Richtigkeit einer juristischen Fachübersetzung: Teil Zwei

von Peter Winslow, veröffentlicht am 09.11.2017

Eine juristische Fachübersetzung ist m. E. in hinreichendem, aber nicht in notwendigem Sinne richtig, wenn sie mindestens zwei von drei Tests standhalten kann, die jeweils zu einer Feststellung in Bezug auf die Richtigkeit der Übersetzung eines juristischen Fachbegriffs führen. Man könnte diese Tests den Einfachheitstest, den Annäherungstest und den Widerspruchstest nennen. … Die Übersetzung eines juristischen Fachbegriffs ist also in hinreichendem Sinne richtig, wenn sie dem Annährungstest und dem Widerspruchstest auf der einen Seite oder dem Einfachheitstest und dem Widerspruchstest auf der anderen standhalten kann.

  Der Einfachheitstest

Mit dem Einfachheitstest (simplicity test) soll festgestellt werden, ob die Übersetzung eines juristischen Fachbegriffs die jeweils einfachste Übersetzung darstellt. Dieser Test ist komplizierter als der Annäherungstest – das Erzielen einer brauchbaren Einfachheit ist selten einfach – und wird daher in einem zukünftigen Blogbeitrag behandelt.

  Der Annäherungstest

Mit dem Annäherungstest (approximation test) soll festgestellt werden, ob zwei Rechtssysteme bedeutend ähnliche – nicht identische – Fachbegriffe aufweisen. Das Vorliegen dieser Begriffe kann man sich so denken: Sie bieten eine stichhaltige Annäherung ohne Anspruch auf gesetzliche oder rechtliche Äquivalenz.

Wenn man beispielsweise den juristischen Fachbegriff Insolvenz ins US-Englische übersetzen möchte, so ist dieser Begriff mit bankruptcy zu übersetzen, weil die Insolvenz nach deutschem Recht eine bedeutend ähnliche – aber nicht identische – Struktur mit bankruptcy nach amerikanischem Recht teilt. … Nach deutschem Recht ist die Insolvenz ein Verfahren, das dazu dient, »die Gläubiger eines Schuldners gemeinschaftlich zu befriedigen, indem das Vermögen des Schuldners verwertet und der Erlös verteilt oder in einem Insolvenzplan eine abweichende Regelung insbesondere zum Erhalt des Unternehmens getroffen wird« (siehe § 1 InsO). Nach amerikanischem Recht dient bankruptcy auch dazu. Bankruptcy ist: »a statutory procedure by which a […] debtor obtains financial relief and undergoes a judicially supervised reorganization or liquidation of the debtor’s assets for the benefit of the creditors« (siehe Black’s). Die Annäherung ist also stichhaltig, soweit kein Anspruch auf gesetzliche oder rechtliche Äquivalenz erhoben wird und soweit sie dem Widerspruchstest standhält.

  Der Widerspruchstest

Mit dem Widerspruchstest (inconsistency test) soll festgestellt werden, ob eine Übersetzung eines juristischen Fachbegriffs zu einem Widerspruch bei der Übersetzung eines anderen Fachbegriffs führt. Im ersten Schritt identifiziert man die Widerspruchskandidaten. Im nächsten unterzieht man den jeweiligen Kandidaten dem Annäherungstest. In unserem Beispiel gibt es, soweit mir bekannt ist, nur einen Widerspruchskandidaten: den Begriff insolvency.

Aus dem Annäherungstest geht hervor, dass der Begriff insolvency und der Begriff Zahlungsunfähigkeit eine stichhaltige Annäherung aufweisen. Nach deutschem Recht liegt die Zahlungsunfähigkeit vor, »wenn der Schuldner nicht mehr in der Lage ist, seine fälligen Zahlungsverpflichtungen zu erfüllen« (siehe Creifelds). Nach amerikanischem Recht ist insolvency »[t]he condition of being unable to pay debts as they fall due« (siehe Black’s). Da bei Übersetzungen ins US-Englische insolvency die Übersetzung von Zahlungsunfähigkeit ist, besteht kein Widerspruch im Hinblick auf die Übersetzung des Begriffs Insolvenz mit bankruptcy. Und da bei Übersetzungen ins US-Englische bankruptcy die Übersetzung von Insolvenz ist, besteht auch kein Widerspruch im Hinblick auf die Übersetzung des Begriffs Zahlungsunfähigkeit mit insolvency. … Ein Widerspruch wird für alle vier Fachbegriffe ausgeschlossen.

  Eine Art Fazit

Weil diese Tests theoretisch für jede Sprachkombination gelten (sollten), ist wichtig, dass sie unter stetiger Berücksichtigung sowohl der Sprachen als auch der Rechtssysteme durchgeführt werden. … Oben handelt es sich um Übersetzungen ins US-Englische. Man wird möglicherweise zu anderen Ergebnissen kommen, sobald es sich um ein anderes Englisch (z. B. UK-Englisch) und somit ein anderes Rechtssystem (z. B. England und Wales) handelt – gleiche Tests, andere Verhältnisse und somit andere Ergebnisse.

  Mögliche Einwände

Zum Schluss sollten zwei mögliche Einwände kurz angesprochen werden. Der erste lässt sich leicht überwinden, der zweite nicht.

Erstens: Man könnte einwenden, dass in der vom Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz online zur Verfügung gestellten Übersetzung der Insolvenzordnung der Begriff Insolvenz mit insolvency übersetzt wird. Und dieser Einwand ist zunächst richtig. Diese Übersetzung findet sich tatsächlich dort. … Die Übersetzung ist jedoch weder offiziell noch verbindlich. Sie stellt lediglich eine nicht amtliche Übersetzung dar, die laut eigenen Angaben dieses Bundesministeriums »solely as a convenience to the non-German-reading public« bestimmt ist. … Aber sie ist nicht einmal das.

Im Gegenteil: Sie ist mit höchster Vorsicht zu genießen. In dieser Übersetzung wird nicht zwischen Insolvenz und Zahlungsunfähigkeit unterschieden. Beide Begriffe werden mit insolvency übersetzt, sodass manche Tautologie – unabhängig vom Englischen (z. B. UK-Englisch, US-Englisch etc.) – entsteht, deren Feststellung keiner Hilfeleistung, weder einer gesetzlichen noch einer übersetzerischen, bedarf. … Ein Beispiel lässt sich § 17 Abs. 1 der Insolvency Statute entnehmen. Dort lautet die Übersetzung: »Insolvency shall be the general reason to open insolvency proceedings«.

Zweitens: Man könnte auch einwenden, dass die EU den Begriff Insolvenz mit insolvency übersetzt (Verordnung (EU) 2015/848 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Mai 2015). Dieser Einwand ist wichtig und eine Antwort muss leider zunächst einem zukünftigen Blogbeitrag vorbehalten bleiben.

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14 Kommentare

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Man muss eben immer darauf achten, für welches Publikum der Text gedacht ist. Das richtige Wort für die eine Rechtsordnung muss in einer anderen nicht auch richtig sein, selbst wenn sie die gleiche Sprache verwenden. Selbst innerhalb der USA, wo die Rechtsordnungen der einzelnen Staaten überwiegend stärker voneinander divergieren, als es hierzulande bei unseren Bundesländern der Fall ist, können sich von Staat zu Staat überraschend große Unterschiede in der Bedeutung juristischer Begriffe ergeben.

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Hallo Gast,

da sind wir, glaube ich, einer Meinung. Vielleicht hätte ich auch die beabsichtigte Zielgruppe der Übersetzung stärker betonen sollen. In der Sache haben Sie ja Recht.

Hallo, Herr Winslow,

ein sehr interessanter Artikel, insbesondere der Abschnitt "Mögliche Einwände"!

Täusche ich mich, oder hat der Status des Englischen als Weltsprache zur Folge, dass sich in den an sich nicht englischsprachigen Weltregionen nach und nach ein eigenes "Englisch" herausbildet, das von dem Englisch der Muttersprachler mitunter abweicht? Die von Ihnen angeführte EU-Verordnung scheint mir auf ein derartiges Phänomen hinzudeuten, da hier, wie Sie zeigen, dem englischen Begriff "insolvency" nicht die authentische Bedeutung "Zahlungsunfähigkeit", sondern eben die Bedeutung "Insolvenz" im Sinne von "bankrott" unterlegt wird.

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Hallo Herr Ringhof,

in der Tat gibt es dieses Phänomen. Ich – als Muttersprachler – finde es ab und an frustriend, ab und an sehr interessant. Das »internationale« Englisch, wie es sich zu nennen pflegt, ist m.E. dadurch gekennzeichnet, dass Wortbedeutungen von Region zu Region (manchmal sehr stark) von einander unterscheiden.

Auch wenn EU-Englisch und EU-Deutsch in manchen Fällen vom Englischen in England/Ireland/den USA, etc. und Deutschen in Deutschland/Österreich/Lichtenstein, etc. abweicht, stellt weder EU-Englisch noch EU-Deutsch ein besonderes Problem dar, da Literatur dazu vorliegt und eine Rechtspraxis auf deren Grundlage besteht. Dahingegen ist das regelmäßig bei »herkömmlichen« Rechtsgeschäften nicht der Fall.

Ich habe schon bei vielen Streitverfahren als Übersetzer mitgewirkt, denen englischsprachige Dokumente zugrundeliegen, die niemand wirklich versteht. Einfache Wörter wie »accrue« schienen Bedeutungen annehmen zu wollen, die für alle Beteiligten unwahrscheinlich wirkten. Ich habe auch bei einem Streitverfahren mitgewirkt, das aufgrund der unterschiedlichen »Englische« zustande gekommen ist; die Streitenden haben Jahre lang aneinander vorbei geredet. Mein Lieblingsbeispiel an dieser Front ist aber: Bei einem Streitverfahren konnten sich die Streitenden aufgrund des Englischen nicht einmal auf die Bezeichnung eines Dokuments auf Deutsch einigen, dessen Form und Wirkung eine Art Gleichheit in beiden Sprachen genießt.

Beste Grüße
Peter Winslow 

Vielen Dank für die ausführliche Antwort, Herr Winslow. Das ist wirklich sehr interessant!

Viele Grüße

Sven Ringhof

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Herr Winslow, übersetzen Sie auch in Strafprozessen, denn da treten auch oft Probleme auf, wenn z.B. Urdu oder Pashtu gedolmetscht werden soll?

Da wird dann auch immer nach einer allgemeinen Vereidigung und nach der Ausbildung, oder der Qualifikation gefragt, und unter der Zuhörern, die Deutsch und Urdu / Pashtu selber sprechen, wird oft sehr heftig diskutiert, ob der Dolmetscher alle Fragen und die Antworten auch immer korrekt gedolmetscht hat. Lange Zeit zum Überlegen und Ausformulieren hat da ein Dolmetscher nicht und im Strafprozeß geht es oft um sehr viel bei den Zeugenaussagen.

Ich habe, soweit mir bekannt ist, noch nie bei einem Strafprozess mitgewirkt. Auch dolmetsche ich nicht; ich bin nur als Übersetzer allgemein beeidigt und öffentlich bestellt.

Was Sie beschreiben, kommt mir aber auch für eine Übersetzungstätigkeit im zivilrechtlichen Bereich irgendwie typisch vor. Es wird sehr häufig heftig diskutiert, ob diese oder jene Übersetzung zutreffend ist, etc. Aber ich will das Schicksal einzeler Menschen nicht vor das Schicksal juristischer Personen (Konzernen, etc.) stellen.

Wenn es beim Englischen also schon solche Mißverständnisse bei einzelnen Begriffen gibt, wie oben angesprochen, dann läßt das noch viel größere Mißverständnisse bei Begriffen und Sprachen oder Dialekten außerhalb unseres Kulturkreises vermuten.

(Korrektur: .... unter den Zuhörern ..... )

Das ist, so scheint's mir, eine empirische Frage, über die ich nicht spekulieren werde. Denn ich habe weder Erfahrungswerte noch Tatsachen in diesem Bereich.

"Insolvenz" bezeichnet in der deutschen Rechtsterminologie  -  anders als im deutschen Alltagssprachgebrauch  -  kein Verfahren (das heißt "Insolvenzverfahren"), sondern eine Vermögenslage des Schuldners.

Überdies müsste eine Übersetzung, die es nun wirklich genau nimmt, berücksichtigen, dass "Insolvenz" in der deutschen Rechtsterminologie die Überschuldung juristischer Personen einschließt. DAS ist schwierig zu übersetzen, da die meisten anderen Rechtsordnungen in der Überschuldung schon gar keinen Auslösetatbestand für ein "Insolvenzverfahren" sehen.

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Hallo St. Ivo,

vielen Dank für Ihren Kommentar.

Ich fürchte, ich verstehe nicht genau, was Sie meinen. Aber vielleicht verstehe ich Sie nur falsch. Ich versuche, die einzelnen Punkte kurz zu kommentieren:

(1) Entgegen Ihrer Behauptung werden meinem Verständnis nach die Begriffe »insolvent« und »Insolvenz« im deutschen Alltagsgebrauch häufig als Bezeichnung für die Zahlungsunfähigkeit verwendet; dies wäre aber streng genommen ein »Fehler« in der deutschen Rechtssprache. Da spricht man von »zahlungsunfähig« und »Zahlungsunfähigkeit«.

(2) Könnten Sie bitte etwas ausführlicher schreiben, was Sie mit »Vermögenslage des Schuldners« meinen? Inwieweit unterscheidet sich die von Ihnen angesprochene Vermögenslage von einer Zahlungsunfähigkeit?

(3) Ich habe nie behauptet, dass eine Übersetzung »wirklich genau« zu nehmen ist. Ich habe behauptet, dass bei Vorliegen zweier Begriffe, die bedeutend ähnlich sind, die Übersetzung eine stichhaltige Annäherung darstellen sollte, und zwar ohne Anspruch auf gesetzliche oder rechtliche Äquivalenz. Ich glaube, dies ist ein wichtiger Punkt.

(4) Was Sie »Insolvenz« nennen, scheint die Zahlungsunfähigkeit oder die Überschuldung zu sein. Könnten Sie bitte einen Nachweis für Ihre Behauptung anführen, dass der Begriff »Insolvenz« die Überschuldung juristischer Personen einschließt? Das ist zweifellos bei mancher Insolvenz der Fall, aber auch bei allen? und notwendigerweise? Ist es nicht so, dass Insolvenz beantragt werden kann (so spricht man ja), auch wenn die Zahlungsunfähigkeit bzw. die Überschuldung nicht vorliegt, sondern nur droht? Und wäre hier der Antrag kein Antrag auf Eröffnung eines Insolvenzverfahrens? Ich meine, man beantragt nicht die Eröffnung einer Vermögenslage oder einer Überschuldung, oder? Man beantragt die Eröffnung eines Insolvenzverfahrens, weil eine bestimmte Vermögenslage eingetreten ist oder einzutreten droht: nämlich die Zahlungsunfähigkeit oder die Überschuldung -- nicht weil die Insolvenz eingetreten ist. Oder?

(5) Ihre Behauptung, dass »die meisten anderen Rechtsordnungen in der Überschuldung schon gar keinen Auslösetatbestand für ein Insolvenzverfahren sehen«, kann ich nicht beurteilen. Ich kenne mich bei den meisten anderen Rechtsordnungen nicht aus.

Mit besten Grüßen

Peter Winslow

Der “juristische Fachübersetzer” sollte sich aber, wenn er schon kein Jurist ist, wenigstens für die rechtlichen Verhältnisse in den Ländern der Ausgangs- bzw. Zielsprache interessieren.

Dazu sollte dann auch gehören, sich über die sehr unterschiedlichen Konzepte von “insolvency” in den verschiedenen englischsprachigen Rechtsordnungen zu informieren (also actual insolvency bzw. cashflow insolvency für Zahlungsunfähigkeit, technical insolvency bzw. balance sheet insolvency und overindebtedness für Überschuldung), und ebenso über die Unterscheidung von "formeller Insolvenz" (Eröffnung eines Insolvenzverfahrens) und "materieller Insolvenz" (Zustand der Zahlungsunfähigkeit oder [bei juristischen Personen] Überschuldung, ohne dass schon ein Insolvenzverfahren eröffnet worden sein muss) in Deutschland.

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