Wörtliche Übersetzungen: schlechte Formulierungen, unnötige Schöpfungen

von Peter Winslow, veröffentlicht am 08.03.2019

Bei ehrlicher Betrachtung sind wörtliche Übersetzungen selten gut. Sie stellen häufig schlechte Formulierungen dar und sorgen nur für Verwirrung. Als Beispiel schaue man sich Section 198 der englischen Übersetzung des BGB an. Dieser Paragraph lautet wie folgt:

If a thing in respect of which a real claim exists comes into the possession of a third party by succession in title, the part of the limitation period that passed while possession was held by his predecessor in title is deemed to benefit the successor in title.

Diese Übersetzung ist aus zwei Gründen verwirrend. Erstens: Die Leser und Leserinnen könnten sich zwar bewusst sein, dass es sich bei der wörtlichen Übersetzung »thing« um einen in § 90 BGB definierten Begriff (also: Sache) handelt, Entsprechendes könnte aber nicht für den Begriff »real claim« gelten. So könnte man vielleicht mit der dummen Formulierung »a thing in respect of which« leben. Aber was könnte ein »real claim« sein? Kennt deutsches Recht »unreal claims«? Wenn ja, wie sollte man sie verfolgen? Was wird hier unterschieden? Zweitens: Der Wortlaut »part of the limitation period« erweckt den Anschein, als könnte die Verjährung aufgeteilt oder zerteilt werden (broken up or down) und als könnten diese Teile – vielleicht deswegen? – sterben: In dieser Übersetzung a part passed.

Dass sich angesichts dieser Übersetzung polemische Fragen und Formulierungen ohne Weiteres ergeben und anbieten, zeigt, dass wörtliche Übersetzungen schlechte Formulierungen – und zwar unabhängig davon, mit welchem Ernst sie verfolgt werden – darstellen, die mindestens zwei Risiken bergen können. Im besten Fall führen schlecht formulierte Übersetzungen zu gedanklichen Abschweifungen (siehe oben). Im schlechtesten Fall verkörpern schlecht formulierte Übersetzungen metaphysische oder ontologische Absurditäten, die man weder will noch braucht (siehe oben). In beiden Fällen zwingt eine schlechte Formulierung die Leser und Leserinnen, den Text aus den unproduktivsten Gründen mindestens noch einmal lesen zu müssen.

Man wird nämlich nicht zur nochmaligen Lektüre gezwungen, weil zu überprüfen ist, ob der Text aufgrund seines anspruchsvollen Gegenstands richtig verstanden wurde. Dies wäre unter durchaus denkbaren Umständen ein lobenswerter Grund, so zu schreiben und zu übersetzen, dass weitere Lektüren erforderlich sind (man denke nur an Ludwig Wittgenstein, Karl Kraus oder Stanley Cavell). Vielmehr wird man zur nochmaligen Lektüre gezwungen, um den Unglauben (sprich: disbelief) zu beseitigen. Bei der zweiten oder dritten Lektüre muss man dann einsehen, dass der Text nicht falsch gelesen wurde – dass das Problem nicht bei einem selbst, sondern am Text liegt. Das Ergebnis: Frust und Fehlen eines verständlichen Texts, und zwar zugleich wegen und trotz der Übersetzung.… It’s the kind of ridiculous thing that might make a postmodernist proud.

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15 Kommentare

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Diese Übersetzung ist aus zwei Gründen verwirrend.

Haben Sie eine bessere Übersetzung zu bieten? Wer sich mit dem Recht und der Terminologie nicht auskennt, für den ist jede Übersetzung eines deutschen Gesetzes "verwirrend". Das ist nichts neues. Das deutsche Recht ist eben durch Begriffe geprägt, die man samt Background kennen sollte, andernfalls es immer "verwirrend" ist...

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Was soll ich da sagen? Vielleicht kann man nur den alten Spruch wiederholen: »Schein hat mehr Buchstaben als Sein«.

Die Problematik hat nichts mit der Auswegslosigkeit zu tun, nichts mit Paradoxen, nichts mit der Minnenlyrik etc. Schlechte Übersetzungen stellen in aller Regel keine »unauflösbare theoretische Problemstellung« dar; sie bedürfen keiner Untersuchung, deren Ergebnis »mit sich widersprechenden Schlussfolgerungen« sind – mindestens in diesem Fall. Und eine schlechte Übersetzung zu kritisieren, ist auch in diesem Fall keine Kunst, »unlösbare oder schwer zu lösende Probleme zu durchdenken oder zu erörtern«. Die Problemstelllung besteht darin, dass die Übersetzung in klarer Weise nicht verständlich ist und unfreiwilligen Humor aufweist. Warum sollte es sich dabei um »einen klassischen Fall« einer unauflösbare theoretischen Problemstellung oder dergleichen handeln? Dieser Text könnte ja verständlich übersetzt werden – und ohne unfreiwilligen Humor. Das heißt, das Problem ist weder unlösbar noch schwer zu lösen. Da braucht man auch nicht viel zu durchdenken oder zu erörtern.

Die Kritik an der Übersetzung halte ich für berechtigt, zumal ich selbst mehrere Anläufe gebraucht habe, um die Übersetzung auch nur halbwegs zu verstehen. Allerdings wäre es interessant und lehrreich gewesen zu erfahren, wie eine Übersetzung des Gesetzestextes auszusehen hätte, die den Anforderungen und Erwartungen des geschätzen Bloggers in vollem Umfang entspricht. 

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Sollte ich jemals die eigene Faulheit überwinden, würde ich das Projekt endlich mal abschließen, das auch eine eigene Übersetzung dieses Paragrafen enthält. Ich weiß, die Antwort ist nicht befriedigend. In der Zwischenzeit könnte man vor allem hier, hier bzw. hier lesen. Da habe ich bereits einige Anforderungen und Erwartungen halbwegs verständlich erläutert.

Ich denke, in vielen Fällen kann man der Problematik begegnen, indem man durch eine zusätzliche Erläuterung verdeutlich, worum es geht. Also z. B. „a real claim (dinglicher Anspruch) exists“ und eine kurze Fußnote dazu, was nach deutschem Recht unter einem „dinglichen Anspruch“ verstanden wird. Dies wird teilweise ja auch so gehandhabt. Sicher sind solche Erläuterungen kein Allheilmittel, denn die mitunter komplexen Zusammenhänge des deutschen Rechts lassen sich mit Erläuterungen – sollen sie nicht ausufernd werden – nicht stets vollumfänglich erfassen. Aber eine solche Erläuterung wäre ein Anfang und könnte –  hermeneutisch gesprochen – dazu beitragen, beim Leser ein Vorverständnis für die übersetzte Rechtsnorm zu schaffen. Zum „vollen“ Verständnis (oder sagen wir besser: zum „guten“, denn wann hat man etwas jemals voll verstanden…) einer Rechtsnorm wird der Rechtsanwender sowieso darauf angewiesen sein, sein (Vor-)Verständnis durch zusätzliche Lektüre (Lehrbücher etc.) zu erweitern.

Sie schreiben "Aber was könnte ein »real claim« sein? Kennt deutsches Recht »unreal claims«? Wenn ja, wie sollte man sie verfolgen?"

Offensichtlich ist Ihnen unbekannt, dass der im 19. Jahrhundert von Bernhard Windscheid geprägte Begriff des "dinglichen Anspruchs" für englische Juristen von Anfang an mit "real claim" übersetzt wurde (cf. Munroe Smith, Political Science Quarterly, vol. XII, no. 1 [1897], p. 52 et seq.; Buckland & McNair, Roman Law and Common Law, 2nd ed. [1952], p. 89). Als Nichtjurist müssen Sie das auch nicht wissen. Aber Sie sollten hier vielleicht etwas kleinere Brötchen backen.

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Als Jurist – Sie sind Jurist, oder? – müssen Sie vielleicht nicht erkannt haben, dass Munroe Smith ein rhetorisches Mittel eingesetzt hat und die Wörter real claim in sogen. "scare quotes" gesetzt – also real claim stets so "real claim" geschrieben (siehe 52f) – hat. Englische Muttersprachler & Muttersprachlerinnen erkennen sofort, dass Munroe damit zum Ausdruck bringt, die Übersetzung sei kein übliches Englisch bzw. müsse etwas anders verstanden werden, da eine wörtliche Lektüre zum Unsinn führen könnte und wird.* Dazu ist es auch gekommen. Den Beweis hat man oben.

Tatsächlich ist mir unbekannt, wie man 1892 deutsche Rechtstexte in die englische Sprache übersetzt hat. Das hat, glaube ich, weniger damit zu tun, dass ich Nichtjurist bin. Außer Ihnen hat mir noch kein anderer Mensch ernsthaft vorgeschlagen, man solle zwecks der jurisitschen Fachübersetzung für das 21. Jahrhundert wieder zum Jahr 1892, also zum 19. Jahrhundert, zurückkehren. Ich weiß auch nicht, wie man den Vorschlag zu beurteilen hat. Angesichts Ihres Missverständnisses bezüglich der "scare quotes" ist weder eine Interpretation im Sinne einer historischen Auslegung noch eine Interpretation im Sinne einer grammatikalischen Auslegung gemeint. … Jedenfalls: Um vermutlich der »scare quote«-Problematik zu umgehen, wurde der lateinsiche Begriff irgendwann mal zwischen 1892 und 2019 eingeenglischt; auch Munroe Smith ist augenscheinlich der Ansicht, im englischsprachigen Raum verstehe der Fachkundige den lateinischen Begriff. Er schreibt »the "real claim" (actio in rem)«. Auch ich, dem Sie gerne Fachwissen aberkennen möchten und der im späten 20. und frühen 21. Jahrhundert studiert hat, kenne den lateinischen Begriff (true story). Heutzutage übersetzt man standardmäßig den deutschen Begriff »dinglich« mit »in rem«: ein dinglicher Anspruch = a claim in rem or an in rem claim (es scheint eine Meinungsverschiedenheit zu geben, ob »in rem« vor oder nach dem Nomen steht; man sieht beides).

Ja, es besteht sogar eine stichhaltige Annäherung (vergleiche hier und hier): Bei dem deutschen Begriff »dinglich« und dem eingeenglischten Begriff »in rem« handelt es sich – um es sehr grob zu formulieren – jeweils um die sich auf Gegenstände beziehenden Rechte. Für den eingeenglischten Begriff, siehe unter anderem Black's und und vergleiche unter anderem hier.

That said: hier mal meine Übersetzung des BGB-Paragraphen:

If, through legal succession, a corporeal thing, regarding which a claim in rem subsists, enters into the possession of a third party, then the time which the limitation period has run during the legal predecessor's possession of such thing benefits the legal successor.

Diese Übersetzung ist wohl nicht die einzig denkbare, aber sie ist entgegen dem obigen Text aus der "english-language rendition" des BGB – ich lasse diese "rendition" nicht als Übersetzung gelten – nicht nur verständlich. Ihr fehlt auch jeder Hauch unsinniger Metaphysik und unfreiwilligen Humors.

Endnote

* Da Sie Munroe Smith demonstrativ missverstanden haben, gehe ich von der Annahme aus, dass Sie auch Buckland & McNair missverstanden haben. Das Buch von ihnen habe ich nicht gerade parat und kann dies daher noch nicht prüfen. Das mache ich aber noch.

Ich habe das Buch von Buckland & McNair in den Händen. Wie bereits vermutet, haben Sie auch Buckland & McNair missverstanden. Bei der von Ihnen angeführten Seite (S. 89) handelt es sich zwar um das Thema dingliche Ansprüche, es ist jedoch keine Rede von »real claim« als Übersetzung dieses Begriffs. Im Gegenteil: Buckland & McNair übersetzen den deutschen Begriff »dinglicher Anspruch« mit »claim in rem« (siehe Fußnote 2 dort).

Es geht mir darum, dass „real“ für den anglo-amerikanischen Juristen nicht das Gegenteil von „unreal“ ist (wie Sie behauptet haben), sondern ein etabliertes Synonym für „in rem“ und damit eine sowohl geeignete als auch übliche Übersetzung von „dinglich“ (nebenbei auch auf der von mir zitierten und einem Dutzend weiteren Seiten bei Buckland & McNair, in der Variante „real action“).

Wenn Sie mögen, können Sie ja mal ein paar von den 20.000 Nachweisen nachlesen, die Google allein für das Begriffspaar "real action" vs. "in rem action/claim" offeriert: https://www.google.com/search?newwindow=1&client=firefox-b-d&ei=Fy2mXOCvJcPTwAL874OwCA&q=%22real+action%22+%22in+rem%22

Gegen die Übersetzung von "dinglich" mit „in rem“ hätte ich natürlich ebenfalls nichts einzuwenden; das wäre aber weder "richtiger" noch "verständlicher“ als "real".

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Anonyme Iche werden gebeten, mich und andere mit ihrer Meinung nicht zu belästigen und weder das Wort »richtig« noch das Wort »verständlich« zu verwenden, solange diese Iche die Anzahl der Google-Treffer mit der Anzahl der Nachweise verwechseln.

OK, ich räume ein: ein Google-Experte bin ich nicht, womöglich ist die Anzahl der Google-Treffer nicht identisch mit der Anzahl der Nachweise. Wenn Sie im Gegenzug einräumen, mit Ihrer anmaßenden Kritik an Übersetzer-Kollegen übers Ziel hinaus geschossen zu sein, werden wir vielleicht doch noch einig.

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