AG St. Ingbert: So gehen wir hinsichtlich Leivtec XV3 mit dem BVerfG-Grundsatz der Informationsparität um

von Carsten Krumm, veröffentlicht am 26.01.2021
Rechtsgebiete: Verkehrsrecht2|1818 Aufrufe

Die Informationsparität, zu der das BVerfG BeckRS 2020, 34958 = DAR 2021, 17 = NZV 2021, 41 vor einigen Wochen  entschieden hat, treibt die Rechtsprechung natürlich um und wird die Gerichte sicher noch die nächsten Monate beschäftigen. Es wird sicher auf Dauer herauszuarbeiten sein, was an Informationen für die Überprüfung der einzelnen Messverfahren tatsächlich für eine Informationsparität nötig ist. Die Gefahr für Gerichte und Verwaltungsbehörden scheinen ausufernde Anträge. Ganz so problematisch ist das nicht. Das BVerfG legt nämlich auch wert auf frühzeitige Anträge und hat auch nicht den Begriff des standardisierten Messverfahrens oder die eingeschränkte Amtermittlungspflicht beanstandet. Eigentlich bedeutet dies für die Praxis: "Raus mit allen vorhandenen Informationen. Möglichst wenig eigene Beweiswürdigung vorab nach dem Motto >Die Information nutzt doch eigentlich nix<. Und: Das Verfahren muss durch die Informationserteilung bzw. nach der Informationserteilung auch gar nicht angehalten werden, um etwa langwierige Sachverständigenprüfungen zu ermöglichen." 

Jetzt jedenfalls hat das AG St. Ingbert eine Entscheidung mit zahlreichen "amtlichen Leitsätzen" dazu veröffentlicht:

 

1. Nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 12. November 2020 - 2 BvR 1616/18 - folgt aus dem Grundsatz des Rechts auf ein faires Verfahren in der Ausprägung des Gedankens der „Waffengleichheit“, dass einem Betroffenen im Bußgeldverfahren wegen des Vorwurfs einer Geschwindigkeitsüberschreitung auf sein Verlangen hin durch die Verwaltungsbehörde Informationen/Daten zu einem Messverfahren zugänglich zu machen sind, über die sie selbst verfügt, auch wenn sich diese Daten nicht in der Verfahrensakte befinden. Hiermit wird dem Umstand Rechnung getragen, dass nach der Rechtsprechungspraxis zum standardisierten Messverfahren, an welcher das BVerfG ausdrücklich festhält, bei massenhaft vorkommenden Verkehrsordnungswidrigkeiten nicht jedes einzelne Amtsgericht bei jedem einzelnen Bußgeldverfahren anlasslos die technische Richtigkeit einer Messung jeweils neu überprüfen muss.

 2. Dies bedeutet, wie in den Gründen dieser Entscheidung dargelegt, allerdings nicht, dass das Recht auf Zugang zu solchen Informationen unbegrenzt gilt. Gerade im Bereich massenhaft vorkommender Ordnungswidrigkeiten ist eine sachgerechte Eingrenzung des Informationszugangs geboten. Andernfalls bestünde die Gefahr der uferlosen Ausforschung, erheblicher Verfahrensverzögerungen und des Rechtsmissbrauchs. Die begehrten, hinreichend konkret benannten Informationen müssen deshalb zum einen in einem sachlichen und zeitlichen Zusammenhang mit dem jeweiligen Ordnungswidrigkeitenvorwurf stehen und zum anderen erkennbar eine Relevanz für die Verteidigung aufweisen. Behörden und Gerichte haben bei entsprechenden Zugangsgesuchen hiernach im Einzelfall zu entscheiden, ob sich das den Geschwindigkeitsverstoß betreffende Gesuch in Bezug auf die angeforderten Informationen innerhalb dieses Rahmens hält.

 3. Die Möglichkeiten der Geltendmachung der Fehlerhaftigkeit des Messergebnisses unter Berufung auf die erlangten und ausgewerteten Informationen sind hierbei in zeitlicher Hinsicht begrenzt: ein Betroffener kann sich mit den Erkenntnissen aus dem Zugang zu weiteren Informationen nur erfolgreich verteidigen, wenn er diesen rechtzeitig im Bußgeldverfahren begehrt. Dies ist nach Einschätzung des erkennenden Gerichts so auszulegen, dass dies gegenüber der Verwaltungsbehörde - erforderlichenfalls mit einem Antrag auf gerichtliche Entscheidung nach § 62 OWiG - vor Anhängigkeit des Gerichtsverfahrens erfolgen muss, zumal die Gerichte über entsprechende Daten im Regelfall gerade nicht verfügen und eine sog. Waffengleichheit im Verhältnis zum Gericht ausdrücklich nicht in Rede steht, und nicht erst nach Anhängigkeit des Gerichtsverfahrens oder gar in bzw. kurz vor der Hauptverhandlung, wie es in der Praxis häufig vorkommt.

 4. Der Entscheidung des BVerfG ist hingegen nicht zu entnehmen, dass Messungen und Messergebnisse nicht verwertet werden dürfen, wenn nach dem Messvorgang geräteintern (Roh-)Messdaten nicht abgespeichert werden. Im Gegenteil ist aus dem Postulat der „Waffengleichheit“ zwischen Verfolgungsbehörde und Betroffenem zu folgern, dass ein Betroffener nur die Daten herausverlangen kann, die auch bei der Verfolgungsbehörde vorhanden sind und dieser einen Informationsvorteil verschaffen könnten.

 5. Auch ergibt sich aus der Entscheidung unter dem Aspekt, dass eine sachgerechte Eingrenzung des Informationszugangs geboten ist und angeforderte Daten/Informationen eine erkennbare Relevanz für die Verteidigung aufweisen müssen, aus Sicht des erkennenden Gerichts kein Anspruch eines Betroffenen auf Zugang zu den Daten einer gesamten Messreihe. Denn zum einen ergeben sich aus den Daten der gesamten Messreihe nach der - öffentlich zugänglichen - Stellungnahme der Physikalischen technischen Bundesanstalt (PTB) vom 30. März 2020 keine brauchbaren Erkenntnisse für die gegenständliche Messung. Zum anderen wären datenschutzrechtliche Belange anderer Verkehrsteilnehmer, auf die sich solche Daten beziehen, massiv tangiert. Um Letzteres zu verhindern, bedürfte es eines sehr aufwändigen Procederes, die Daten dieser anderen erfassten Verkehrsteilnehmer unkenntlich zu machen.

 6. Ausdrücklich nicht festgelegt hat das BVerfG, welche konkreten Daten/Informationen einen Messvorgang betreffend einem Betroffenen zugänglich zu machen sind.

 7. Ob sog. Rohmessdaten geeignet sind, dem Betroffenen zu ermöglichen, eine Messung im Nachhinein zu überprüfen oder auch nur zu plausibilisieren, und eine „Waffengleichheit“ zwischen Betroffenem und Verwaltungsbehörde herzustellen, erscheint im Hinblick auf betreffende Stellungnahmen der PTB zweifelhaft.

 8. Dennoch war dem Umstand Rechnung zu tragen, dass der Entscheidung des BVerfG eine Fallkonstellation zu Grunde lag, bei der ein Verteidiger u.a. die Herausgabe der Rohmessdaten der gegenständlichen Messung gegenüber Behörde und Gericht - erfolglos - geltend gemacht hatte. Somit kann ein Anspruch des Betroffenen auf Überlassung der Rohmessdaten der gegenständlichen Messung - soweit vorhanden - nicht ausgeschlossen werden. Eine derartige Herausgabe der Daten ist nach den Vorgaben des BVerfG frühzeitig zu beantragen, und zwar nach dem Verständnis des erkennenden Gerichts gegenüber der Verwaltungsbehörde, die über diese Daten verfügt, im Stadium ihrer Zuständigkeit.

 9. Geschwindigkeitsmessungen mit dem Gerät XV3 sind nach der Ergänzung des Herstellers Leivtec und der Ergänzung der PTB zur Gebrauchsanweisung jeweils vom 14. Dezember 2020 als Messungen im standardisierten Messverfahren mit entsprechenden Messergebnissen verwertbar, wenn sich das gesamte Fahrzeugkennzeichen im Messfeldrahmen des Messung-Start-Bilds befindet (bei Messungen von oben wie z.B. Brückenmessungen). Entscheidend ist die Fahrzeugposition auf dem Messfoto dergestalt, dass sich das Kennzeichen innerhalb des Messfeldrahmens befindet. Dies bedeutet nicht, dass das Kennzeichen lesbar/erkennbar sein muss, womit die Nichterkennbarkeit des Kennzeichens auf dem Messung-Start-Foto anlässlich Messungen bei Dunkelheit keinen Einfluss auf die Verwertbarkeit des Messergebisses hat, solange das Kennzeichen im Messfeldrahmen lokalisiert werden kann.

AG St. Ingbert Urt. v. 13.1.2021 – 23 OWi 68 Js 1367/20, BeckRS 2021, 174

Diesen Beitrag per E-Mail weiterempfehlenDruckversion

Hinweise zur bestehenden Moderationspraxis
Kommentar schreiben

2 Kommentare

Kommentare als Feed abonnieren

Zu Leitsatz 9:

in Versuchen wurde eindeutig festgestellt und nachvollziehbar dokumentiert, dass das Messgerät Leite XV3  die in § 6 MessEG festgelegten Fehlergrenzen nicht einhält.

Würden solche Fehlmessungen im Rahmen des  Zulassungsverfahrens auffallen, so könnte das Messgerät keine Zulassung erhalten.

Dennoch sieht die PTB keine Notwendigkeit, die Zulassung zumindest bis zum Abschluss der Überprüfung (die vom 27.10.2020 bis zum heutigen Tag keine Ergebnisse geliefert hat) vorübergehend ruhen zu lassen. Es werden stattdessen einfach die Auswertebedingungen geändert.

Es ist also zunächst einmal unzweifelhaft festzuhalten, dass die in einer ganz normalen Fahrsituation erzeugten Fehlmessungen zeigen, dass eine Zulassung eines Messgeräts keinen Beleg für eine absolute Zuverlässigkeit des Messgeräts darstellt.

Durch die neuen Auswertekriterien werden nicht wie Fehlmessungen selbst unterbunden, die neuen Auswertebedingungen sorgen nur dafür, dass Messungen, die genauso dokumentiert werden wie die Fehlmessung, nicht zu einem Vorwurf führen können. Hinzu kommt, dass die PTB zwar in ihren Dokumenten öffentlich macht, dass sie vom 27.10.2020 bis zum heutigen Tag keine Fehlmessungen reproduzieren konnte, die Änderung der Auswertebedingungen dagegen nicht veröffentlicht.

Dies alles mag ja für Juristen ausreichend sein, einem Techniker dreht sich dabei aber der Magen um.

Mit einem standardisierten Messverfahren hat so etwas schon der Definition nach auf jeden Fall nichts zu tun.

0

zu Leitsatz 9 und Kommentar janeeissklaa !

Ich kann dem Kommentar von janeeissklaa nur beipfilchten. Aber die Richter sind nicht immer technisch versiert. An irgendeiner Arbeitsgrundlage müssen sie sich orientieren.

Obwohl die Ingenieure nach meiner Meinung perfekte und leicht verständliche Arbeit abgeliefert haben. 

https://www.iqvmt.de/LeivtecXV3_baz.html

Aber noch viel schlimmer finde ich, dass die Ergänzung zur Gebrauchsanweisung von vielen Bußgeldstellen bis dato einfach ignoriert wird. Diese werten nach der alten Gebrauchsanweisung aus. (Messung Ende Bild kein weiteres Fahrzeug -> auswertbar). Ich bin selbst betroffen und obwohl ich die Ergänzung und das dazugehörige Schreiben der PTB der Bußgeldstelle zugesandt habe, wird das Verfahren weiterhin betrieben. 

0

Kommentar hinzufügen