Jugendschutzreform vor erneuter Notifizierung

von Prof. Dr. Marc Liesching, veröffentlicht am 01.03.2021
Rechtsgebiete: MedienrechtJugendschutzrecht|2328 Aufrufe

Nach den Beratungen in den Ausschüssen soll es einige substanzielle Änderungen des Entwurfes der Bundesregierung eines „Zweiten Gesetzes zur Änderung des Jugendschutzgesetzes“ (BT-Drs. 19/2490) geben. Hierdurch wird zwar voraussichtlich eine Pflicht zur erneuten Notifizierung nach RL 2015/1535 begründet. Diese ist aber zeitlich in dieser Legislaturperiode noch zu schaffen.

1. Voraussichtliche Änderungen

a) Spezifikation und Erweiterung des § 10b (Nutzungsrisiken)

Die Änderungsvorschläge nach den Ausschussberatungen umfassen zunächst eine weitere Ausnormierung des künftig extensiven Begriffs der Entwicklungsbeeinträchtigung. Dieser wird auf zahlreiche Nutzungsrisken erstreckt. Zum einen werden die vorher nur in der Begründung genannten Beispielsfälle nun selbst zur Gesetzesnorm (§ 10b Abs. 3 S.2). Zum anderen erfahren sie hinsichtlich des intendierten Anwendungsbereichs eine Erweiterung um „nicht altersgerechter Kaufappelle insbesondere durch werbende Verweise auf andere Medien“. Dies stellt ausweislich der Begründung eines „neue Fallgruppe“ dar.

Diese gesetzliche Erweiterung intendiert eine regulative Abkehr von der bisherigen Praxis der Alterseinstufung von Werbemitteln ausschließlich nach dem eigenen Inhalt. Das Werbezugsobjekt bleibt bei Werbung und Ankündigung bislang bei der Prüfung der Entwicklungsbeeinträchtigung sowohl nach dem JuSchG als auch nach dem JMStV außer Betracht. „Ziel“ der nunmehr eingeführten Fallgruppe ist es demgegenüber „zu verhindern, dass Werbevorspanne wie Trailer für Medien werben, die eine höhere Alterskennzeichnung haben oder erwarten lassen, als der Film oder das Spiel, in dessen Rahmen der Werbetrailer eingebunden ist“.

b) Verschärfung der Inhaltsdeskriptoren (§ 14 Abs. 2a) zur Soll-Regelung  

Entgegen der „Kann“-Regelung des Regierungsentwurfs „soll“ nun die oberste Landesbehörde oder eine Organisation der freiwilligen Selbstkontrolle im Rahmen des Verfahrens nach § 14 Abs. 6 „über die Altersstufen des Absatz 2 hinaus Filme und Spielprogramme mit Symbolen und weiteren Mitteln kennzeichnen, mit denen die wesentlichen Gründe für die Altersfreigabe des Mediums und dessen potenzielle Beeinträchtigung der persönlichen Integrität angegeben werden“.

Diese Regelung betrifft mittelbar auch Kennzeichnungen bei Film- und Spielplattformen nach § 14a Abs. 1 S. 2 Nr. 1, welche bei der Wahl eines Kennzeichnungsverfahrens nach § 14 Abs. 6 JuSchG künftig Inhaltsdeskriptoren anzugeben hätten, bei der Wahl einer Kennzeichnung durch die FSM, einen Jugendschutzbeauftragten oder eines Bewertungsautomaten (§ 14a S. 2 Nrn. 2 und 3) hingegen nicht.

Mit der Änderung von der „Kann“- zur „Soll“-Bestimmung geht auch eine Verschärfung der Regelung einher, da gemäß der Begründung nun die Kennzeichnungen mit Symbolen und weiteren Mitteln „der gesetzlich vorausgesetzte Regelfall“ werden.

c) Weitere vorgesehene Änderungen

Auch im Rahmen der neue Durchwirkungsregelung des § 14 Abs. 6a soll es zu einer „Verschärfung“ – so die Begründung – von einer „Kann“- zu einer „Soll“-Regelung kommen.  Darüber hinaus richtet die neue Bundeszentrale einen „Beirat“ ein, „der sie bei der Erfüllung der Aufgaben nach § 17a Absatz 2 Satz 1 berät“ (§ 17b). Das Verfahren bei den neuen Vorsorgeverfahren (§ 24a) wird ebenfalls geändert: Die Länderstelle „jugendschutz.net“ nimmt hiernach nun „erste Einschätzungen der von den Diensteanbietern getroffenen Vorsorgemaßnahmen vor“. Darüber hinaus erhält die KJM ein Stellungnahme-Recht. Schließlich wird die bisher nur in der Begründung vorgesehene Evaluation der neuen Vorschriften gesetzlich verankert.

2. Erneute Notifizierung des geänderten Entwurfs

a) Vorgaben der Richtlinie (EU) 2015/1535

aa) Nach der RL 2015/1535 über ein Informationsverfahren auf dem Gebiet der technischen Vorschriften und der Vorschriften für die Dienste der Informationsgesellschaft sind die Mitgliedstaaten verpflichtet, der Kommission jeden Entwurf einer technischen Vorschrift zu übermitteln. Entsprechend ist der ursprüngliche Entwurf der Bundesregierung unter Einhaltung der Stillhaltefrist auch ordnungsgemäß notifiziert worden (Notifizierungsnummer: 2020/411/D; Ende der Stillhaltefrist: 01.10.2020)

bb) Sofern EU-Mitgliedstaaten an bereits zum Notifizierungsverfahren mitgeteilten Entwürfen wesentliche Änderungen vornehmen, ergeben sich aus der Richtlinie Verpflichtungen einer abermaligen Mitteilung. Diese sind namentlich in Art. 5 Abs. 1 UA 3 RL 2015/1535 geregelt wie folgt:

„Die Mitgliedstaaten übermitteln den Entwurf der technischen Vorschriften ein weiteres Mal an die Kommission in der im Unterabsatz 1 und 2 des vorliegenden Absatzes genannten Art und Weise, wenn sie an dem Entwurf einer technischen Vorschrift wesentliche Änderungen vornehmen, die den Anwendungsbereich ändern, den ursprünglichen Zeitpunkt für die Anwendung vorverlegen, Spezifikationen oder Vorschriften hinzufügen oder verschärfen“.

Diese Verpflichtung zur erneuten Notifizierung des nationalen Vorschriftenentwurfs besteht dann nicht, wenn es sich lediglich um redaktionelle Änderungen handelt, die keine inhaltlichen Auswirkungen haben (KOM Dok. S-42/98 - DE , endg., S. 39).

Bei wesentlichen Änderungen in einem späteren Entwurf gelten aufgrund der Verweisung in Unterabsatz 3 auf Unterabsatz 1 die Verpflichtungen aus Art. 6 RL 2015/1535. Insbesondere nehmen nach dessen Absatz 1 Mitgliedstaaten den Entwurf einer technischen Vorschrift nicht vor Ablauf von drei Monaten nach Eingang der Mitteilung gemäß Artikel 5 Absatz 1 bei der Kommission an. Die dreimonatige Stillhaltefrist beginnt mit dem Zeitpunkt der erneuten Notifizierung (KOM Dok. S-42/98 - DE , endg., S. 39).

cc) Die Nichteinhaltung der Notifizierungsvorgaben führt nach ständiger Rechtsprechung des EuGH zur Unanwendbarkeit der entsprechenden nationalen technischen Vorschriften, so dass sie Einzelnen nicht entgegengehalten werden können (zuletzt EuGH, Urt. v. 22.10.2020 – C-275/19).

3. Bewertung der Notifizierungspflicht bzgl. Änderungen des 2. JuSchGÄndG-E

Da nach Art. 5 Abs. 1 UA 3 RL 2015/1535 eine erneute Notifizierung auch beim Hinzufügen und Verschärfen von Spezifikationen oder Vorschriften zwingend notwendig wird, ist vorliegend eher von einer unionsrechtlichen Verpflichtung zur erneuten Mitteilung des geänderten Entwurfs des 2. JuSchGÄndG-E an die Kommission auszugehen.

Denn § 10b wird gegenüber dem Regierungsentwurf hinsichtlich des im Jugendschutz maßgeblichen Rechtsbegriffs der Entwicklungsbeeinträchtigung im Rahmen der Nutzungsrisiken um eine Fallgruppe erweitert, welche vormals nicht – auch nicht in der Entwurfsbegründung – genannt worden ist. Diese führen in der Rechtsfolge auch zu einer deutlichen Desavouierung des bislang nach dem JuSchG und dem JMStV einheitlich geregelten Einstufung von Werbemitteln. Die nunmehr erstmals bei Altersfreigaben zu berücksichtigenden „nicht altersgerechten Kaufappelle insbesondere durch werbende Verweise auf andere Medien“ können daher als Änderung des Anwendungsbereichs, jedenfalls aber als Spezifikation i.S.d. Richtlinie angesehen werden.

Auch die Restriktionen bei den Inhaltsdeskriptoren (§ 14 Abs. 2a) von einer „Kann“- zu einer „Soll“-Regelung stellt eine „Verschärfung“ i.S.d. Art. 5 Abs. 1 UA 3 RL 2015/1535 dar. Denn als „Verschärfung“ kann qualifiziert werden, dass die vormals eher unverbindlicheren Inhaltsdeskriptoren nunmehr durch die Änderung zum „gesetzlich vorausgesetzten Regelfall“ werden sollen. Hierdurch ergeben sich erheblich höhere Anforderungen für Film- und Spielanbieter im EU-Raum für die Kennzeichnung ihrer Produkte.

4. Konsequenzen

Die nach den Ausschussberatungen vorgesehenen Änderungen können rechtssicher im Sinne einer Unionsrechtskonformität nur durch eine erneute Notifizierung gemäß Art. 5 Abs. 1 UA 3 RL 2015/1535 umgesetzt werden. Andernfalls besteht das Risiko, dass sich Anbieter gemäß der EuGH-Rechtsprechung auf die Unanwendbarkeit der nationalen Jugendschutzregelungen berufen können.

Für eine unionsrechtskonforme Notifizierung des geänderten Entwurfs ist aber auch noch hinreichend Zeit bis zum Ende der Legislaturperiode. Darüber hinaus hat die Bundesregierung auch stets die Möglichkeit, „in  Zweifelsfällen  oder  bei  Klärungsbedarf (…), die Tragweite möglicher Änderungen an einem nationalen Entwurf auf informellem Wege eingehend mit den Kommissionsdienststellen zu erörtern“ (KOM Dok. S-42/98 - DE , endg., S. 39).

Diesen Beitrag per E-Mail weiterempfehlenDruckversion