ARD/ZDF-Sendungen zur Bundestagswahl 2017 - Hat „Migration“ die Medienagenda dominiert?

von Prof. Dr. Marc Liesching, veröffentlicht am 23.04.2019

Nach der Bundestagswahl 2017 gerieten die öffentlich-rechtlichen Sender stark in die Kritik. „Themensetzung von rechts“ kritisierten Kommentatoren und Kommentatorinnen über die Gewichtung in den politischen Sendungen, insbesondere im TV-Duell Merkel/Schulz. Der Geschäftsführer des Deutschen Kulturrates, Olaf Zimmermann, ging mit den Polit-Talkshows von ARD und ZDF noch härter ins Gericht. Durch ihre einseitige Fokussierung auf Themen wie „Flüchtlinge“ und „Islam“ hätten die Sender dazu beigetragen, „die AfD bundestagsfähig zu machen“. Ist dieser Vorwurf von Agenda-Setting berechtigt? Welchen Raum nahm das Thema Migration vor der Bundestagswahl tatsächlich ein?

Sujet-Kategorisierung zur Versachlichung der Debatte

Die Medienwissenschaftler Prof. Marc Liesching und Prof. Gabriele Hooffacker von der Hochschule für Technik, Wirtschaft und Kultur Leipzig (HTWK Leipzig) haben in einer unabhängigen Studie nun erstmals eine Kategorisierung aller Erstsendeminuten der politischen Fernsehbeiträge von ARD und ZDF im Monat vor der Bundestagswahl 2017 vorgenommen. Ein Befund der Studie: Über alle 56 untersuchten Sendungen hinweg zeigt sich eine vielfältige Themenpräsenz mit weitgehend ausgeglichener Gewichtung. Dabei rangiert der Themenkomplex „Migration“ mit knapp 12 Prozent der Sendeminuten hinter „Arbeit/Familie/Soziales“ (15 Prozent) und nur knapp vor „Außenpolitik“ (11 Prozent). Die restlichen Sendeminuten verteilen sich auf weitere elf Sachgebiete, darunter beispielsweise „Umwelt“, „Bildung/Digitalisierung“ oder „Steuer/Finanzen“.

Dementgegen war „Migration“ das Thema Nummer eins in den fünf meistgesehenen politischen Sendungen vor der Bundestagswahl, über ein Fünftel der Sendezeit kreiste um diesen Sachverhalt. Beim TV-Duell Merkel/Schulz, der Sendung mit den höchsten Einschaltquoten, fokussierten sogar 34 Prozent der Sendezeit das Thema „Migration“, weitere 20 Prozent handelten von „Außenpolitik“. Mit niedrigeren Anteilen schließen sich die nahezu gleich gewichteten Themen „Umwelt“ (9 Prozent), „Innere Sicherheit“ (7 Prozent) und „Arbeit/Familie/Soziales“ (7 Prozent) an.

Die detaillierten Ergebnisse der Studie erlauben eigene Auswertungen, beispielsweise nach Einschaltquoten oder nach Sendeformaten. Um das Bild für die Leser abzurunden, haben die beiden Wissenschaftler mehrere Journalisten zu den Abläufen und dem journalistischen Selbstverständnis ihrer Redaktion befragt. Zusätzlich führten Medienstudierende der HTWK Leipzig eine qualitative Analyse durch, bei der die Neutralität der Fragen von Fernsehmoderatoren an Politikerinnen und Politikern im Fokus stand. „Bisher wurde in den Debatten viel mit ‚gefühlten‘ Fakten und Häufigkeiten gearbeitet“, so Medientheorie-Professor Marc Liesching, „wir wollen die Debatten auf ein sichereres Fundament stellen – sodass nun über die Interpretation der Zahlen und auch über methodische Fragen ihres Zustandekommens sachlich fundiert diskutiert werden kann.“

„Agenda-Setting“ und „Framing“ als Begleiter des Journalismus

Liesching und Hooffacker stellen ihre Forschungsergebnisse in den Kontext der Debatten um „Agenda-Setting“ und „Framing“. Die Ausgangsthese: Eine häufige Themensetzung („Agenda-Setting“) kann die Wahrnehmung der Zuschauer beeinflussen. Ebenso kann die Rahmung (das „Framing“) des Themas „Migration“, beispielsweise mit dem Thema „Kriminalität“, Verknüpfungen in den Köpfen des Fernsehpublikums erzeugen und festigen. Eine mögliche Erklärung für die unzutreffende Wahrnehmung der Themenverteilung kann zudem der Hostile-Media-Effekt liefern, wonach Personen mit einer gefestigten Meinung eine ausgewogene Berichterstattung als verzerrend erleben. „Die qualitativen Befragungen haben gezeigt, dass die allgemein anerkannten journalistischen Qualitätsstandards wie Aktualität, Neutralität und Meinungsvielfalt in allen untersuchten Redaktionen eine wichtige Rolle spielen“, fasst Journalistik-Professorin Gabriele Hooffacker zusammen. „Zudem konnten die TV-Redakteure Effekte wie den Hostile-Media-Effekt aus der Praxis bestätigen.“

Die Studie „Agenda-Setting bei ARD und ZDF? Analyse politischer Sendungen vor der Bundestagswahl 2017“ wurde von der Otto Brenner Stiftung gefördert und erscheint am 23. April 2019 als OBS-Arbeitspapier 35. Die Studie ist unter dem Link https://www.otto-brenner-stiftung.de/wissenschaftsportal/informationsseiten-zu-studien/agenda-setting-bei-ard-und-zdf/ frei verfügbar.

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8 Kommentare

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Sie verstehen aus etwas komplizierteren Texten nur immer maximal drei Worte, mehr nicht. Das bewahrheitet sich leider auch hier wieder ("Alles in Butter")...

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Ganz herzlichen Dank für diesen Hinweis. Ich werde das studieren. Von der tto-Brenner-Stifutg stammt ja auch die vorzügliche Ausarbeitung Haller 2017 zum medialen Sittenverderb 2015-1.Quartal 2016, freilich vornehmlich in der Druckjournaille. 

Einen guten Teil habe ich gelesen. Die Darstellung reduziert sich weitgehendauf Formales, wie Minuten eines Themas. Auf diesem Niveau kann ich als Schlichtbürger  gleich anknüpfen: "heute", 19 Uhr 23. April 2019: Über den Wahlparteitag der "Linke" in Bremen: 7:27 bis 9:18. Davon zwei Spitzenkandidaten in ganzen undurchquatschten,von Reporteroidalen Journaille-Oberlehrern nicht durchquatschten Sätzen Herr Schirdewan 8:12  bis 8:23, und Frau Demirel 8:40 bs 9:02. Wenn ich das vergleiche mit den propagandjournailloiden "Berichten" von AfD-Parteitagen um 2017 - kein Satz, kaum ein Halbsatz, zu verstehen, stets durchquatscht vom "Reporter". Auch heute nicht - nur auf youtube kann man ganze Reden auch von Vertretern jener Partei hören. - Ein weiteres, durchaus formal registrierbares Thema: Wie wäre es, wenn  aus den Kulenkampf-Sendungen der 1960er Jahre bei "talk-Runden" schalldichte Kabinen da wären.  Jeder hat dieselbe Zeit insgesamt für seine Rede, und nur einer (!!!) ist zu hören - der Rest ist stummgeschaltet. Kein Durcheinanderquatschen mehr!  Es wird in jener Untersuchung auch nicht gemessen, wie oft und  wie lange einer dem anderen ins Wort fällt. Und wer und zu Lasten wessen dazu besonders neigt. Wenn mir als Laien und Schlichtkonsumenten das schon auffällt - es gibt Forschungsdesiderate!

Sehr geehrter Herr Professor Liesching was hat eigentlich die Untersuchung gekostet,und wer hat sie in Auftrag gegeben und wer sie bezahlt?

Sehr geehrter Herr Dr. Peus, es ist eine unabhängige Studie, die von niemandem in Auftrag gegeben worden ist. Über eine kleine Förderung der Otto-Brenner-Stiftung konnten drei wissenschaftliche Hilfskräfte zeitlich befristet bezahlt werden. Wegen der begrenzten Ressourcen konnte nur ein eingeschränktes Untersuchungsspektrum umgesetzt werden.

Sehr geehrter Herr Professor Liesching, danke für die Teilnachricht. Zur Erläuterung: Da uns der herrschende Meinungsstrom zusammen mit Frau Dr. Barley sagt, unser Rechtsstaat und Demokratie samt Journaille und Fernsehen seien vorbildlich, kann man als Schlichtbürger dort nur lernen. So habe ich begonnen, nicht hier bei Ihnen, die gestellten Fragen zu unterbreiten. Denn von wem eine Begutachtung in Auftrag gegeben sei, soll ja laut Hatzpropaganda gegen seriöse Mediziner, die bislang keine Toten durch Autoabgase im Verkehr ermittelt zu haben wagten, zu deren Beurteilung wichtig sein. In den letzten Wochen verschärft sich die Befrgaung im Parlament durch die Fraktion DieLinke, welche Einflussträger auf Gesetzesvorhaben durch Kontakte und Gutachten Einfluss genommen hätten. Manchmal offenbaren sich Gutachter auch selbst, wissenschaftlich und politisch respektabel. So eine Prof Heimbach-Steins in einer sog. "Sozialethischen Expertise" Juni 2017 / Münster u.a., dem Titel nach ein ( das wirkt neutral und faktenrorientiert) "Vergleich" zwischen Positionen der Kath. Kirche und der AfD, in Wahrheit eine Kampfschrift mit Tendenz einer Polithetze, von 4 Kommissariaten von vier mitteldeutschen Bistümern in Auftrag gegeben; vor Bundestagswahl und nunmehr EU-Wahl tingelt diese "Expertin" durch kirchoide Bereiche, um dort das "Denken zu betreuen". Nur der Geldbetrag ist noch nicht beknnt. Anders ja bei der ARD ( 90.000 + 30.000 € für die Indoktrinationskonferenzen zur auch sprachlichen Einnordnung der sogenannten "freien" Journalisten der Häuser ). Ebenso gilt in moderner Debatte ja das Geld als informations- und beurteilungsrelevant. Abgesehen vom Dienstwohnsitzbau in Limburg soll ja auch die politisch-mediale Beurteilung eines selbständig denkenden und sich vorsichtig äußernden Spitzenbeamten wie des Präsidenten des BfV ebenso wie die  einer potentiellen anderweitigen gehobenen Position nicht nur in den Besoldungstabellen ohnehin nachsehbar sein, sondern wurde medial explizit hervorgehoben. Dass ein Potsdamer Institut PIK über 146 MILLIONEN € an Bundessteuermitten bekommen hat, steht in BT-Drucksache zu lesen. Jüngst habe ich an der Bochumer Ruhr-Universität zwei Vortragende für Projekte/Gutachten/Untersuchungen dazu, ob "rechte" Gewalttaten statistisch zutreffend erfasst seien, befragt und dazu erfreulich sofort klare betragliche Antwort erhalten: Für Brandenburg/Potsdam ca. 240.000 €, für Berlin ca. 90.000 €. Dies , um jeweils ca 30 Statistikpositionen zu "prüfen" und auszuwerten. Sehr, und  zwar positiv beeindruckt hat mich eine Aktion der BT-Fraktion Die Grünen vom letzten Jahr: Zu einem politischen Aktionsbereich nun wirklich einmal betriebswirtschaftlich korrekt die Gesamtkosten zu ermitteln mit allen zuordnungsfähigen Positionen, kalkulatorisch zuordnungsfähiger Aufwand nun wirklich jeglicher Art. Dort betraf es die Kosten der sogenannten Bankenrettung. Aber die Methodik war und bleibt vorbildlich und breitflächig anwendbar.  Und wenn laut BVerfG die Entscheidung über Geld vornehmster Kompetenzbereich eines Parlaments ist, was ich auch so sehe, dann hat Kostenaufklärung auch seine (verfassungs-) rechtliche Berechtigung. Wie heißt es noch? "Geld regiert die Welt." Nunmehr näher an Ihrem Unterschungsgegenstand: Die "Anstalten für betreutes Denken" werden ja auch nicht nach liberaler Lust der "Rezipienten" , die als Willy Brandt'sche "Mündige Bürger" frei entscheiden, was sie rezipieren, vor allem aber: was sie dafür bezahlen möchten, finanziert, sondern durch mit normativem Zwang erhobene Beiträge. Die AfD ist übrigens merkwürdig stumm zu diesem Thema der Zwangsfinanzierung wie auch der direkten Demokratie, seit in der Schweiz die Abschaffung des Zwangsbeitrags abgelehnt wurde.

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