BGH zum Tod nach Überdosis Morphin im Altenpflegeheim – Fall 1

von Dr. Jörn Patzak, veröffentlicht am 03.12.2020

Der BGH hat sich in einer aktuellen Entscheidung und einer Entscheidung von Januar 2019 jeweils mit der Frage befasst, wie der Tod eines Patienten im Altenpflegeheim nach einer Überdosis Morphin strafrechtlich zu bewerten ist. 

Zum Sachverhalt im aktuellen Fall: Der 63-jährige spätere Geschädigte wohnte in einem Altenpflegeheim. Er litt an Lungenkrebs im unheilbaren Endstadium. Sein Gesundheitszustand verschlechterte sich zunehmend, er litt an starken Schmerzen, aß kaum mehr, konnte kaum noch schlucken und war nur durch leichte Kopfbewegungen und mittels einfacher Worte in der Lage zu kommunizieren. 

Aufgrund seiner Schmerzen hatte sein Arzt u.a. maximal alle 4 Stunden 5 mg Morphin subkutan verordnet. Betreut wurde er von dem Angeklagten, einem examinierten Pflegepfleger. Dieser verabreichte dem über starke Schmerzen klagenden Tatopfer in der Tatnacht um 22.30 Uhr zunächst – wie verordnet – 5 mg Morphin, womit das Tatopfer auch einverstanden war. Gegen 6.00 Uhr entschied sich der Angeklagte dem weiterhin unter Schmerzen leidenden Geschädigten eine weitere Spritze mit Morphin zu geben. Weil ihm der Geschädigte leid tat und weil er eine Kollegin beeindrucken wollte, verabreichte der Angeklagte 10 mg Morphin, diesmal allerdings ohne zu fragen, ob das Tatopfer dies wolle. In der Pflegedokumentation und im Betäubungsmittelbuch gab der Angeklagte wahrheitswidrig an, dem Geschädigten 5 mg Morphin verabreicht zu haben.

Gegen 9.30 Uhr verstarb das Tatopfer, die Morphininjektion war hierfür jedoch nicht todesursächlich.

Das Urteil des Landgerichts: Das Landgericht verurteilte den Angeklagten wegen vorsätzlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von zehn Monaten mit Strafaussetzung zur Bewährung. Durch die Injektion des Morphins sei jedenfalls ein pathologischer Zustand herbeigeführt und gesteigert worden. Eine Rechtfertigung liege nicht vor. Die Verabreichung entspreche weder der ärztlichen Anordnung noch habe der Geschädigte in die Körperverletzung eingewilligt. Auch sei nicht von einer mutmaßlichen Einwilligung auszugehen.

Die Entscheidung des BGH: Der 2. Strafsenat des BGH hob das Urteil auf und wies die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurück. Die Verneinung einer Rechtfertigung der Handlung des Angeklagten sei durchgreifend rechtsfehlerhaft, wie sich aus folgender Begründung ergibt (BGH Beschl. v. 26.5.2020 – 2 StR 434/19 = BeckRS 2020, 30642):

„Das Landgericht hat fehlerhaft die Prüfung einer mutmaßlichen Einwilligung unterlassen, weil es aus der bewussten Umgehung bzw. eigenmächtigen Erweiterung einer ärztlichen Verordnung durch den Angeklagten als Nichtarzt eine generelle Unmöglichkeit der Rechtfertigung der Körperverletzung durch (mutmaßliche) Einwilligung abgeleitet hat.

aa) Nach den Urteilsfeststellungen ist eine Einwilligung in die konkrete Handlung des Angeklagten nicht erklärt worden. Ob von einer mutmaßlichen Einwilligung, die in Betracht kommt, wenn eine ausdrückliche Einwilligung aufgrund vorübergehender Einwilligungsunfähigkeit nicht oder nicht rechtzeitig eingeholt werden kann, auszugehen ist, wäre jedoch durch Gesamtschau aller Umstände zu prüfen gewesen (vgl. auch Senat, Urteil vom 30. Januar 2019 - 2 StR 325/17, BGHSt 64, 69, 78).

(1) Die Grundsätze der Rechtfertigung von Maßnahmen zur Ermöglichung eines schmerzfreien Todes sind nicht ausnahmslos auf Handlungen durch einen Arzt oder aufgrund ärztlicher Anordnung beschränkt (Senat, Urteil vom 30. Januar 2019 - 2 StR 325/17, BGHSt 64, 69, 78; Urteil vom 25. Juni 2010 - 2 StR 454/09, BGHSt 55, 191, 205 f.; Rissingvan Saan, ZIS 2011, 544, 550).

Im Ausnahmefall kann auch ein Nichtarzt medizinische Maßnahmen zur Leidensminderung durchführen, wenn sie der Sache nach den Regeln der ärztlichen Kunst entsprechen und sich im Rahmen einer mutmaßlichen Einwilligung des Patienten bewegen. Dies gilt auch deshalb, weil das Unterlassen einer vom Patienten erwünschten Schmerzbekämpfung durch einen Garanten eine Körperverletzung sein kann (Senat, Urteil vom 30. Januar 2019 - 2 StR 325/17, BGHSt 64, 69, 78 mwN; Urteil vom 30. September 1955 - 2 StR 206/55, BeckRS 1955, 31192233).

(2) Beim Sterben eines unheilbar Kranken, dem unmittelbar vor dem Tod nur noch durch Schmerzbekämpfung geholfen werden kann, besteht eine besondere Ausnahmesituation (vgl. auch Senat, Urteil vom 30. Januar 2019 - 2 StR 325/17, BGHSt 64, 69, 79 mwN). Tritt deshalb der Gesichtspunkt des Handelns aufgrund einer ärztlichen Verordnung in den Hintergrund, schließt die Eigenschaft des Handelnden als Nichtarzt oder sein Handeln unter Abweichung von einer ärztlichen Anordnung die Rechtfertigung einer Körperverletzung durch mutmaßliche Einwilligung nicht zwingend aus, wie es das Landgericht jedoch rechtsfehlerhaft vorausgesetzt hat.“

bb) Die Strafkammer hätte daher eine Gesamtwürdigung aller Umstände vornehmen müssen, die für den mutmaßlichen Patientenwillen von Bedeutung sein können. Dabei wäre zu berücksichtigen gewesen, dass im Hinblick auf das Selbstbestimmungsrecht des Patienten der Inhalt seines Willens aus seinen persönlichen Umständen, individuellen Interessen, Wünschen, Bedürfnissen und Wertvorstellungen zu ermitteln ist (Senat, Beschluss vom 25. März 1988 - 2 StR 93/88, BGHSt 35, 246, 249 f.; BGH, Urteil vom 13. September 1994 - 1 StR 357/94, BGHSt 40, 257, 263). Hinweise dafür können etwa Gespräche des Geschädigten mit seinem Betreuer „über eine mögliche Patientenverfügung, die er jedoch nicht (bzw. nicht mehr) unterzeichnete“, liefern. Weitere Indizien können sich aus dem Verhalten des Patienten in dem Pflegeheim ergeben. Welche Äußerungen M. dort gemacht hat, insbesondere gegenüber dem Angeklagten, mit dem er sich nach seiner Aufnahme in das Pflegeheim sofort „verstanden“ habe, teilt das angefochtene Urteil nicht mit.

Die Beachtung ärztlicher Anordnungen gehört zwar im Regelfall ebenfalls zu dem, was als gemeinhin vernünftig anzusehen ist. Jedoch kann beim eigentlichen Sterbevorgang unmittelbar vor dem Tod auch die Schmerzbekämpfung mit allen verfügbaren und den Regeln der ärztlichen Kunst entsprechenden Mitteln als vernünftig und deshalb dem mutmaßlichen Patientenwillen entsprechend anzusehen sein (Senat, Urteil vom 30. Januar 2019 - 2 StR 325/17, BGHSt 64, 69, 80 mwN). Das gilt insbesondere dann, wenn - wie hier festgestellt - die ärztlich verordnete Schmerzmedikation an der Untergrenze des medizinisch Angemessenen gelegen hat. Bei der Gesamtwürdigung ist überdies in den Blick zu nehmen, wie nahe der Patient dem Tode war (BGH, Urteil vom 13. September 1994 - 1 StR 357/94, BGHSt 40, 257, 263). An einer Gesamtwürdigung aller wesentlichen Umstände fehlt es jedoch im angefochtenen Urteil. …“

Der BGH weist darauf hin, dass sich der neue Tatrichter gegebenenfalls näher mit der Frage der Tatbestandsverwirklichung des § 223 Abs. 1 StGB und des § 29 Abs. 1 Nr. 6 Buchst. b) BtMG zu befassen haben wird. 

Insoweit weist er auf das Senatsurteil vom 30. Januar 2019 (2 StR 325/17, BGHSt 64, 69 ff.) hin, das in den Blick zu nehmen sei. Diese Entscheidung stelle ich in meinem nächsten Blog-Beitrag vor…

 

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1 Kommentar

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Gutes und mutiges Urteil. Der Angeklagte mag seine innerbetrieblichen Kompetenzen verstoßen haben, aber das ist unabhängig von der strafrechtlichen Frage.

Darüber hinaus erscheint mir durchaus fraglich, ob die Gabe von Morphium bei einem Sterbenden ohne - soweit mitgeteilt - schädliche Wirkungen überhaupt einen "pathologischen Zustand verursacht oder steigert". Der Erinnerung nach muss der Zustand negativ vom Normalzustand abweichen, um als Gesundheitsschaden zu gelten. Freiheit von Schmerz ist jedenfalls bei einem Sterbenden wohl keine negative Abweichung.

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