Wenn einen "Tempo 30" ärgert, hilft vielleicht ein Verwaltungsgericht...

von Carsten Krumm, veröffentlicht am 20.07.2021
Rechtsgebiete: Verkehrsrecht6|5071 Aufrufe

Tempo 30 ist lansgam. Aber nicht schlimm. Der Betroffene fand die Tempo-30-Anordnung aber nicht richtig. Und hatte mit seiner Klage Erfolg bei dem VG Düsseldorf. Weil Art. 2 GG durch die Tempo 30-Anordnung verletzt wird. Da kommen auch nur Jurist*innen drauf: 

 

Die verkehrsrechtliche Anordnung der Beklagten vom 18. Juni 2019 zur Beschränkung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit auf 30 km/h auf der S….straße in N. zwischen der O. Straße und dem Ortsausgang N. durch 16 Zeichen 274 der StVO wird aufgehoben.

 Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.

 Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe von 110% des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110% des jeweils vollstreckbaren Betrages leistet.

 Tatbestand: 

 Die S….straße in N. verläuft von einer Kreuzung mit der O. Straße, an der sie der E. Straße entspringt, bis zu einer Autobahnbrücke der A 00. Vor der Autobahnbrücke befindet sich ein Ortsausgangsschild von „N.“, dahinter ein Ortseingangsschild von „O1. “, hinter dem die Straße zur C….straße wird. Die S….straße ist jeweils in beide Fahrtrichtungen mit einer Fahrspur befahrbar.

 Von der O. Straße kommend gehen von der S….straße die Straßen Von-C1. -Straße, Am L. , T….weg, der auch wieder in die S….straße einmündet, Am L1. , Am G. und Am X….pfad ab, bevor die S….straße den M. Weg kreuzt. Zwischen der - in alle Richtungen beampelten - Kreuzung mit dem M. Weg und der Autobahnbrücke geht von der S….straße der I….weg ab.

 Im ersten Abschnitt der S….straße (O. Straße bis M. Weg) befinden sich im Wesentlichen Wohnbebauung und kleinere Geschäfte/Dienstleistungsunternehmen. Im Bereich der Von-C1. -Straße befindet sich eine Fußgängerampel sowie die Bushaltestelle Von C1. -Straße. Zwischen den Straßen Am G. und Am X….pfad befindet sich eine Biegung. Dahinter liegt in der Fahrtrichtung O. Straße die Bushaltestelle Am X….pfad . Etwa zwischen der Biegung und der Einmündung des Sonnenwegs in die S….straße besteht in dieser Fahrtrichtung zudem die Möglichkeit, auf der Fahrspur der S….straße zu parken. Im zweiten Abschnitt der S….straße (M. Weg bis zur Autobahnbrücke) sind neben der Bushaltestelle Am X….pfad ebenfalls vorrangig Wohnbebauung sowie zum Ende der Straße hin Supermärkte gelegen.

 Mit Beschlussvorlage vom 15. Mai 2019 (XX0/0000/0000), auf deren Inhalt Bezug genommen wird, wurde dem Bau- und Umweltausschuss der Stadt N. vorgeschlagen, für die S….straße zwischen E. Straße und Stadtgrenze ein LKW-Verbot mit Lieferverkehr frei zu beschließen und die Verwaltung damit zu beauftragen, die Beschilderung in Abstimmung mit der Stadt O1. auszuführen. In der Beschlussvorlage wurde - übereinstimmend mit den Angaben in einer im Verwaltungsvorgang befindlichen E-Mail zwischen Mitarbeitern der Stadt N. vom 8. Mai 2019, auf die verwiesen wird - unter anderem ausgeführt, dass im Rahmen von auf der S….straße durchgeführten Geschwindigkeitsmessungen die „85%-Geschwindigkeit“ (V85) in der Höhe der Straße Am L1. im Wohnbereich bei etwa 33 bis 45 km/h und in der Höhe der Autobahnbrücke bei etwa 53 bis 60 km/h gelegen habe. Die S….straße sei kein Unfallschwerpunkt, der eine eventuelle Reduzierung auf 30 km/h rechtfertigen könnte. Auch seien keine besonders sensiblen Einrichtungen, wie zum Beispiel Kindergärten, Altenheime und so weiter an der S….straße .

 In der Sitzung des Bau- und Umweltausschusses am 4. Juni 2019 berichtete ausweislich der Niederschrift, auf deren Inhalt Bezug genommen wird, der Technische Beigeordnete B. nach dem Beschluss über diesen Antrag, dass ein Bürgerantrag vorliege, in dem Tempo 30 auf der S….straße gefordert werde. Ausweislich der Niederschrift wurde diese Forderung von den Ausschussmitgliedern begrüßt, die einen entsprechenden gemeinsamen Antrag formulierten. Sodann beschloss der Bau- und Umweltausschuss in dieser Sitzung einstimmig, auf der S….straße bis zur Stadtgrenze Tempo 30 anzuordnen. Weitere Erwägungen dazu finden sich im Verwaltungsvorgang nicht.

 Unter dem 18. Juni 2019 wurde von der Beklagten entsprechend dem Beschluss des Bau- und Umweltausschusses angeordnet, gemäß dem beiliegenden Plan, auf dessen Inhalt verwiesen wird, die VZ 274-30 der StVO auf der S….straße aufzustellen und die Beschilderung gegebenenfalls vor Ort anzupassen.

 Mit Schreiben vom 21. September 2019 wandte der Kläger sich an die Beklagte und beantragte die Aufhebung der verkehrsrechtlichen Anordnung betreffend die VZ 274 der StVO auf der S….straße zwischen der O. Straße und der Stadtgrenze O1. . Er wohne in N. -C2. und befahre täglich auf dem Weg zu seiner Arbeitsstelle in E1. die S….straße . Vor zwei Monaten habe er feststellen müssen, dass die Höchstgeschwindigkeit dort auf 30 km/h abgesenkt worden sei. Als Rechtsgrundlage kämen ausschließlich § 39 Abs. 1, § 45 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 9 StVO in Betracht, deren Voraussetzungen nicht vorlägen.

 Unter dem 11. November 2019 lehnte die Beklagte den Antrag unter Verweis auf den Beschluss des Bau- und Umweltausschusses vom 4. Juni 2019 ab.

 Der Kläger hat am 18. Dezember 2019 Klage erhoben. Er ist der Ansicht, ein sachlicher Grund für eine Geschwindigkeitsreduzierung auf der gesamten S….straße sei nicht gegeben. Im Übrigen habe der Bau- und Umweltausschuss in seiner Sitzung am 4. Juni 2019 kein Ermessen ausgeübt, sondern ohne jegliche Auseinandersetzung den Bürgerantrag auf Reduzierung der Höchstgeschwindigkeit angenommen.

 Der Kläger beantragt schriftsätzlich,

 die verkehrsrechtliche Anordnung der Beklagten, wonach auf der S….straße zwischen der O. Straße und dem Ortsausgang N. durch Zeichen 274 der StVO im Juli 2019 eine Geschwindigkeitsbeschränkung vom 30 km/h angeordnet wurde, aufzuheben.

 Die Beklagte beantragt schriftsätzlich,

 die Klage abzuweisen.

 Der Berichterstatter hat am 6. Mai 2021 einen Orts- und Erörterungstermin durchgeführt, auf dessen Protokoll Bezug genommen wird. Die Beteiligten haben mit Schreiben vom 10. Mai 2021 und vom 21. Mai 2021 erklärt, mit einer Entscheidung durch den Einzelrichter ohne mündliche Verhandlung einverstanden zu sein. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und des beigezogenen Verwaltungsvorganges der Beklagten ergänzend Bezug genommen.

 Entscheidungsgründe: 

 Der Einzelrichter ist zur Entscheidung berufen, nachdem ihm die Kammer mit Beschluss vom 26. Mai 2021 nach § 6 Abs. 1 VwGO den Rechtsstreit zur Entscheidung übertragen hat. Das Urteil kann nach § 101 Abs. 2 VwGO ohne mündliche Verhandlung ergehen, da die Beteiligten ihr Einverständnis hierzu erklärt haben.

 Die Klage hat Erfolg. Sie ist zulässig (I.) und begründet (II.).

 I. 

 Die Klage ist zulässig. Sie ist als Anfechtungsklage gegen die eine Höchstgeschwindigkeit von 30 km/h anordnenden Verkehrszeichen statthaft, die Allgemeinverfügungen im Sinne von § 35 Satz 2 VwVfG NRW darstellen, vgl. BVerwG, Urteile vom 23. September 2010 - 3 C 37/09 -, juris, Rn. 15, und vom 6. April 2016 - 3 C 10/15 -, juris, Rn. 16.

 Der Kläger ist auch klagebefugt, weil die angegriffenen Verkehrszeichen ihn in seiner allgemeinen Handlungsfreiheit aus Art. 2 Abs. 1 GG beschränken, und zwar hier in Gestalt des straßenverkehrsrechtlichen Rechts, eine innerörtliche Straße im Grundsatz unter Einhaltung einer Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h befahren zu dürfen, vgl. § 3 Abs. 3 Nr. 1 StVO. Es kommt dabei nicht darauf an, ob der Kläger mit einer gewissen Regelmäßigkeit oder Nachhaltigkeit von dem Verkehrszeichen betroffen ist, vgl. BVerwG, Urteil vom 21. August 2003 - 3 C 15/03 -, juris, Rn. 18 f.

 Die Klage ist schließlich fristgemäß erhoben worden. Gegen Verkehrszeichen beginnt die Klagefrist nicht mit deren Aufstellung, sondern für jeden Verkehrsteilnehmer gesondert erst dann, wenn er dem Verkehrszeichen erstmals gegenübertritt. Da Verkehrszeichen keine Rechtsbehelfsbelehrung:en beigegeben sind, beträgt die Klagefrist nicht gemäß § 74 Abs. 1 Satz 2 VwGO einen Monat, sondern nach § 58 Abs. 2 Satz 1 VwGO ein Jahr. Vgl. BVerwG, Urteil vom 23. September 2010 - 3 C 37/09 -, juris, Rn. 14 ff., OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 27. August 2019 - 8 A 2923/18 -, juris, Rn. 7.

 Diese Frist wurde hier offenkundig gewahrt, da der Kläger im Jahr des Aufstellens der Verkehrszeichen Klage erhoben hat.

 II. 

 Die Klage ist auch begründet. Die in der Entscheidungsformel näher bezeichnete Beschränkung der Höchstgeschwindigkeit auf der S….straße auf 30 km/h ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO.

 Die vorliegend angegriffene Geschwindigkeitsbeschränkung findet ihre Grundlage nicht in § 45 Abs. 1 und 9 StVO.

 Nach § 45 Abs. 1 Satz 1 StVO in der derzeit geltenden Fassung können die Straßenverkehrsbehörden die Benutzung bestimmter Straßen oder Straßenstrecken aus Gründen der Sicherheit oder Ordnung des Verkehrs beschränken oder verbieten und den Verkehr umleiten. Gemäß § 45 Abs. 9 Satz 1 StVO sind Verkehrszeichen und Verkehrseinrichtungen nur dort anzuordnen, wo dies auf Grund der besonderen Umstände zwingend erforderlich ist. Nach § 45 Abs. 9 Satz 3 StVO dürfen insbesondere Beschränkungen und Verbote des fließenden Verkehrs nur angeordnet werden, wenn auf Grund der besonderen örtlichen Verhältnisse eine Gefahrenlage besteht, die das allgemeine Risiko einer Beeinträchtigung der in den vorstehenden Absätzen genannten Rechtsgüter erheblich übersteigt. Der Anwendung von § 45 Abs. 9 Satz 3 StVO steht dabei vorliegend die Regelung des § 45 Abs. 9 Satz 4 Nr. 6 StVO nicht entgegen. Danach gilt Satz 3 nicht für die Anordnung von innerörtlichen streckenbezogenen Geschwindigkeitsbeschränkungen von 30 km/h (Zeichen 274) nach Absatz 1 Satz 1 auf Straßen des überörtlichen Verkehrs (Bundes-, Landes- und Kreisstraßen) oder auf weiteren Vorfahrtstraßen (Zeichen 306) im unmittelbaren Bereich von an diesen Straßen gelegenen Kindergärten, Kindertagesstätten, allgemeinbildenden Schulen, Förderschulen, Alten- und Pflegeheimen oder Krankenhäusern. Diese Norm greift vorliegend schon deshalb nicht, weil derartige Einrichtungen an der S….straße nicht gelegen sind. Dies ergibt sich sowohl aus der Beschlussvorlage vom 15. Mai 2019 als auch aus dem Eindruck, den sich das Gericht vor Ort verschafft hat.

 § 45 Abs. 1 StVO in Verbindung mit § 45 Abs. 9 Satz 3 StVO setzt für Verbote und Beschränkungen des fließenden Verkehrs eine qualifizierte konkrete Gefahrenlage voraus. Diese muss - erstens - auf besondere örtliche Verhältnisse zurückzuführen sein und - zweitens - das allgemeine Risiko einer Beeinträchtigung der relevanten Rechtsgüter erheblich übersteigen. Die für Beschränkungen und Verbote des fließenden Verkehrs erforderliche Gefahrenlage kann aus einer Gemengelage verschiedener Faktoren bestehen, BVerwG, Beschluss vom 23. April 2013 - 3 B 59/12 -, juris, Rn. 9; OVG Nordrhein-Westfalen, Beschlüsse vom 29. Januar 2019 - 8 A 10/17 -, juris, Rn. 27, und vom 6. Juni 2019 - 8 B 821/18 -, juris, Rn. 8.

 Besondere örtliche Verhältnisse im Sinne von § 45 Abs. 9 Satz 3 StVO können insbesondere in der Streckenführung, dem Ausbauzustand der Strecke, witterungsbedingten Einflüssen, der dort anzutreffenden Verkehrsbelastung und den daraus resultierenden Unfallzahlen begründet sein. Eine an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit eines Schadenseintritts wird von § 45 Abs. 9 Satz 3 StVO nicht gefordert. Die Vorschrift setzt nur - aber immerhin - eine das allgemeine Risiko deutlich übersteigende Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts voraus. Erforderlich ist somit eine entsprechende konkrete Gefahr, die auf besonderen örtlichen Verhältnissen beruht. Die Beantwortung der Frage, ob eine solche qualifizierte Gefahrenlage besteht, bedarf einer Prognose, für deren Tatsachenbasis der Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung vor der letzten Tatsacheninstanz maßgeblich ist. Vgl. OVG Nordrhein-Westfalen, Beschlüsse vom 29. Januar 2019 - 8 A 10/17 -, juris, Rn. 27, und vom 6. Juni 2019 - 8 B 821/18 -, juris, Rn. 6 ff.

 Maßnahmen im Regelungsbereich des § 45 Abs. 9 StVO stehen im Ermessen der zuständigen Behörde (vgl. § 45 Abs. 9 Satz 3 in Verbindung mit § 45 Abs. 1 StVO). Die Auswahl der Mittel, mit denen die konkrete Gefahr bekämpft oder gemildert werden soll, muss dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit genügen. Bei der Frage, welche von mehreren in Betracht zu ziehenden Maßnahmen den bestmöglichen Erfolg verspricht, steht der Straßenverkehrsbehörde aufgrund ihres Sachverstandes und ihres Erfahrungswissens eine Einschätzungsprärogative zu. Vgl. OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 29. Januar 2019 - 8 A 10/17 -, juris, Rn. 29.

 Das Gericht kann die entsprechende behördliche Ermessensentscheidung gemäß § 114 Satz 1 VwGO dabei nur eingeschränkt daraufhin überprüfen, ob die Behörde das ihr eingeräumte Ermessen erkannt, von ihrem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung entsprechenden Weise Gebrauch gemacht und ob sie die gesetzlichen Grenzen des Ermessens eingehalten hat. Der Betroffene kann im Rahmen der behördlichen Ermessensausübung verlangen, dass seine eigenen Interessen ohne Rechtsfehler mit den Interessen der Allgemeinheit und anderer Betroffener, die für die Einführung der Verkehrsbeschränkung sprechen, abgewogen werden, Vgl. BVerwG, Urteil vom 27. Januar 1993 - 11 C 35/92 -, juris, Rn. 14.

 Nach dieser Maßgabe erweist sich die Geschwindigkeitsbeschränkung auf der S….straße, die eine Beschränkung des Straßenverkehrs im Sinne von § 45 Abs. 9 Satz 3 StVO darstellt, vgl. VG Düsseldorf, Beschluss vom 19. Mai 2021 - 6 K 4191/18 -, juris, Rn. 46, als rechtswidrig. Denn es fehlt vorliegend gänzlich an der Ermessensausübung (Ermessensausfall).

 Der Niederschrift der Sitzung des Bau- und Umweltausschusses der Stadt N. vom 4. Juni 2019 lassen sich keinerlei Ausführungen zur Ausübung des Ermessens nach den obigen Grundsätzen entnehmen. Weder finden sich dort Angaben zu einer Erörterung der Gründe für eine Geschwindigkeitsbeschränkung auf der S….straße noch ergibt sich aus der Niederschrift, dass eine Auseinandersetzung mit den in der Beschlussvorlage benannten Aspekten stattgefunden hätte, die gegen die Geschwindigkeitsbeschränkung sprechen. Vielmehr ist aus der Niederschrift nur ersichtlich, dass die Ausschussmitglieder den vom Technischen Beigeordneten angesprochenen Bürgerantrag zu Tempo 30 auf der S….straße begrüßt und einen gemeinsamen Antrag formuliert hätten, ohne dass ihr eine ansatzweise inhaltliche Auseinandersetzung mit den für und gegen die Anordnung sprechenden Gründen entnommen werden kann. Auch im Übrigen ist nicht erkennbar, dass seitens der Beklagten ein Ermessen ausgeübt worden wäre. Nach dem Beschluss des Bau- und Umweltausschusses wurde dieser ohne Weiteres mit Anordnung vom 18. Juni 2019 umgesetzt.

 Es ist auch nicht ersichtlich, dass das Ermessen der Beklagten hinsichtlich der streitgegenständlichen Anordnung auf null reduziert gewesen wäre.

 Dem steht weitgehend bereits - bezogen auf die Gesamtheit der Tempo-30-Strecke - entgegen, dass nach dem Eindruck des Gerichts im Ortstermin auf der S….straße schon die qualifizierte konkrete Gefahrenlage, die § 45 Abs. 9 Satz 3 StVO fordert, nicht gegeben ist. Die Straße ist in beide Fahrtrichtungen insgesamt gut einsehbar. So kann von der O. Straße kommend ungehindert der gesamte Abschnitt bis zu der hinter der Straße Am G. liegenden Biegung eingesehen werden. Ist diese Biegung passiert, besteht eine ungestörte Sicht bis zur Autobahnbrücke am Ende der S….straße . Das Gleiche gilt jeweils auch in der Gegenfahrtrichtung. Erhöhter Querungsbedarf ist keine Gefahrenquelle, da nahezu keine Querungen der S….straße durch Passanten zu beobachten waren und im Übrigen hierfür Fußgängerampeln zur Verfügung stehen. Weder der Ausbauzustand noch die eher im unteren bis mittleren Bereich liegende Verkehrsbelastung führen zu einer besonderen Gefahrenlage. Auch liegen keine besonders sensiblen Einrichtungen an der S….straße . Schließlich lässt sich bereits der Beschlussvorlage vom 15. Mai 2019 entnehmen, dass die S….straße zum damaligen Zeitpunkt, zu dem 50 km/h als gesetzliche Höchstgeschwindigkeit galt (vgl. § 3 Abs. 3 Nr. 1 StVO), kein Unfallschwerpunkt war. Es ist nicht erkennbar, dass sich daran bis heute etwas geändert hat.

 Nicht ausgeschlossen werden kann eine Gefahrenlage nur in dem Teilstück etwa zwischen der Biegung und der Einmündung des Sonnenwegs, in dem die Möglichkeit besteht, in Richtung O. Straße Fahrzeuge auf der Fahrspur zu parken. Auch diesbezüglich ist aber nicht ersichtlich, dass - selbst wenn eine Gefahrenlage angenommen wird - das Ermessen der Beklagten dahingehend reduziert wäre, dieser spezifisch mit einer Geschwindigkeitsbeschränkung zu begegnen, zumal insoweit mehrere Handlungsmöglichkeiten in Betracht kämen, zwischen denen im Rahmen einer Ermessensentscheidung unter Berücksichtigung der Vorgaben des § 40 VwVfG NRW eine Auswahl zu treffen wäre.

 Der Kläger wird durch den rechtswidrigen Verwaltungsakt auch in seinen Rechten, namentlich in dem Recht auf allgemeine Handlungsfreiheit aus Art. 2 Abs. 1 GG, verletzt.

VG Düsseldorf Urt. v. 14.6.2021 – 6 K 8870/19, BeckRS 2021, 14646

 

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6 Kommentare

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Da kommen auch nur Jurist*innen drauf

Was gibt es an dem Urteil konkret auszusetzen? Wo gibt es einen Haken? Welche Bedenken haben Sie?

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Das ist spätestens seit https://t1p.de/2qwyj ständige Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte & aus meiner Sicht gut & richtig so. Mit Grundrechten oder gar so etwas wie einem Recht auf Rasen hat das nichts zu tun. Die Regelung in § 45 Abs. 9 Satz 3 StVO hat der Verordnungsgeber seinerzeit eingeführt, um ausufernde Verkehrsbeschränkungen durch paranoide Straßenverkehrsämter einzudämmen. Tempolimits, Sperrungen, Radwegzwang und ähnliche Regelungen mehr sind danach nur zulässig, wenn am Ort der Regelung erheblich über die allgemein mit der Teilnahme am Verkehr verbundenen Risiken vorliegen. Leider, leider haben Eilanträge gegen Verkehrsregelungen so gut wie nie Erfolg, vgl. zuletzt: https://t1p.de/shrs Das Verwaltungsgericht Potsdam zum Beispiel hat über vier Jahre gebraucht, um auf meine Klage hin über einen offensichtlich rechtswidrig verhängten Bürgersteigzwang für Radfahrer zu urteilen...

Praktisch wichtige Ergänzung noch: Für Tempo 30-Zonen gilt das nicht, § 45 Abs. 9 Satz 4 Nr. 4 StVO. Die dürfen die Behörden ziemlich frei anordnen.

Die nächste (rot-rot-grüne oder schwarz-grüne) Bundesregierung wird wahrscheinlich für alle geschlossenen Ortschjaften die zulässige Höchstgeschwindigkeit auf 30 km/h herabsetzen.

In den Ministerien und in den Bundestagsfraktionen ist der politische Wille dafür wohl inzwischen da, und die Bevölkerung wird teils subtil, teils aber auch ausdrücklich, durch  Behörden, Parteien und Leitmedien, auch bereits darauf eingestimmt.

Die Anlieger der bisherigen Tempo-30-Zonen werden dann die gelackmeierten sein, da sich der bisher von dort weggelenkte Verkehr dann, wenn überall Tempo-30 gilt, in deren Straßen, die dann Abkürzungen und Schleichwege werden, mit voller Wucht ergießt.

Vernünftiger wäre vielleicht, grundsätzlich Tempo 40 anzuordnen, und gleichzeitig alle Tempo 30 Zonen in Tempo 20 Zonen zu verwandeln, denn dann blieben die verkehrsleitenden Funktionen erhalten, aber die Ministerien und die Bundestagsfraktionen und die Leitmedien wollen etwas anderes, nämlich in gleichmacherischer Art und Weise überall pauschal Tempo 30.

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Kleiner Tipp: anstatt sich den langwierigen Weg über ein Verwaltungsgericht zu bahnen, kann man auch ganz einfach bei der Aufsicht der Stadt Beschwerde einlegen.

In NRW liegt die Aufsicht

- über kreisangehörige Kommunen beim Landrat
- über kreisfreie Städte bei der Bezirksregierung

Die Aufsicht wird dann den Bürgermeister anweisen, den Ratsbeschluss zu beanstanden. Hebt der Rat den Beschluss dann nicht auf, wird der Landrat das selbst tun. Die Rechtsgrundlagen finden sich in §§ 54, 122 f GO NRW

Diese Regelung sollte so, oder so ähnlich, in allen Bundesländern gelten.

Übrigens: weigert sich der Landrat, kann man dagegen nicht klagen (außer, man sieht seine Grundrechte verletzt). Allerdings kann man sich in dem Fall an die Aufsichtsbehörde des Landrats (die Bezirksregierung) wenden. Die Bezirksregierung kann dann den Landrat anweisen, den Bürgermeister anzuweisen. Sie kann aber nicht direkt den Bürgermeister anweisen (es sei denn, sie ist ihm - wie in kreisfreien Städten vorliegend - direkt überstellt).

Dieses Verfahren spart Zeit und schont Nerven. Schließlich ist es dann die Aufsicht, die sich mit der Stadt rumprügeln darf.

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Auf der Suche nach Argumenten für Tempo 30 vor unserer Grund- und Mittelschule bin ich auf diesen Beitrag gestoßen. Kann mir jemand weiter helfen, wenn es um die "qualifizierte Gefahrenlage" geht? Hier finde ich sie in Satz 3 des §45 Abs. 9 der StVO verortet. Unser Landratsamt (Mühldorf am Inn, Bayern) behauptet, dass Tempo 30 vor unserer Schule wegen Satz 1 desselben Paragraphen nicht möglich wäre, weil diese "qualifizierte Gefahrenlage" angeblich nicht vorhanden wäre. Es befindet sich eine unübersichtliche Kurve, ein schmaler Gehweg (nur 150cm) und auf der gegenüberliegende Seite ein Fahrradweg, der genau in der unübersichtlichen Kurve auf die Fahrbahn der Straße mündet. Außerdem stehen schon Verkehrszeichen 136 (Achtung, Kinder) an der Straße, welche nach unserer (Nichtjuristen-)Logik auf die Gefahrenlage hinweisen, die unser Landratsamt abstreitet. Kann uns jemand hier aufklären? Wir überlegen eine Aufsichtsbeschwerde einzureichen wegen Ermessensausfall, da das Landratsamt sich hier keinen Ermessensspielraum zugesteht. Es wäre super, wenn wir hier Unterstützung finden könnten. (netzwerk.nsv@gmail.com) Vielen Dank!

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