Gastbeitrag von Prof. Dr. Christian Koenig zu Änderungen des Rennwett- und Lotteriegesetzes

von Prof. Dr. Marc Liesching, veröffentlicht am 17.06.2021

Rückstellungspflichten der Betreiber von stationären Spielbanken und gewerblichen Geldspielautomaten nach § 249 Abs. 1 S. 1 HGB wegen drohender EU-beihilfenrechtlicher Rückforderungen von selektiven Steuervorteilen?

Von Univ.-Prof. Dr. iur. Christian Koenig LL.M. (LSE)*

Am 1. Juli 2021 soll das Gesetz zur Änderung des Rennwett- und Lotteriegesetzes („RennwLottÄG“) in Kraft treten. Danach soll bei Online-Casino- und Pokerangeboten eine Besteuerung nach Maßgabe der Bemessungsgrundlage des gesamten Spieleinsatzes erfolgen. § 38 RennwLottÄG legt einen virtuellen Automatensteuersatz von 5,3 % auf die Spieleinsätze fest. Nach § 48 RennwLottÄG beträgt der Online-Pokersteuersatz ebenfalls 5,3 % auf die Spieleinsätze.

Demgegenüber unterliegen terrestrische Spielbanken und Betreiber von stationären gewerblichen Geldspielautomaten in Spielhallen und Gaststätten einer lediglich auf den Bruttospielertrag bezogenen Besteuerung (d.h. der landesgesetzlichen Spielbankabgabe bzw. im Falle gewerblicher Geldspielautomaten der Umsatzsteuer sowie der – in Bayern gar nicht erhobenen – Automaten(vergnügungs)steuer jeweils auf den Einsatz abzüglich der ausgezahlten Gewinne). Im Vergleich zwischen terrestrischen Spielbanken und virtuellen Automaten- sowie Online-Pokerspielen bewirkt eine Besteuerung des Spieleinsatzes in Höhe von 5,3 %, dass die neue Online-Steuer rechnerisch etwa fünf Mal höher ist (ca. 125 % auf den Bruttospielertrag) als die stationäre Spielbankabgabe.

Gegen diese privilegierte Bruttospielertrags-Besteuerung terrestrischer Anbieter im Vergleich zu einer Besteuerung der Spieleinsätze bei entsprechenden Online-Angeboten sind bereits Beschwerden bei der Europäischen Kommission wegen des damit einhergehenden Verstoßes gegen das beihilferechtliche Durchführungsverbot (Art. 108 Abs. 3 Satz 3 AEUV) eingereicht worden. Damit drohen den Betreibern von stationären Spielbanken und gewerblichen Geldspielautomaten EU-beihilferechtliche Rückforderungen von selektiven Steuervorteilen, welche zu Rückstellungspflichten nach § 249 Abs. 1 S. 1 HGB und im schlimmsten Fall zu Insolvenzen führen könnten.

 

1. Wann sind Rückstellungen für drohende (mögliche) Rückforderungen EU-rechtswidriger staatlicher Beihilfen zu bilanzieren? …

Rückstellungen sind für ungewisse Verbindlichkeiten und für drohende Verluste aus schwebenden Geschäften zu bilden“ (§ 249 Abs. 1 S. 1 HGB).

Sollte die Kommission die privilegierte Bruttospielertrags-Besteuerung terrestrischer Anbieter als nach Art. 107 Abs. 1 AEUV beihilfetatbestandliche Abgabenverschonung qualifizieren und als nicht mit dem Binnenmarkt vereinbare Beihilferegelung (Art. 107 Abs. 3 AEUV) verwerfen, ist sie zur Anordnung der Rückforderung der Beihilfe durch Beschluss gegenüber dem Mitgliedstaat verpflichtet, ohne dass sie dabei über ein Ermessen verfügt. Zwingende Folge eines Negativbeschlusses der Kommission wäre innerstaatlich die abgabenordnungsrechtliche Verpflichtung der begünstigten terrestrischen Anbieter zur Nachzahlung der ersparten Steuern aufgrund eines finanzbehördlichen Bescheides. Abhängig von dem Zeitpunkt der Nachzahlungsbescheidung müsste die Rückforderung, einschließlich der Verzinsung der ersparten Steuern, für den gesamten Zeitraum der Begünstigung bis zu einem Zeitraum von zehn Jahren rückwirkend erfolgen.

Der Einwand des Vertrauensschutzes aufgrund in Kraft getretener deutscher Steuergesetze steht den begünstigten terrestrischen Anbietern jedenfalls nicht zur Seite, solange nicht die Beihilferegelung der gesetzlich privilegierten Besteuerung terrestrischer Spielbanken und von Betreibern gewerblicher Geldspielautomaten von der Kommission in dem Verfahren gemäß Art. 108 Abs. 3 Satz 1 und 2 AEUV für mit dem Binnenmarkt nach Art. 107 Abs. 3 lit. c AEUV vereinbar erklärt worden ist. Bis zum Erlass eines – nach meiner Einschätzung kaum zu erwartenden – Vereinbarkeitsbeschlusses der Kommission unterliegt die steuerliche Beihilferegelung dem zwingenden und unmittelbar anwendbaren unionsrechtlichen Durchführungsverbot (Art. 108 Abs. 3 Satz 3 AEUV).

 

2. … jedenfalls nicht erst ab einer Nachzahlungsbescheidung durch die Finanzbehörde, sondern schon ab einem möglichen, rechtlich belastbaren Rückforderungsrisiko …

„Rückstellungen für ungewisse Verbindlichkeiten“ sind nicht etwa erst ab einer Nachzahlungsbescheidung durch die Finanzbehörde, also nicht erst mit der Titulierung des Steuernachzahlungsanspruchs in einem sofort vollziehbaren Bescheid, sondern schon bei einer rechtlich belastbaren, also gut begründbaren Prognose des Überschreitens der nach § 249 Abs. 1 S. 1 HGB maßgeblichen Möglichkeitsschwelle der Entstehung dieser öffentlich-rechtlichen Verbindlichkeit zu bilden.

Maßgeblich ist hierfür die Beachtung des kaufmännischen Vorsichtsprinzips. Eine „Rückstellung für ungewisse Verbindlichkeiten“ ist nach § 249 Abs. 1 S. 1 HGB auch dann geboten, wenn deren Entstehen oder Bestehen bei vernünftiger kaufmännischer Beurteilung nicht ausgeschlossen werden kann. Trotz Ungewissheit der Höhe, des Bestehens oder der Höhe und des Bestehens einer Verbindlichkeit, ist eine Rückstellung bereits dann zu bilden, wenn die Wahrscheinlichkeit des Bestehens in nur abschätzbarer Höhe unter 50 % liegt. Die nach § 249 Abs. 1 S. 1 HGB maßgebliche Möglichkeitsschwelle ist dann überschritten, wenn die Verbindlichkeit von einem hypothetischen, marktüblich handelnden Unternehmenserwerber in den Kaufpreis der Gesellschafts- oder Handelsgeschäftsanteile angemessen eingepreist würde. Dies wird in der bilanzrechtlichen Literatur regelmäßig bereits ab einer Verbindlichkeitseintrittswahrscheinlichkeit von 25 % angenommen. Der Bundesfinanzhof sieht die Schwelle nach § 249 Abs. 1 S. 1 HGB als überschritten an, wenn objektiv nachvollziehbare Gründe für die Wahrscheinlichkeit der Inanspruchnahme aus einer Beurteilung ex ante positiv vorliegen. Jedenfalls geht weder die Rechtsprechung noch die Literatur davon aus, dass Rückstellungen erst dann bilanziert werden müssten, wenn die Inanspruchnahme wahrscheinlicher ist als die Nichtinanspruchnahme.

Zwar hat der Bundesfinanzhof vereinzelt öffentlich-rechtliche Verpflichtungen nur in Fällen als rückstellbar angesehen, in denen lediglich Ungewissheit hinsichtlich ihrer Höhe, nicht jedoch hinsichtlich ihres Bestehens bestand. Indes bezieht sich diese Rechtsprechung nicht auf möglicherweise drohende Rückforderungen EU-rechtswidriger staatlicher Beihilfen. Denn hat der Mitgliedstaat bereits das kategorische beihilferechtliche Durchführungsverbot (Art. 108 Abs. 3 Satz 3 AEUV) vor dem Erlass eines abschließenden Beschlusses der Kommission verletzt, hat er – wie hier der deutsche Steuergesetzgeber – vorgelagert schon eine erste unionsrechtliche Causa für Rückforderungen gesetzt.

Mit Anwendungsvorrang gegenüber dem deutschen Steuerrecht sanktioniert das zwingende und unmittelbar anwendbare unionsrechtliche Verbot der Durchführung von steuerlichen Beihilferegelungen nach Art. 108 Abs. 3 Satz 3 AEUV bereits deren verfrühte Inkraftsetzung. Deshalb ist bis zum Erlass eines Vereinbarkeitsbeschlusses der Kommission von der Rechtswidrigkeit der steuerlichen Beihilfen, mithin auch von der Rückforderung zumindest der Beihilfebeträge auszugehen, die zugunsten der terrestrischen Anbieter bis zum Zeitpunkt eines solchen Positivbeschlusserlasses bereits aufgelaufen sind (Rückforderung sog. „Verfrühungsbeihilfen“).

 

3. … zumindest wenn die Europäische Kommission das förmliche Beihilfeprüfverfahren eröffnet …

Spätestens wäre die Rückstellungsschwelle nach § 249 Abs. 1 S. 1 HGB überschritten, wenn die Kommission aufgrund der kürzlich eingereichten Beschwerden gegen die privilegierte Bruttospielertrags-Besteuerung terrestrischer Anbieter das förmliche Beihilfeprüfverfahren eröffnen sollte. Einen ähnlichen Präzedenzfall hat die Kommission jedenfalls mit ihrem Eröffnungsbeschluss C(2019) 8819 vom 9.12.2019 u.a. wegen staatlicher Garantien für Betreiber öffentlicher Spielbanken in Deutschland bereits gesetzt.

4. … und massive Rückstellungen im schlimmsten Fall zu Insolvenzen führen könnten!

Sollten Rückstellungen für drohende Rückforderungen EU-rechtswidriger steuerlicher Beihilfen nach dem kaufmännischen Vorsichtsprinzip als Passiva zu bilanzieren sein, so könnte in Extremfällen der Insolvenzeröffnungsgrund der Überschuldung nach § 19 Abs. 2 Satz 1 InsO eintreten. Denn dann könnte das Vermögen einzelner Betreiber von stationären Spielbanken und gewerblichen Geldspielautomaten deren Verbindlichkeiten, einschließlich passivierter Rückstellungen, nicht mehr decken.

* Der Autor ist Direktor am Zentrum für Europäische Integrationsforschung (ZEI) der Universität Bonn. Der Beitrag beruht auf einem Rechtsgutachten.

 

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