Lesen im Park und andere Freiheiten

von Dr. iur. Fiete Kalscheuer, veröffentlicht am 29.03.2020
Rechtsgebiete: Öffentliches RechtCorona6|5652 Aufrufe

"Um heutzutage berühmt zu werden, dachte ich, reicht es schon, wenn man bloß auf einem Postkasten sitzt." - Der im Jahre 2011 viel zu früh verstorbene Journalist und Schriftsteller Marc Fischer schrieb vor einigen Jahren diesen Satz in einer Geschichte, in der es um einen jungen Mann geht, der sich spontan dazu entschließt, auf einen Postkasten zu klettern und zu schauen, was passiert. Die Geschichte endet damit, dass der "Postkastenmann" Unruhe bei den Passanten auslöst und schließlich von der Polizei dazu aufgefordert wird, vom Postkasten zu steigen.

Der Marc Fischer-Satz ließe sich derzeit abwandeln: "Um heutzutage berühmt zu werden, dachte ich, reicht es schon, wenn man bloß lesend auf einer Parkbank sitzt." - Zumindest handelt es sich hierbei nach Auffassung der Polizei Berlin bereits um ein rechtswidriges Verhalten. Auf ihrem Twitterkanal führt die Polizei Berlin wie folgt aus:

Grundsätzlich gilt laut der Verordnung zur Eindämmung des #Coronavirus in #Berlin: Man soll zuhause bleiben & nur aus triftigem Grund die eigenen 4 Wände verlassen. Picknicken im Park, das Lesen eines Buches im Freien u.a. gehören nicht dazu.

Spätestens seit der "Reiten im Walde"-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahre 1989 (1 BvR 921/85) ist indes geklärt, dass Art. 2 I GG die gesamte allgemeine Handlungsfreiheit schützt. Die gegenteilige Banalisierungslehre von Dieter Grimm, nach der (vermeintlich) banale Handlung keinen verfassungsrechtlichen Schutz genießen, sowie die Personlichkeitskerntheorie von Hans Peters, wonach der Schutz des Art. 2 I GG auf die Entfaltung des Kerns der Persönlichkeit beschränkt sei, haben sich mit guten Gründen nicht durchgesetzt: Die Frage, welche Handlungen banal und unbedeutend sind oder hingegen den eigenen Persönlichkeitskern ausdrücken, muss jede Person für sich selbst beantworten. Es ist nicht Aufgabe des Staates, dies für seine Bevölkerung zu entscheiden. Auch vermeintlich banale Handlungen - wie das Reiten im Walden oder das Taubenfüttern - fallen damit in den Schutzbereich des Art. 2 I GG; eine Einschränkung dieser Handlungen bedürfen einer verfassungsrechtlichen Rechtfertigung.

Die Entscheidung, im Freien ein Buch lesen zu wollen, stellt damit jedenfalls einen verfassungsrechtlich bedeutsamen Grund dar. Ob es sich dabei um einen "triftigen" Grund im Sinne der Verordnung zur Eindämmung des Coronavirus in Berlin handelt, ist eine Frage, die auf einer anderen Ebene zu diskutieren ist, - auf der Ebene der verfassungsrechtlichen Rechtfertigung. Dass der Zweck der Eindämmung des Coronavirus in Berlin legitim ist, lässt sich nicht bestreiten. Zweifelhaft sind jedoch bereits die Geeignetheit und Erforderlichkeit der Maßnahme: Fördert das Verbot, ein Buch (allein) im Freien zu lesen, den Zweck der Eindämmung des Coronavirus? Wenn ja, gibt es mildere Maßnahmen bei (in etwa) gleicher Wirksamkeit?

 

 

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6 Kommentare

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Wie in Berlin, wird es auch in Bayern von der Polizei gehandhabt, wobei die Polizei allerdings nicht ganz sicher zu sein scheint, ob das so in Ordnung ist und "zurückhaltend" agiert, vgl. hier.

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Man kann sich darum Gedanken machen. Man kann das Buch auch einfach zuhause lesen.

Natürlich besteht keine besonders große Infektionsgefahr, wenn ein einzelner promovierter Jurist für sich still im Park ein Buch liest. Denn dieser hypothetische Jurist ist vorsichtig, nähert sich Anderen nicht und desinfiziert vor und nach Benutzung der Parkbank Hände und Parkbank.

Genau so ist es kein Problem, die Verteilung und Verwendung von Kraftfahrzeugen, Waffen und Drogen von gesetzlichen Einschränkungen zu befreien. Denn der vernünftige Anwender begeht damit ja keinen Unfug.

In einer Gesellschaft der Vernünftigen, Rationalen, still für sich hin lebenden Individuen ohne Kontakt zueinander bräuchten wir vielleicht sogar überhaupt keine Gesetze.

Aber leider ist all das nur Fantasie. Realität ist, dass jede(r) von uns mit mit 80 Millionen verrückten, irrationalen, unvorsichtigen, unbedachten und uninformierten Mitmenschen in einer Republik lebt. Ohne Regeln funktioniert das Zusammenleben in einer so großen Gruppe nicht. Und erstens aus Gründen der Gerechtigkeit, zweitens aus Gründen der Praktikablität stellen wir diese Regeln für alle gleich auf.

Daher muss leider auch der o. g. hypothetische Jurist hinnehmen, dass er sich an eine Regel zu halten hat, die für den gemacht wurde, der trotz akuter Corona-Symptome noch in der Gegend herumläuft, seine Schnottenfahnen auf der Parkbank ablegt und alle vorbeigehenden Passant(inn)en vollhustet.

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Vieles ist meines Erachtens in dieser Debatte übertrieben. Eine prophylaktische Desinfektion halber Großstädte - oder gar einer Parkbank nach Benutzung ist nach derzeitigem Stand in Deutschland nicht erfoderlich. Ich hielte es auch für einen Verstoß gegen den Grundsatz der Verhältnismäßgkeit, wenn der Staat seine Maßnahmen am Maßsstab des ganz besonders unvernünftugen Bürgers ausrichtet, denn - auch da Widerspruch - viele (frelich nicht alle) agieren auch vernünftig.

"Vernünftig" ist für mich ohnehin die Maßgabe dieser Krise: vernünftig die sinnvollen Maßnahmen des Staates unterstützen und befolgen und die unvernünftigen, d. h. unverhältnismäßigen wie das Verbot des Sitzens auf einer Parkbank argumentativ oder mit dem verwaltungs- und verfassungsrechtlichem Instrumentarium angreifen. Das ist unsere Augfabe als Juristen in dieser Krise.

So bewahren wir Rechtsstaat und (!) Gesundheit, denn es wäre schon schön, wenn wir nicht nur ohne viele Tote,sondern auch ohne allzu große "Kollateralschäden" für die Demokratie durch diese Krise kämen. 

Ich setze hier eher auf die Einschätzung der Legislative und Exekutive. Sie haben leider nicht dargestellt (z. B. anhand virologischer Studien), warum Sie die Maßnahmen unverhältnismäßig finden.

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Begründung liefere ich gerne nach: Verbot des Sitzens auf Parkbank, Verweilen im Freien etc. ist unverhältnismäßig da aus virologischer Sicht nicht erforderlich. Sämtliche Experten sagen absoluter Hauptübertragungsweg von Sars-Cov-2 ist Tröpfcheninfektion. Habe noch nie eine Bank husten sehen (für Hügel und Wiesen dürfte ähnliches gelten...). Also solange man das Zeug nicht ableckt nachdem Sekunden zuvor ein anderer direkt draufgehustet hat, dürfte man auf der sicheren Seite sein....

Nicht umsonst hat die bayerische Staatsrgierung ihr anfängliches Verbot - entgegen dem Wortlaut! - ja inzwischen stark relativiert!, siehe https://www.stmi.bayern.de/med/pressemitteilungen/pressearchiv/2020/115/...
 

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