Fiktion oder unwiderlegliche Vermutung?

von Prof. Dr. Christian Rolfs, veröffentlicht am 14.02.2018
Rechtsgebiete: Bürgerliches RechtArbeitsrecht1|13708 Aufrufe

Gelegentlich geben aktuelle BAG-Urteile Anlass zu ganz grundlegenden methodischen Hinweisen. Heute: Fiktion und (unwiderlegliche) Vermutung. Eine Vermutung ordnet der Gesetzgeber dort an, wo er die Beweislastverteilung (jede Partei hat das Vorliegen der ihr günstigen Tatsachen darzulegen und im Streitfall zu beweisen) verändern möchte. Die vermutete Tatsache braucht dann von der an sich beweisbelasteten Partei nicht mehr dargelegt und im Streitfall bewiesen zu werden, sondern es ist am Gegner, sie zu widerlegen (§ 292 Satz 1 ZPO). Nur bei einer unwiderleglichen Vermutung ist der Gegenbeweis ausgeschlossen. Immerhin aber kann auch hier die vermutete Tatsache objektiv richtig sein, nur kommt es darauf nicht an. Dagegen zeichnet sich eine Fiktion dadurch aus, dass vom Gesetz eine Tatsache unterstellt wird, die der Wahrheit unter keinen Umständen entspricht. Schulbeispiel ist § 1923 Abs. 2 BGB: "Wer zur Zeit des Erbfalls noch nicht lebte, aber bereits gezeugt war, gilt als vor dem Erbfall geboren."

Wenig überzeugend ist daher ein jüngst veröffentlichtes Urteil des Zweiten Senats des BAG, das sich mit der Anwendung des KSchG auf Organmitglieder einer juristischen Person befasst. Nach § 14 Abs. 1 Nr. 1 KSchG besteht allgemeiner Kündigungsschutz in Betrieben einer juristischen Person nicht für die Mitglieder des Organs, die zur gesetzlichen Vertretung der juristischen Person berufen sind (also zB für Geschäftsführer einer GmbH). Das BAG hält dies für eine "negative Fiktion". Mit seiner Begründung widerlegt es sich aber selbst:

Die negative Fiktion des § 14 Abs. 1 Nr. 1 KSchG kommt auch und gerade dann zum Tragen, wenn das der Organstellung zugrunde liegende schuldrechtliche Anstellungsverhältnis materiell-rechtlich als Arbeitsverhältnis zu qualifizieren wäre (BAG 25. Oktober 2007 - 6 AZR 1045/06 - Rn. 22; 17. Januar 2002 - 2 AZR 719/00 - zu II 1 a der Gründe, BAGE 100, 182). Es kann daher offenbleiben, ob es sich bei dem der Organstellung des Klägers zugrunde liegenden Vertragsverhältnis in der Sache um ein Arbeitsverhältnis handelte.

Der Zweite Senat erkennt also sehr wohl an, dass ein Organmitglied auch materiell-rechtlich kein Arbeitnehmer (sondern selbständig Dienstleistender) sein kann, dass es darauf aber kündigungsschutzrechtlich nicht ankommt - dann aber ist § 14 Abs. 1 Nr. 1 KSchG keine "negative Fiktion", sondern eine unwiderlegliche Vermutung.

BAG, Urt. vom 21.9.2017 - 2 AZR 865/16, BeckRS 2017, 140661

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1 Kommentar

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...dann aber ist § 14 Abs. 1 Nr. 1 KSchG keine "negative Fiktion", sondern eine unwiderlegliche Vermutung

Warum geht man hier überhaupt derart verzwickte Wege? Warum spricht man nicht einfach von einer Geltungsbeschränkung oder von einem Anwendbarkeitsausschluss? Warum so kompliziert, wenn es einfach geht? Ich wundere mich...

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