Schulrecht / Sozialrecht: Schulbegleiterin einer Asperger-Schülerin zur Schule zuzulassen

von Sibylle Schwarz, veröffentlicht am 22.01.2020
Rechtsgebiete: Bildungsrecht|3092 Aufrufe

In einem am 21. Januar veröffentlichten Beschluss der 4. Kammer des Verwaltungsgerichts Göttingen hat eine Schule, eine am Asperger Syndrom erkrankte Schülerin mitsamt ihrer Schulbegleitung aufzunehmen (Verwaltungsgericht Göttingen, Beschluss vom 09. Januar 2020 - 4 B 196/19 -). Presseinformation

 

Die Eltern einer Schülerin hatten für sie die Schulform „Integrierte Gesamtschule“ gewählt. Bei der Schülerin wurde Asperger-Syndrom (F.84.5 nach ICD-10) diagnostiziert. Sie beantragte daher, an der IGS D-Stadt beschult zu werden und auch noch ihre gewährte Schulbegleiterin in die IGS mitnehmen zu dürfen.

Die Notwendigkeit einer Schulbegleitung wurde durch den Landkreis B-Stadt als Träger der Jugendhilfe mit Bescheid vom 10.7.2019, befristet bis zum 15.7.2020, festgestellt. Der Jugendhilfeträger hat seine Verantwortung im Falle der Schülerin dahingehend wahrgenommen, dass er mit Bescheid vom 10.7.2019 verbindlich die Gewährung von Jugendhilfe in Form der ambulanten Eingliederungshilfe – Schulbegleitung – für das Schuljahr 2019/2020 durch den Leistungserbringer Selbsthilfe Körperbehinderter B-Stadt e. V. geregelt hat.

 

Exkurs

„Nach § 35a Abs. 1 SGB VIII haben Kinder oder Jugendliche einen Anspruch auf Eingliederungshilfe, wenn erstens ihre seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für ihr Lebensalter typischen Zustand abweicht, und zweitens daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist oder eine solche Beeinträchtigung zu erwarten ist. Von einer seelischen Behinderung bedroht im Sinne dieses Buches sind Kinder oder Jugendliche, bei denen eine Beeinträchtigung ihrer Teilhabe am Leben in der Gesellschaft nach fachlicher Erkenntnis mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist. …

… Der Senat hat bereits entschieden (Urteil vom 19. Januar 2017 - 3 KO 656/16 -), dass die Voraussetzungen dieser Anspruchsgrundlage auf der ersten Stufe eine Prüfung der medizinischen Tatsachen zu erfolgen hat, weil zunächst die Abweichung der Gesundheit vom alterstypischen Zustand für einen längeren Zeitraum festzustellen ist. …

… Nicht jede seelische Störung als solche führt zu einem Eingliederungsanspruch (BVerwG, Urteil vom 28. September 1995 - BVerwG 5 C 21.93 - Buchholz 436.0 § 39 Nr. 16 S. 11 = NVwZ-RR 1996, 446). Vielmehr sieht das Gesetz in § 35a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB VIII einen weiteren Prüfungsschritt vor, also die Feststellung, dass infolge der seelischer Störungen die Fähigkeit zur Eingliederung in die Gesellschaft beeinträchtigt ist - § 35a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 1. Alternative SGB VIII - oder der Eintritt einer solchen Teilhabebeeinträchtigung droht - § 35a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 2. Alternative SGB VIII. Die beeinträchtigte Fähigkeit zur Teilhabe muss zudem durch das Abweichen der seelischen Gesundheit bedingt sein (Kausalität). § 35a Satz 2 SGB VIII stellt zudem klar, dass für die Prüfung der 2. Alternative („drohende Beeinträchtigung“) eine hohe Wahrscheinlichkeit erforderlich ist. Das setzt nach der Rechtsprechung des Senats (Beschluss vom 10. Juni 2009 - 3 EO 136/09 -) einen Wahrscheinlichkeitsgrad jedenfalls von mehr als 50 % voraus (mwN). …“

Thüringer Oberverwaltungsgericht, Beschluss vom 22. Mai 2018 – 3 EO 192/18 –

[Hervorhebungen durch Bloggerin]

 

Die jugendhilferechtlichen Ansprüche der Schülerin sind aufgrund des Bescheides des Landkreises B-Stadt geklärt. Im einstweiligen Rechtsschutzverfahren vor dem Verwaltungsgericht Göttingen (4 B 196/19) strebt die schulpflichtige Antragstellerin lediglich an, mit der ihr gewährten Schulbegleitung die Schule der Antragsgegnerin besuchen zu dürfen.

Der Schulleiter trägt grundsätzlich die Gesamtverantwortung für die Schule und wäre aufgrund Hausrechts befugt, bestimmten Personen den Zutritt zur Schule zu verweigern.

Das Verwaltungsgericht Göttingen hat am 9. Januar 2020 beschlossen: „Die Schulleitung hat dabei aber den Bildungsauftrag der Schule, die Interessen der Schüler und Schülerinnen und deren Eltern sowie die gesetzlichen Normen und Wertentscheidungen zu beachten. Hierzu gehört es, der Antragstellerin den Besuch der Schule mit einer Schulbegleitung [als Leistung der Eingliederungshilfe] zu ermöglichen, wenn diese erforderlich ist, um den Anspruch der Antragstellerin auf Bildung (§ 54 Abs. 1 NSchG) zu verwirklichen.“

Folglich entschieden: „Die Antragsgegnerin wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, die Antragstellerin vorläufig unter Zulassung der Schulbegleiterin G. an der Integrierten Gesamtschule (IGS) D-Stadt zu beschulen.“

 

 

Ein anderes Verwaltungsgericht, das Verwaltungsgericht Gießen hat sich die ergänzende Vorschrift

§ 54 SGB XII Leistungen der Eingliederungshilfe

(1) Leistungen der Eingliederungshilfe sind neben den Leistungen nach § 140 und neben den Leistungen nach den §§ 26 und 55 des Neunten Buches in der am 31. Dezember 2017 geltenden Fassung insbesondere

1.     Hilfen zu einer angemessenen Schulbildung, insbesondere im Rahmen der allgemeinen Schulpflicht und zum Besuch weiterführender Schulen einschließlich der Vorbereitung hierzu; die Bestimmungen über die Ermöglichung der Schulbildung im Rahmen der allgemeinen Schulpflicht bleiben unberührt,

2.     Hilfe zur schulischen Ausbildung für einen angemessenen Beruf einschließlich des Besuchs einer Hochschule,

...

hinsichtlich des Kriteriums angemessene Schulbildung genauer angesehen. Leistungen der Eingliederungshilfe zu einer angemessenen Schulbildung seien den Gießener Richtern zufolge nicht zu gewähren, wenn es sich um eine freiwillige Nachmittagsbetreuung in der Grundschule handele. Denn auch ohne Inanspruchnahme der Nachmittagsbetreuung könne die mit der allgemeinen Schulpflicht üblicherweise erreichbare Bildung erlangt werden.

 

Verwaltungsgericht Gießen, Urteil vom 14. August 2017 – 7 K 5588/15.GI –:

„… Hilfe zu einer angemessenen Schulbildung kann damit durch Bereitstellung eines Schulbegleiters gemäß § 35a Abs. 1, Abs. 2 Nr. 1, Abs. 3 SGB VIII i.V.m. § 54 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB XII erbracht werden.

… Im Anschluss an die Entscheidung des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs vom 15. Dezember 2015 (10 B 1850/15) ist die Nachmittagsbetreuung in der Grundschule, die der Kläger besuchte, nicht erforderlich, damit der Kläger die mit der allgemeinen Schulpflicht üblicherweise erreichbare Bildung erlangen kann. … Kann die gesamte streitige Nachmittagsbetreuung freiwillig wahrgenommen werden, ist im Grundsatz davon auszugehen, dass das für den Schulbesuch maßgebliche Bildungsziel ohne weiteres auch ohne Inanspruchnahme der Nachmittagsbetreuung erreicht werden kann. …

Die streitige Schulbegleitung während der Nachmittagsbetreuung der Grundschule müsste nämlich in entsprechender Anwendung des § 12 EHVO erforderlich sein, um den Schulbesuch des betroffenen Schülers im Rahmen der allgemeinen Schulpflicht zu ermöglichen oder zumindest wesentlich zu erleichtern. … Entscheidend sind gleichwohl die Freiwilligkeit des Angebots und die Möglichkeit, das Lernziel allein durch den Besuch des Unterrichts zu erreichen. …“

 

 

„Schmankerl“ zu guter Letzt

„Zur Abgrenzung und ergänzend weist das Gericht darauf hin, dass die in einem Eilverfahren ergangene Entscheidung des Sozialgerichts Gießen vom 02.09.2015 (Az. S 18 SO 131/15 ER, ZFSH/SGB 2015, 690) in Bezug auf die Auslegung der Norm nicht bindend für die vorliegende Entscheidung ist. Dass die Regelungen von Lebenssachverhalten trotz ähnlicher Ausgangslagen vom Gesetzgeber unterschiedlichen Gerichtsbarkeiten zur Entscheidung zugewiesen werden, muss hingenommen werden. Aufgrund der unterschiedlichen Regelungskreise lassen sich die konkret genannten Normen zwar durchaus vergleichen, doch können sie unterschiedliche Auswirkungen haben.“

Verwaltungsgericht Gießen, Urteil vom 14. August 2017 – 7 K 5588/15.GI –

 

Diesen Beitrag per E-Mail weiterempfehlenDruckversion

Hinweise zur bestehenden Moderationspraxis
Kommentar schreiben

Kommentare als Feed abonnieren

Kommentar hinzufügen