezeigt werden, teilweise im Einklang mit den Zahlen der PKS, teilweise im Unterschied dazu. (Siehe dazu meinen Beck-Blog-Artikel aus dem Jahr 2014). Kollege Bliesener vom KFN spricht von einem "Zwischenhoch" durch die Flüchtlingskrise. Die von vielen meiner Kollegen geforderte Neuauflage regelmäßiger periodischer Sicherheitsberichte wie 2001 und 2006 wäre in der Lage, allgemeine langfristige Trends auch im Dunkelfeld darzustellen. Allgemeinere, auch durch Dunkelfeldforschung - wie in Niedersachsen - abgesicherte Lagebilder könnten das Abbild verbessern und das Verständnis erhöhen.

2. Neben vielen anderen möglichen Erklärungen (siehe meinen Beck-Blog-Artikel dazu) ist die demografische Entwicklung als eine Haupterklärung sinkender Kriminalität zu nennen.

3. Ebenso wie die PKS nur eine (je nach Deliktsart mehr oder weniger stark) „gefilterte“ Wiedergabe der tatsächlichen Kriminalität darstellt, ist die gefühlte Wahrnehmung der Kriminalität als Sicherheitsrisiko stark gefiltert, so dass das (Un-)Sicherheitsgefühl kaum mehr mit statistischer Messung in Übereinstimmung gebracht werden kann. Man kann es auch so sagen: Das Sicherheitsgefühl hat wenig bis gar nichts mit der realen Kriminalität zu tun und lässt sich auch kaum durch Statistiken beeinflussen.

4. Nun noch zu einigen (gerundeten) Daten, deren Trend meines Erachtens relativ zuverlässig auch die Realität spiegelt, weil hier einige Faktoren, die sonst das Anzeigeverhalten stark beeinflussen, fortfallen und das Dunkelfeld, jedenfalls bei schwereren Einzelfällen, nicht allzu ausgeprägt sein dürfte. Zugleich sind dies Delikte bzw. Deliktsgruppen, die das Sicherheitsgefühl mitbestimmen könnten. Jeweils ist die Schlüsselnummer SN genannt, so dass die Zahlenwerte in der BKA-Zeitreihenstatistik nachvollziehbar sind (Quelle: BKA, PKS, Zeitreihe 2017, EXcel-Datei)

a) 39.000 Fälle von Raubdelikten (SN 210000), das ist die geringste Anzahl seit 1993 (Beginn der Statistik des gesamten Bundesgebiets), am höchsten war 1997 die Zahl von fast 70.000 Fällen. Hier zeigt sich seit 20 Jahren ein kontinuierlich rückläufiger Trend.

b) 117.000 Fälle des Wohnungseinbruchsdiebstahls (SN 435*00) bedeutet, dass ein bis 2015 steigender Trend bei diesem Delikt wohl abgebrochen ist. Die Zahlen schwanken allerdings seit 20 Jahren zwischen 100.000 und 200.000 Fällen und könnten durchaus auch wieder steigen. Siehe schon meinen Artikel von 2016.

c) 62.000 Fälle von gef. und schw. Körperverletzungen auf Straßen, Wegen und Plätzen (SN 222100) sind in etwa dieselbe Anzahl wie vergangenes Jahr, und damit mehr als 2015 und weniger als 2008. Die Zahl scheint auf diesem Niveau (55.000 bis 70.000 Fälle) zu stagnieren.

d) 122 Fälle von überfallartigen Vergewaltigungen durch Gruppen (SN 111200) ist gegenüber 2016 (225 Fälle) ein starker Rückgang und ist zugleich die niedrigste Anzahl solcher Delikte seit 1999 (Anzahl zwischen 125 und 238). In die Zahl von 2016 ging die Silvesternacht von Köln ein; ein solches Phänomen hat sich seither nicht wiederholt, hat also nicht einen allgemeinen Trend der Sexualdelinquenz von Flüchtlingen/Zuwanderern begründet. Die Zahlen bei anderen Sexualdelikten sind wegen der starken Abhängigkeit von der Anzeigebereitschaft und wegen der gravierenden Gesetzesänderungen im vergangenen Jahr allerdings kaum für objektive Vergleiche nutzbar.

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