Nochmal das KG: Keine Akteneinsicht? => Keine Verletzung rechtlichen Gehörs! => Keine Zulassung der Rechtsbeschwerde

von Carsten Krumm, veröffentlicht am 20.06.2021
Rechtsgebiete: Verkehrsrecht|2416 Aufrufe

Bereits vor zwei Tagen hatte ich diese Enstcheidung des KG hier laufen. Da ging es um das Problem fehlender Urteilsgründe und welche Auswirkungen sie im Verfahren auf Zulassung der Rechtsbeschwerde haben. Heute geht es um einen anderen Standardfall: Die nichterfolgte Akteneinsicht in für die Verteidigung erforderliche Unterlagen, die sich jedoch bislang nicht bei der Akte befinden. Selbst wenn das AG diese der Verteidigung rechtsfehlerhaft nicht zur Verfügung stellt, führt dies nicht zu einer Verletzung rechtlichen Gehörs und somit auch nicht zu einer Zulassung der Rechtsbeschwerde. Denn: Die Akteneinsichtsfrage ist eine Frage des "fairen Verfahrens".

 

 

Der Zulassungsantrag war zu verwerfen, weil kein Zulassungsgrund vorliegt.

 1. Die Betroffene macht eine Verletzung des rechtlichen Gehörs geltend.

 Eine Versagung rechtlichen Gehörs im Sinne des § 80 Abs. 1 Nr. 2 OWiG ist nach den für die Auslegung des Art. 103 Abs. 1 GG maßgebenden Grundsätzen zu bestimmen (vgl. nur Seitz/Bauer in Göhler, OWiG 18. Aufl., § 80 Rn. 16a m.w.N.). Der Anspruch ist insbesondere verletzt, wenn ein Gericht in entscheidungserheblicher Weise Tatsachen und Beweisergebnisse zum Nachteil eines Beteiligten verwertet hat, zu denen dieser nicht gehört worden ist (vgl. Seitz/Bauer a.a.O. m.w.N.; vgl. auch Maul in KK, StPO 8. Aufl., § 33a Rn. 3). Daneben umfasst der Anspruch das Recht, Kenntnis von Anträgen und Rechtsausführungen anderer Verfahrensbeteiligter zu erhalten, sich hierzu äußern und das eigene Prozessverhalten darauf einstellen zu können (vgl. Graalmann-Scheerer in Löwe-Rosenberg, StPO 27. Aufl., § 33a Rn. 3). Außerdem verpflichtet Art. 103 Abs. 1 GG das Gericht, die Ausführungen der Beteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 10. Februar 2020 - 2 BvR 336/19 -, juris m.w.N.).

 Vor diesem Hintergrund kann der Anspruch auf rechtliches Gehör unter anderem dann verletzt sein, wenn dem Betroffenen für eine Äußerung zu verfahrensrelevanten Umständen unzureichende Zeit zur Verfügung stand, wenn das Gericht kurzfristig einen nicht angekündigten Beweis erhoben und verwertet hat, oder wenn ein Beweisantrag nicht beschieden oder unter deutlichem Verstoß gegen § 77 OWiG zurückgewiesen worden ist (vgl. Seitz/Bauer a.a.O. Rn. 16b m.w.N.).

 a) Die Betroffene trägt zur Begründung vor, ihr Verteidiger habe mit an den Polizeipräsidenten gerichteten Schreiben vom 9. Februar 2021 beantragt, ihm zum Zwecke der Überprüfung des Rotlichtverstoßes Einsicht in die gesamte Verfahrensakte zu gewähren, insbesondere in die Rohmessdaten und in die Messreihe. Der Antrag sei zu den Akten nachgereicht worden. In der amtsgerichtlichen Hauptverhandlung vom 3. März 2021 habe der Verteidiger den Antrag wortgleich erneut gestellt. Das Amtsgericht habe den Antrag zurückgewiesen. Zuvor habe der Verteidiger bereits unter dem 18. August 2020 bei dem Polizeipräsidenten Akteneinsicht (insbesondere in Eichschein, Zulassungsbescheinigung der PTB, Fotos, Ausbildungsnachweis, Wartungsprotokolle, Bedienungsanleitung) beantragt. Einige dieser Unterlagen seien ihm zugeleitet worden.

 b) Eine Auslegung des Antragsvorbringens ergibt zunächst, dass der Verteidiger mit seinem in der Hauptverhandlung gestellten Antrag nicht die Einsichtnahme in die bei Gericht vorhandene Verfahrensakte, sondern in darüberhinausgehende, dem Gericht nicht vorliegende Unterlagen begehrte. Die demnach geltend gemachte Verweigerung des Zugangs zu dem Gericht nicht vorliegenden Daten und Unterlagen zum Zwecke der Überprüfung des Ergebnisses der Rotlichtverstoßes stellt jedoch keine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör dar (vgl. Senat, Beschlüsse vom 20. April 2021 - 3 Ws (B) 84/21 - m.w.N. und 2. April 2019 - 3 Ws (B) 97/19 -, juris; Hanseatisches Oberlandesgericht Hamburg, Beschluss vom 2. März 2021 - 2 RB 5/21 -, juris m.w.N.; BayObLG, Beschluss vom 6. April 2020 - 201 ObOWi 291/20 -, juris).

 Zwar ist obergerichtlich geklärt, dass der Verteidiger, soweit dies zur Überprüfung des standardisierten Messverfahrens erforderlich ist, grundsätzlich auch in solche Unterlagen Einsicht nehmen kann, die sich nicht bei den Akten befinden (vgl. insoweit grundlegend die sog. Spurenakten-Entscheidung des BVerfG, Beschluss vom 12. Januar 1983 - 2 BvR 864/81 -, juris; s.a. Senat, Beschlüsse vom 5. November 2020 - 3 Ws (B) 263/20 -, juris, und 2. April 2019 a.a.O. m.w.N.; Thüringer OLG, Beschluss vom 17. März 2021 - 1 OLG 331 Subs 23/20 -, juris). Weiter ist geklärt, dass das Informations- und Einsichtsrecht des Verteidigers daher deutlich weiter gehen kann als die Amtsaufklärung des Gerichts, und dass solch weitreichende Befugnisse dem Verteidiger im Vorfeld der Hauptverhandlung auch und gerade bei standardisierten Messverfahren zustehen (vgl. Senat, Beschlüsse vom 20. April 2021, 5. November 2020 und 2. April 2019, alle a.a.O.).

 Obergerichtlich ist aber auch geklärt, dass diese Informations- und Einsichtsrechte nicht aus dem Anspruch auf rechtliches Gehör nach Art. 103 Abs. 1 GG abzuleiten sind (vgl. Senat, Beschluss vom 27. April 2018 - 3 Ws (B) 133/18 -, juris; Hanseatisches Oberlandesgericht Hamburg, Beschluss vom 2. März 2021 a.a.O.). Der hier einschlägige Grundsatz der „Waffengleichheit“, der dem Betroffenen die Möglichkeit verschafft, sich kritisch mit den durch die Verfolgungsbehörden zusammengetragenen Informationen auseinanderzusetzen, hat seinen Ursprung vielmehr im Recht auf Gewährleistung eines fairen Verfahrens nach Art. 6 EMRK (vgl. BVerfG, Beschluss vom 12. November 2020 - 2 BvR 1616/18 -, juris; Senat, Beschlüsse vom 5. November 2020 a.a.O., 2. April 2019 a.a.O. und 6. August 2018 - 3 Ws (B) 168/18 - juris).

 Soweit eine ausdehnende Auslegung oder analoge Anwendung der Regelung des § 80 Abs. 1 Nr. 2 OWiG befürwortet wird (vgl. dazu Seitz/Bauer a.a.O. § 80 Rn. 16e m.w.N.), teilt der Senat diese Auffassung nicht. Einer erweiternden Auslegung steht bereits der insoweit eindeutige Wortlaut der Vorschrift entgegen. Eine analoge Anwendung der Vorschrift auf andere Rechtsverletzungen ist in Ermangelung einer erkennbaren Regelungslücke nicht eröffnet. Denn der Gesetzgeber hat die Zulassungsgründe in - wie hier - Fällen geringer Bedeutung bewusst auf Fälle der Versagung rechtlichen Gehörs beschränkt. Eine analoge Anwendung auf weitere - auch durch die Verfassung ausgeschlossene - Rechtsverletzungen verbietet sich (vgl. Senat VRS 134, 48; Hadamitzky in KK OWiG, 5. Aufl., § 80 Rn. 40 m.w.N.).

KG Beschl. v. 3.6.2021 – 3 Ws (B) 148/21 - 122 Ss 65/21, BeckRS 2021, 12946 

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