AGG I: Die Rückkehr des Rechtsmissbrauchs

von Prof. Dr. Christian Rolfs, veröffentlicht am 01.04.2019
Rechtsgebiete: Bürgerliches RechtArbeitsrecht71|10647 Aufrufe

Nach dem Urteil des EuGH in Sachen Nils Kratzer (EuGH, Urt. vom 28.7.2016 - C-423/15, NZA 2016, 1014) und dem anschließenden Revisionsurteil des BAG (Urt. vom 26.1.2017 - 8 AZR 848/13, BeckRS 2017, 112923) konnte man den Eindruck gewinnen, als habe die Rechtsprechung die Voraussetzungen für den Einwand des Rechtsmissbrauchs (§ 242 BGB) bei Schadensersatz- und Entschädigungsklagen nach § 15 AGG so hoch gehängt, dass sie praktisch niemals erfüllt sein werden. Das BAG hatte seinerzeit erkannt (Rn. 130 des zitierten Urteils):

Die Feststellung einer missbräuchlichen Praxis verlangt das Vorliegen eines objektiven und eines subjektiven Elements. Hinsichtlich des objektiven Elements muss sich aus einer Gesamtwürdigung der objektiven Umstände ergeben, dass trotz formaler Einhaltung der in der betreffenden Unionsregelung vorgesehenen Bedingungen das Ziel dieser Regelung nicht erreicht wurde. In Bezug auf das subjektive Element muss aus einer Reihe objektiver Anhaltspunkte (...) die Absicht ersichtlich sein, sich einen ungerechtfertigten Vorteil aus der Unionsregelung dadurch zu verschaffen, dass die entsprechenden Voraussetzungen willkürlich geschaffen werden.

Ein jetzt veröffentlichtes Urteil des BAG (dazu bereits hier im BeckBlog) belegt nun, dass der Einwand des Rechtsmissbrauchs weiterhin durchgreifen kann:

Der Beklagte, ein Zusammenschluss von Trägern diakonischer Arbeit, hatte eine Stelle für "eine/n Referent/in Arbeitsrecht" ausgeschrieben. Darin wurde von den Bewerberinnen und Bewerbern ua. die Mitgliedschaft in der evangelischen Kirche gefordert und "erste Berufserfahrungen (3 Jahre)" als "wünschenswert" bezeichnet. Der Kläger (derselbe wie oben) bewarb sich unter Hinweis auf seine nahezu neunjährige Berufserfahrung als selbständiger Rechtsanwalt auf die Stelle. Zu seiner Kirchenmitgliedschaft schrieb er: "Derzeit gehöre ich aus finanziellen Gründen nicht der evangelischen Kirche an, jedoch kann ich mich mit den Glaubensgrundsätzen der evangelischen Kirche identifizieren, da ich lange Mitglied der evangelischen Kirche war."

Nachdem der Beklagte ihm eine Absage erteilt (und die Stelle zunächst unbesetzt gelassen hatte), machte der Kläger Schadensersatz- und Entschädigungsansprüche geltend, da er (mittelbar) wegen seines Alters und der fehlenden Kirchenmitgliedschaft diskriminiert worden sei. Zuletzt hat er nur noch den Entschädigungsanspruch nach § 15 Abs. 2 AGG weiterverfolgt. Seine Klage blieb in allen drei Instanzen ohne Erfolg. Das BAG begründet sein Revisionsurteil ua. wie folgt:

Der Umstand, dass der Kläger in seinem Bewerbungsschreiben auf der einen Seite auf vorhandene Qualifikationen und positive Eigenschaften, wenn überhaupt, nur pauschal und schlagwortartig eingegangen ist, dass er auf der anderen Seite aber pointiert herausgestellt hat, dass und warum er die - diskriminierungsrechtlich relevanten - beruflichen Anforderungen der Kirchenmitgliedschaft und einer Berufserfahrung von - aus seiner Sicht maximal -drei Jahren - nicht erfüllt, lässt nur den Schluss zu, dass es dem Kläger nicht darum ging, den Beklagten davon zu überzeugen, dass er der bestgeeignete Bewerber war, sondern dass er beabsichtigte, dem Beklagten bereits nach einem ersten Lesen des Bewerbungsschreibens durchgreifende Gründe für eine Absage zu geben. Dies wiederum lässt nur den Schluss zu, dass der Kläger mit der zu erwartenden Absage nur die Grundlage dafür schaffen wollte, erfolgreich eine Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG geltend machen zu können, weil im Fall der Erfolglosigkeit der Bewerbung alles darauf hindeuten musste, dass seine fehlende Kirchenzugehörigkeit sowie sein Alter hierfür zumindest mitursächlich waren.

BAG, Urt. vom 25.10.2018 - 8 AZR 562/16, BeckRS 2018, 40097

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71 Kommentare

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Je nach jeweiliger Besetzung schlingert der Achte Senat zwischen Saulus und Paulus. Ohne dissenting votes ist das nicht mehr nachzuvollziehen...

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Der 8. Senat macht sich mit seiner Achterbahnrechtsprechung zwischenzeitlich zur sprichwörtlichen Lachnummer der Nation. Es zeigt einfach sehr plastisch, daß die Rechtsprechung des EuGH in Deutschland einfach niemanden interessiert. 

@Prof.Dr.Rolfs: seit wann entscheidet denn das BAG über Tatsachenfragem? Oder handelt es sich beim ‚Rechtsmissbrauch‘ etwa um eine rechtliche Beurteilung, über die ein Revisionsgericht entscheiden darf

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Sie schreiben: "Es zeigt einfach sehr plastisch, daß die Rechtsprechung des EuGH in Deutschland einfach niemanden interessiert." Dann schauen Sie mal in die aktuelle NJW, NJW lesen bildet immer. Dort gibt es ein Interview mit Ferdinand Kirchhof zu lesen unter dem Titel "Der EuGH redet an uns vorbei" Was soll man davon halten?

Davon soll man halten, daß die Rechtsprechung des EuGH in Deutschland einfach niemanden interessiert.

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"Deutschland hat eine lange Tradition, Europarecht falsch umzusetzen" (Michael Beurskens, nach LTO 26.3.2019). Das BAG macht unseren Staat zur Lottorepublik Deutschland.

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Jedenfalls ist zu begrüßen, dass dem Absahnen Grenzen gesetzt werden.

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Also mich überzeugt das leider nicht. Wenn jemand darlegt, warum er trotz fehlender Kirchenzugehörigkeit trotzdem zum Arbeitgeber passt, dann deutet das eher darauf hin, dass er alles dafür tut, um die Stelle zu bekommen. Wenn jemand neun Jahre Berufserfahrung hat und dies im Bewerbungsschreiben darlegt, dann weist er auf seine entsprechenden praktischen Fähigkeiten hin. Was ist denn dann z.B. mit einem schwerbehinderten Bewerber? Darf er jetzt nicht mehr seine Schwerbehinderung mitteilen? Er könnte ja dadurch eine Bewerbungsabsage provozieren. Was macht eine Frau, die sich auf eine nur für Männer ausgeschriebene Stelle bewirbt? Muss sie ihren Namen einschwärzen, weil sich ihrem Namen ja ihr Geschlecht entnehmen ließe?

Mich würde dann schon mal interessieren, was der Arbeitgeber sagen würde, wenn man seine fehlende Kirchenzugehörigkeit verschweigt und dann den Arbeitsvertrag unterschreibt. Sobald er das herausfindet, wäre die Anfechtung des Arbeitsvertrags die erste Konsequenz.

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Wenn die Richterin Regine Winter in Erfurt nicht beisitzt, macht man dort was man will, unabhängig von jeder Stringenz und Gesetzmäßigkeit.

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Die Thematik des "Rechtsmissbrauchs" lädt geradezu zur Willkür ein. Es ist im Ergebnis ja nichts anderes, als ein bestehendes Gesetz nicht zur Anwendung zu bringen, einem Bürger das Recht, das ihm zuvor gegeben wurde, wieder zu entziehen. Wenn es dann noch davon abhängig ist, wer konkret zufällig im Senat sitzt, dann kann man künftig die Entscheidungen auswürfeln. Ich fände es interessant, wenn man mal diskutieren würde, ob man das vorliegend überhaupt kann. Die negative Religionsfreiheit ist doch auch ein Grundrecht. Kann man ein Grundrecht missbrauchen? Mir fällt da nur die "Verwirkung" von Grundrechten ein. Das müsste dann das Bundesverfassungsgericht feststellen. Mir ist auch kein Fall bekannt, bei dem dies jemals geschehen ist.

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ich meine da haben Sie rechtr.

egal, wenn nur einer von den freischwebenden Bundesrichtern mit einem "verpönten Merkmal" in ihrem eigenen Berufsleben ernstlich zu kämpfen gehabt hätten, dann würden diese Entscheidungen nicht diese infame Arroganz erkennen lassen.

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Die Überschrift klingt etwas bedrohlich. Die "Rückkehr des Rechtsmissbrauchs". Ich hoffe, der Verfasser ist sich bewusst, woher der Begriff "Rechtsmissbrauch" rechtshistorisch kommt und wann und unter welchen Voraussetzungen er in Deutschland "Hochkonjunktur" hatte.

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Was haben Sie gegen den Begriff "Rechtsmissbrauch"? Der ist in der Rechtsprechung von EuGH und BVerfG anerkannt (nur als Beispiele: EuGH, Urt. vom 2.5.1996 - C-206/94, NJW 1996, 1881 - Paletta II; BVerfG, Beschl. vom 26.6.2018 - 2 BvR 1032/18, BeckRS 2018, 14510). Das BAG prüft beispielsweise auch, ob der (wiederholte) Abschluss befristeter Arbeitsverträge rechtsmissbräuchlich ist - also gegen § 242 BGB verstößt, obwohl ein Sachgrund iSv. § 14 Abs. 1 TzBfG gegeben ist.

"Rechtsmissbrauch" ist der Hebel für das Primat der besserwisserischen Justiz über das parlamentarische Gesetz.

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Nein. Er ist der "Hebel" zur Vermeidung offenkundigen Unrechts.

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Wer soll das verstehen? Man könnte wirklich meinen, als ob der 8. Senat komplett ausgetauscht worden wäre. Eine Provokation einer Bewerbungsabsage kann man grundsätzlich immer konstruieren, wenn man das will. Die Entscheidungsgründe lassen eine sorgfältige Prüfung der vom EuGH aufgestellten Voraussetzungen komplett vermissen. 

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Hier heißt es:
Ich meine, die arbeitsrechtliche Rechtsmissbrauchs-Rechtsprechung wird immer unmöglicher, vergifteter und unglaublicher. Das hier gegenständliche Argument der Absageprovokation schickt jeden Bewerber auf den schmalen Grad zwischen dem Betrugsvorwurf einerseits, weil er eine maßgebliche Tatsache nicht angegeben hat, und dem Rechtsmissbrauchsvorwurf andererseits, weil er zu viel Tatsachen angegeben hat. Was der Bewerber auch tut: Schwulitäten sind in jedem Falle vorprogrammiert, und das bei einem Gesetz, das es nach dem gesetzgeberischen Willen dem Bewerber besonders einfach machen sollte und bei einem Bewerber, der sich derzeit ohnehin seit Monaten gegen Betrugsvorwürfe verteidigen muss, sich also besonders ehrlich, also absageprovokant, verhalten muß.
Das Bundesarbeitsgericht hat es mit seiner unhaltbaren Rechtsprechung wirklich geschafft, dass das AGG rechtsstaatswidrig zu völlig willkürlichen und beliebigen Ergebnissen führt und jeden in welcher Form auch immer - in direkter Ansehung der Person - persönlich missliebigen Bewerber in jedem Fall irgendwie in den Abgrund reißt, wenn er sich darauf beruft. Unglaublich. Der Senat sollte geschlossen zurücktreten!

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War das wieder der alte Wiederholungstäter? 

Im Blog heißt es: "Der Kläger (derselbe wie oben) ..."

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‚Wiederholungstäter‘ ist ein schöner Begriff. Hat sich eigentlich schon mal jemand gefragt, wer hier ‚Täter‘ ist. Eine Diskriminierung ist und bleibt eine Menschenrechtsverletzung, sodass die Bezeichnung eines Klgers als ‚Täter‘ etwas pervertiert sein dürfte.

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Das nennt man “Victim Blaming“ bzw. “Täter-Opfer-Umkehr“.

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Ja, Richard Schröder hat ja bereits darauf hingewiesen: Opfer sein ist gut, das bringt Ansprüche.  Übrgens, eine hübsche Variante zu zeitaktuellen Debatten sogenannten "Missbrauchs".  Den Missbraucher soll man nicht mehr Täter nennen dürfen. Orwell lässt grüßen. Newspeak!

Ich wage mal zu prophezeien, daß hier noch nicht das letzte Wort gesprochen wurde. Der hier "tätige" Kläger hat ja wohl mehr als sieben Leben und solange nicht die 125. Spielminute abgelaufen ist, wäre es töricht, zu jubeln. Was vorliegend den "Einwand des Rechtsmissbrauchs" angeht, würde ich gerne den Videobeweis sehen bzw. sollte man mal überprüfen, ob nicht "Robert Hoyzer" das Spiel sprichwörtlich verpfiffen hat.

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Die "Zeit" vom 4.4.2019 berichtet ausführlich über das Strafverfahren gegen den Kläger vor dem Landgericht München I (hier auch online, allerdings kostenpflichtig).

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Ganz schön tendenziös und unprofessionell der Artikel in der ‚ZEIT‘. Aber die Thematik verstehen ja noch nicht einmal unsere Spitzenjuristen. Wie soll sie dann eine schlichte Boulevard-Journalistin verstehen können. 

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DIE Zeit folgt ganz einfach den Pfaden des "gesunden Volksempfindens", das interessierte Kreise und ihre Mietmäuler bei Unterstützung durch die Rechtsprechung in das AGG hineininterpretiert haben. In 50 Jahren, aber erfahrungsgemäß keinesfalls früher, wird man wieder lauthals und mit Krokodilstränenin den Augen aber im übrigen natürlich folgenlos bejammern, wie falsch es war, dass man trotz AGG immer weiter diskriminiert und die Opfer, die sich gewehrt haben, sogar noch strafrechtlich verfolgt hat...

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Sehr treffend: "interessierte Kreise und ihre Mietmäuler " - der Missbrauchsbegünstiger.

Der Artikel in der ‚ZEIT‘ ist nun wirklich eine Farce. Der Kläger wird als teuflischer Dämon dargestellt. Da hat wohl mal wieder der gängigen Protagonisten seine Journalisten-Soldaten an die Front geschickt. Man denke nur an diesen seltsamen Joachim Jahn

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Von teuflischer Dämon konnte ich in dem Artikel nichts lesen. ME ist die Problematik recht gut dargestellt.

Dass es dem Herrn RA nicht passt, wenn in der ZEIT die Vorgehensweise der Gebrüder K. dargestellt wird und unter anderem auch die kuriosen Vorstellungsgespräche seines Bruders (falscher potentieller Arbeitgeber....; Diskriminierung weil Bayer), sowie die plötzliche ausgiebige Nutzung der frisch abgeschlossenen Rechtsschutzversicherung steht auf einem anderen Blatt.

Kurios ist jedenfalls, dass der Herr RA K. laut ZEIT die Staatsanwaltschaft einer u.a. "medialen Vernichtungskampagne" zeiht, wo doch von Justizseite keine einzige relevante Pressemitteilung auffindbar ist und der Strafprozess bislang (mit Ausnahme des  5 Monate nach Beginn der Hauptverhandlung erschienenen ZEIT-Artikels) medial gar nicht präsent war.

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Wie immer bei Presseartikeln sollte man nicht alles glauben, was dort berichtet wird. Dies gilt vor allem bei solch eindeutig tendenziellen Presseberichten. Die ausgiebige Nutzung einer frisch abgeschlossenen Rechtsschutzversicherung erscheint schon deswegen unrealistisch, weil dort immer eine Wartezeit besteht. 

Wir wissen alle nicht, was die StA tatsächlich medial gemacht hat, etwa wem sie wann welche ( richtigen oder auch falschen) Informationen zur Verfügung gestellt hat

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@Gast neu:

Ich stimme Ihnen zu zu. Es dürfte nur wenige Presseberichterstattungen geben, in denen derartig "legendenartig" und tendenziös berichtet wurde wie über den Rechtsanwalt K. Man denke nur an die Berichterstattung über dessen EuGH-Urteil. Kein einziges Medium hat über den wahren Aussagegehalt dieses Urteils berichtet, sodass dann alle völlig  geschockt über die darauf folgende konsequente Rechtsprechung des BAGs waren. Oder denken Sie doch an die absurde und unseriöse Berichterstattung der FAZ mit dem allseits bekannten dubiosen Journalisten Prof.Dr. J.J.

Es  wäre also kein Wunder, wenn nunmehr die  darauf folgende Berichterstattung eine Fortsetzung dieser Hexenjagd wäre.

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Das Opfergehabe eines Mannes, der mit seinem Bruder über 80.000 € kassiert hat für etwas Stellenanzeigen sichten und fehlerhafte Bewerbungsschreiben zu tippen scheint gut anzukommen bei denjenigen, die hier von Hexenjagd schwadronieren (das mit der Entrechtung der AGG-Kläger wie weiland 1933 ff. zahlreicher Mitbürger verkneift man sich ja wenigstens inzwischen).

 

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@Leser:

Der aktuelle Beitrag bei LTO stützt Ihre Vermutung. Dort hat man zwischenzeitlich anscheinend auch erkannt, dass da einige "Gerüchte" in Verbreitung waren, wenn schon nicht mehr das Gericht bereit ist oder sogar in der Lage ist, Auskünfte zu erteilen. 41 Hauptverhandlungstage. Es war klar, dass RA K. nicht kampflos das Feld räumen wird. Das Ganze riecht nach Justizposse. Schließlich hat das Landgericht die Anklage ja schon aus Rechtsgründen nicht zugelassen.

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Das Ganze riecht nach Justizposse.

Man kann es euphemistisch "Justizposse" nennen. Man kann aber auch "Verfolgung Unschuldiger" sagen. Je mehr Verfolgung, desto mehr Angst, bis niemand mehr die Rechte aus dem AGG geltend zu machen wagt. "Angst essen Freiheit auf" hat kürzlich Leutheusser-Schnarrenberger ihr Buch zu Recht betitelt. Was helfen Rechte und Grundrechte, für die man Verfolgung leiden muß?

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Mich würde mal interessieren, wie man die Vorwürfe denn rechtlich begründen will. Mit welcher Handlung soll denn vorliegend über welche Tatsachen getäuscht werden? Ich habe das schon mit so vielen Kollegen erörtert. Niemand hatte hierfür eine plausible Idee. Nicht einmal so viele Fachleute in diesem Blog. Man kann doch nicht über 41 Verhandlungstagen nicht wissen, was man eigentlich verfolgt.

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@Kollege Würdinger:

Vielen Dank für den Link, aber LTO setzt sich in keinster Weise mit den Rechtsfragen auseinander. Vielmehr beschreibt es lediglich einen Eindruck von dem Prozess. Die rechtliche Argumentation, wo hier die Täuschungshandlung über welche Tatsachen vorliegen soll, wäre für alle Arbeitsrechtler bundesweit sehr interessant. Denken Sie doch mal an die zahlreichen Kündigungschutzverfahren, in denen gar keine Weiterbeschäftigung angestrebt wird, sondern die Zahlung einer Abfindung. Ein AGG-Kläger beansprucht das, was das Gesetz  ausschließlich vorsieht, nämlich eine Entschädigung. Das KSchG sieht die Weiterbeschäftigung vor und nicht etwa eine Abfindung. Also missbraucht ein solcher Kläger ein Gesetz weitaus mehr als ein AGG-Kläger, weil der  Kündigungsschutzkläger das Gesetz sozusagen zweckentfremdet.

@Prof.Dr. Rolfs:

Warum gibt es hierzu denn keine Ausführungen? Das Strafverfahren kann doch nicht derartig in der Luft schweben. Jeder spricht von Betrugsvorwürfen aber niemand diskutiert die rechtliche Konstruktion. Wir wissen doch alle, dass es einen gravierenden Unterschied gibt, was ein Laie bzw. eine Jurist unter Betrug versteht. Der BGH verhandelt beispielsweise am 25.04.2019, Az: I ZR 149/18, ob der  Einwand des Rechtsmissbrauchs gegeben ist. Muss sich die unterlegene Partei dann auf ein Strafverfahren vorbereiten, wenn der BGH zu Lasten dieser Partei diese Würdigung vornimmt?

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Die rechtliche Argumentation, wo hier die Täuschungshandlung über welche Tatsachen vorliegen soll, wäre für alle Arbeitsrechtler bundesweit sehr interessant.

Es geht wohl darum, dass bei der angeklagten Vorgehensweise der Angeklagten strafrechtlich relevante Täuschungshandlungen vorlagen, da die Angeklagte jedenfalls konkludent jeweils über die subjektive Ernsthaftigkeit ihrer Bewerbungen täuschten und hierdurch Vermögensvorteile erwirtschaftet wurden, bzw. dies versucht wurde.

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@Gast:

Vielen Dank, aber das wäre eigentlich kaum vorstellbar. Es gibt doch bei den Arbeitsgerichten eine Darlegungs -und Beweislastverteilung. Die kann man doch nicht einfach so aushebeln, indem man dann von einer Partei, die nicht beweisbelastet ist dann doch eine Aufklärung erwartet. Oder noch viel abwegiger.... ihrem Schweigen einen konludenten Erklärungswert unterjubelt. Was machen wir dann künftig mit einem Arbeitgeber, der eine Kündigung ausspricht. Wird damit auch konkludent erklärt, dass die Kündigung sozial gerechtfertigt ist? Täuscht ein Arbeitnehmer, der Lohnansprüche trotz abgelaufener Verfallsfristen klageweise geltend macht, konkludent vor, dass diese Ansprüche gleichwohl noch durchsetzbar sind? Das wäre doch Irrsinn. Da müssten wir das gesamte Zivilprozessrecht auf den Kopf stellen.
 

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Ihre Einwände sind irgendwie nachvollziehbar. Vielleicht sollte man in dieser Angelegenheit einmal den beck-blog Strafrechtsexperten Prof.Dr. Henning Müller bemühen. Ich diskutiere ja gerade ganz lebhaft mit ihm nebenan wegen des Bestechungs-Verfahrens gegen den Regensburger OB.
 

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Vielleicht sollte man in dieser Angelegenheit einmal den beckblog Strafrechtsexperten Prof.Dr. Henning Müller bemühen.

Es wäre schön, wenn sich Herr Müller mit dem Thema befassen könnte. Da geht (arbeits- und) strafrechtlich nämlich wirklich drunter und drüber.

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Das hätte nur sehr begrenzten Sinn. Denn Prof. Müller neigt zum Sperren und Löschen. 

Ich gebe Ihnen recht. Insbesondere wird damit der gesetzlich völlig ungeregelte und undefinierte "Rechtsmissbrauch" zum strafbegründenden Tatbestandsmerkmal des Betrugs, was m. E. vehement gegen das nulla-poena-Verbot verstößt, weil gesetzlich völlig ungeregelt.

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@RA Bester: Ich habe das Strafverfahren hier im BeckBlog bislang nie thematisiert und werde das auch in Zukunft nicht tun, bevor es nicht rechtskräftig abgeschlossen ist. Bis dahin gilt die Unschuldsvermutung.

@Prof.Dr. Rolfs:

Was meinen Sie zu den rechtlichen Erwägungen des OLG Münchens, die hier durch "Gast" dankenswerterweise dem Blog zur Verfügung gestellt wurden? Geht das? Die konkludente Täuschung über die Durchsetzbarkeit einer Forderung? Klingt mE etwas schief

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Zum ‚Thema Angst essen Freiheit‘ auf:

Die von der Kanzlei Gleiss, Lutz ins Leben gerufene AGG-Hopper-Hysterie war erfolgreich. Dort begann man ja schon im September 2006, also wenige Tage nach Inkrafttreten des Gesetzes damit. Man hätte also noch gar keine Erfahrungswerte, ob dieses Phänomen überhaupt jemals in Erscheinung treten würde. 

Diese entfachte Hysterie war ein Mandanten-Akquiseinstrument einer Großkanzlei, die damit einfach Umsatz generieren wollte. Die Gerichte und viele Stimmen der Literatur sind darauf einfach reingefallen und haben in jeden AGG-Kläger eine AGG-Hopper hineininterpretiert. Mit abstrusen Begründungen wohlgemerkt. Einmal war es das Bewerbungsschreiben, das nicht passte, dann die Qualifikation, dann das Verhalten vor Gericht und schlussendlich das, was die Medien berichten. Wir sollten nicht vergessen, dass zum Zeitpunkt der Bewerbung kein Bewerber exakt weiß, was ihn bei seinem neuen Arbeitgeber erwarten wird. Er hat noch keinen seiner Chefs oder Kollegen kennengelernt. Meist weiß er noch nicht einmal, was er verdienen wird. Um herauszufinden, ob man künftig miteinander arbeiten möchte, hierzu dient das Vorstellungsgespräch. Ein abgelehnter Bewerber hätte nie die Chance hierzu. Galina M., die zahlreiche Klagen auf den Weg gebracht hat, hat man versucht auf der Psycho-Schiene abzustellen. RA Dr. R. wurde mit der Kostenkeule erschlagen. RA K. überzieht man mit einem sinnbefreiten Strafverfahren. Ja.... keiner wird sich mehr trauen wegen des AGGs vor Gericht zu ziehen. War oder ist das das Ziel des Gesetzes? Nein, Arbeitgeber sollen davon abgehalten werden zu diskriminieren. Der deutsche Staat hat die Privaten bei der Verfolgung dieser Ziele explizit durch 17 AGG in die Pflicht genommen. Und jetzt verfolgt dieser Staat die Menschen, die diesem Auftrag nachgehen? Obwohl der Staat sich selbst diesen Auftrag nicht erteilt hat? Das alles wäre möglich gewesen durch Straf -oder Bußgeldvorschriften durch die diskriminierende Arbeitgeber zu rechtskonformen Handeln bewegt werden sollen

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Im Beschluß des OLG Müchen vom 25.1.2016 - 2 Ws 1/16, 2 Ws 2/16 - mit dem die vorangehende Entscheidung des LG München I aufgehoben, die Anklage zur Hauptverhandlung zugelassen und das Hauptverfahren eröffnet wurde, heißt es u. a. zur Täuschungshandlung:

1. Täuschungshandlung

Entgegen der Rechtsauffassung der Kammer geht der Senat davon aus, dass bei der angeklagten Vorgehensweise der Angeschuldigten strafrechtlich relevante Täuschungshandlungen Vorlagen, da die Angeschuldigten jeweils über die subjektive Ernsthaftigkeit ihrer Bewerbungen täuschten.

Nach allgemeiner Auffassung ist Tathandlung des Betrugs eine täuschende Erklärung über Tatsachen, wobei auch innersubjektive Zustände, Vorgänge, Kenntnisse und Absichten Tatsachen sein können (vgl. Fischer, StGB, 63. Aufl., § 263 Rn 8 m.w.N.). Hierzu zählt u.a. auch die Absicht, in der Zukunft bestimmte Handlungen vorzunehmen oder zu unterlassen (Fischer, aaO). Das Geltendmachen von Forderungen, auf die kein Anspruch besteht, ist ebenfalls eine Täuschung i.S.v. § 263 StGB, wenn ein Bezug zu einer unzutreffenden Tatsachenbehauptung hergestellt wird (Fischer, aaO, Rn 27).

So liegt der Fall hier: Nach dem Tatvorwurf der Anklage hat der Angeschuldigte Nils Kratzer entweder in eigenem Namen oder als anwaltlicher Vertreter des Angeschuldigten Sven Kratzer in Absprache mit diesem jeweils nach Bewerbung und Erhalt einer Absage Schreiben an die stellenausschreibenden Unternehmen versandt, in denen er Entschädigungsansprüche nach dem AGG geltend machte. Hierdurch täuschten die Angeschuldigten in bewusstem und gewolltem Zusammenwirken jedenfalls konkludent vor, dass der jeweilige Bewerber ernsthaftes Interesse an dieser Stelle gehabt habe. Nach dem Ergebnis der staatsanwaltlichen Ermittlungen besteht auch zur Überzeugung des Senats der hinreichende Verdacht, dass die beiden Angeschuldigten bei ihren jeweiligen Bewerbungen zu keinem Zeitpunkt die Absicht hatten, die ausgeschriebenen Stellen auch anzutreten, sondern dass es ihnen lediglich darauf ankam, potentiell AGG-widrige Stellenausschreibungen auszunutzen, um im Falle einer erwarteten Absage einen Anspruch nach § 15 AGG geltend zu machen. Dieser hinreichende Verdacht ergibt sich zum einen bereits aus der von der Staatsanwaltschaft in der Anklage zutreffend dargestellten Vielzahl von mehreren hundert Bewerbungen über einen Zeitraum von nur gut zwei Jahren auf in Art und inhaltlicher Ausrichtung vollkommen unterschiedliche Stellen, die zudem mit der beruflichen Qualifikation der Angeschuldigten zu einem nicht unerheblichen Teil allenfalls im entferntesten Sinne übereinstimmten. Auch die Auswertung des E-Mail-Verkehrs zwischen den Angeschuldigten aus den Jahren 2008 bis 2012 ergibt den hinreichenden Verdacht, dass die Angeschuldigten planvoll und bewusst Bewerbungen für potentiell AGG-widrige Stellenausschreibungen verfassten, ohne tatsächlich vorgehabt zu haben, eine dieser Stellen anzutreten. Im Gegenteil hat auch der Senat nach Aktenlage die Überzeugung gewonnen, dass es den Angeschuldigten ausschließlich darauf ankam, Absagen auf derartige Bewerbungen zu erhalten, um Ansprüche wegen vermeintlicher Diskriminierungen nach § 15 AGG geltend machen zu können, Insoweit wird zur Vermeidung von Wiederholungen auf die Ausführungen der Staatsanwaltschaft München I im wesentlichen Ergebnis der Ermittlungen der Anklage vom 10.12.2014 (dort Ziffer C) III.5.) Bezug genommen. Sowohl aus den Formulierungen der dort zitierten Bewerbungsschreiben sowie aus den sonst ermittelten Umständen (Forderung nach überhöhter Fahrtkostenerstattung; Schriftverkehr zwischen den Angeschuldigten hinsichtlich der Schwierigkeiten, eine Absage zu erreichen, und hinsichtlich der Auswahl der Unternehmen) ergibt sich der hinreichende Verdacht mangelnder Ernsthaftigkeit der Bewerbungen.

Zwar ist, wie die Kammer in dem angefochtenen Beschluss zutreffend ausführt, die subjektive Ernsthaftigkeit einer Bewerbung nicht Tatbestandsvoraussetzung für einen späteren Entschädigungsanspruch gem. § 15 AGG, jedoch kann nach bisheriger Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts bei fehlender Ernsthaftigkeit der Bewerbung dem Anspruch der Einwand des
Rechtsmissbrauchs nach § 242 BGB entgegen gehalten werden. Somit ist die subjektive Ernsthaftigkeit der Bewerbung eine Voraussetzung für die Durchsetzbarkeit des AGG-rechtlichen Anspruchs, über die in strafrechtlich relevanter Weise getäuscht werden kann.

An dieser Bewertung ändert die von der Strafkammer angesprochene Beweislastumkehr im arbeitsrechtlichen Verfahren nichts; im Gegenteil liegt gerade deswegen zur Überzeugung des Senats die Annahme einer Vermögensgefährdung bei dem in Anspruch genommenen Unternehmen bereits durch das erste Forderungsschreiben noch näher. Denn der potentielle Arbeitgeber hat regelmäßig keinen Überblick über Art und Anzahl der weiteren Bewerbungen des Anspruchstellers, sondern kennt nur den ihn betreffenden Einzelfall, Die Darlegung des Rechtsmissbrauchs mangels Ernsthaftigkeit der Bewerbung ist daher im konkreten Einzelfalls jedenfalls erschwert.

Der Strafkammer ist auch nicht beizupflichten, soweit sie ausführt, die Anklage lasse eine hinreichende Darstellung der betrugsrelevanten Täuschungen missen. Aus der Sachverhaltsdarstellung der Anklage ergibt sich der gemeinsame Tatplan der Angeschuldigten ebenso wie der Umstand, dass die Angeschuldigten zu keinem Zeitpunkt eine tatsächliche Arbeitsaufnahme beabsichtigten. Darüber hinaus wird dargestellt, welchen Irrtum die Angeschuldigten bei den jeweiligen stellenausschreibenden Unternehmen erregen wollten. Mindestens aus dem Gesamtzusammenhang der Sachverhaltsdarstellung ergibt sich auch, dass angeklagte Tathandlung jeweils die Geltendmachung der Forderung nach AGG ist. Die einzelnen Taten werden in der Anklage durch Nennung des jeweiligen Bewerbers, des Datums der Bewerbung und der Ablehnung, des Adressaten der Bewerbung und der geforderten (und ggf. gezahlten) Entschädigungssumme hinreichend bestimmbar konkretisiert, auch wenn die Kammer zu Recht darauf hinweist, dass im Anklagesatz die Daten der jeweiligen Forderungsgeltendmachung fehlen.
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@Prof.Dr. Rolfs:

Nachdem es wohl auch zahlreiche Sympatisanten des RA K. gibt, sollte man vielleicht diesen Blog-Beitrag redigieren. Es befinden sich konkrete Namen in diesem Beitrag, worüber sich ein Verfechter des allgemeinen PErsönlichkeitsrechts sicherlich sehr echauffieren könnte.

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Vielen Dank. Über eine Voraussetzung der Durchsetzbarkeit einer Forderung soll konkludent getäuscht worden sein? Das ist jetzt aber schon sehr konstruiert. Wieso soll denn ein Anspruchsteller überhaupt irgend etwas zur Durchsetzbarkeit einer Forderung erklären? Damit wird doch im Ergebnis die eindeutige Beweislastverteilung ausgehebelt. Man kann doch nicht einerseits sagen, daß der Arbeitgeber die volle Darlegungs -und Beweislast für das Vorliegen des Einwands des Rechtsmissbrauchs habe um dann zu sagen, daß irgendein Verhalten ( welches überhaupt?) einen schlüssigen Erklärungswert habe. Das könnte man doch grundsätzlich immer, wenn es eine bestimmte Beweislastverteilung gäbe. Beispiel: Der Arbeitnehmer hat die Darlegungs -und Beweislast, daß Überstunden geleistet wurden. Erklärt dann der Arbeitgeber, der dies bestreitet konkludent, die Negativtatsache, dass die Überstunden nicht geleistet wurden?

Beispiel: Der Arbeitgeber ist beweisbelastet für das Vorliegen eines wichtiges Grundes für eine außerordentliche Kündigung. Erklärt er jetzt konkludent mit dem Ausspruch dieser Kündigung, daß dieser wichtige Grund vorliegt. ? Dann macht sich doch praktisch jeder Arbeitgeber wegen Betrugs strafbar, wenn er dem unrechtmäßig gekündigtigten Arbeitnehmer auf Grund der ausgesprochenen Kündigung den Lohn vorenthält.

Das ist ( vorsichtig formuliert) völliger Irrsinn. 

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Ihr "Beispiel" leuchtet ein und zeigt, wie unsinnig diese Denkungsart ist. "Das Strafrecht lebt - wie jede andere formelle oder informelle Sanktionierung abweichenden Verhaltens - davon, dass es klare gesetzliche Grenzen zieht zwischen erlaubtem und unerlaubtem Verhalten" (Thomas Fischer). Daran mangelt es beim "Rechtsmissbrauch" incl. seiner angeblichen Strafbarkeit in jeder Hinsicht.

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