Im Zweifel für den Zweifel - die abstrakte Normenkontrolle nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG

von Dr. iur. Fiete Kalscheuer, veröffentlicht am 06.01.2022
Rechtsgebiete: Öffentliches Recht4|5722 Aufrufe

Die Regelung in Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG gehört zu den schönsten Regelungen des Grundgesetzes. Sie enthält einen Grundbegriff der neuzeitlichen Philosophie, den Zweifel. Jeder Examenskandidat kennt die Formulierung in Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG:

Das Bundesverfassungsgericht entscheidet bei Meinungsverschiedenheiten oder Zweifeln über die förmliche und sachliche Vereinbarkeit von Bundesrecht oder Landesrecht mit diesem Grundgesetze oder die Vereinbarkeit von Landesrecht mit sonstigem Bundesrechte auf Antrag der Bundesregierung, einer Landesregierung oder eines Viertels der Mitglieder des Bundestages.

Während Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG an den Antragsgrund somit nur geringe Anforderungen stellt und bloße Zweifel genügen lässt, formuliert § 76 Abs. 1 Nr. 1 BVerfGG deutlich strenger: Der Antragsteller muss die zu überprüfende Norm für nichtig halten. § 76 Abs. 1 Nr. 1 BVerfGG verschärft die Regelung in Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG danach in zweifacher Hinsicht: Zum einen reichen bloße Zweifel nicht aus und zum anderen muss gerade der Antragsteller (und nicht irgendwer) die Norm für nichtig halten. Streitig ist nunmehr, ob diese Einschränkung in § 76 Abs. 1 Nr. 1 BVerfG dazu führt, dass diese Norm (teilweise) verfassungswidrig oder jedenfalls verfassungskonform auszulegen ist. Das BVerfG geht davon aus, § 76 Abs. 1 Nr. 1 BVerfGG stelle eine verfassungskonforme Konkretisierung des Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG dar (BVerfGE 96, 133 (137).

Kees meint im Mitarbeiterkommentar zum Bundesverfassungsgerichtsgesetz, dieser Streit spiele in der Praxis keine Rolle. Schließlich genüge die bloße Behauptung der entsprechenden Überzeugung (Kees, in Mitarbeiterkommentar zum BVerfGG, § 76 Rn. 45). Dies aber ist unzutreffend; diese Auffassung verkennt den großartigen Inhalt der Regelung in Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG. Der Umstand, dass lediglich im Rahmen der abstrakten Normenkontrolle nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG (und nicht etwa ebenso bei der konktreten Normenkontrolle nach Art. 100 Abs. 1 GG) bloße Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit einer Norm genügen, um diese dem BVerfG vorzulegen, kann letztlich nur einen Sinn und Zweck haben: Die Regelung soll den am Gesetzgebungsverfahren beteiligten Verfassungsorganen die Möglichkeit gegeben, sich selbst zu hinterfragen. Der Bundesregierung etwa soll die Möglichkeit gegeben werden, ein von ihr selbst entworfenes Gesetz dem BVerfG vorzulegen, das zur effektiven Gefahrenabwehr oder Strafverfolgung bis an die Grenzen des Rechtsstaates geht und diese ggf. sogar überschreitet. Zu denken ist hierbei etwa an die Vorratsdatenspeicherung. Eine Bundesregierung würde in einem derartigen Falle nicht vortragen können, sie sei überzeugt von der Verfassungswidrigkeit des von ihr selbst entworfenen Gesetzes. Plausibel kann sie lediglich vortragen, sie habe selbst Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der Regelung; sie wolle mit der Regelung bis an die Grenzen des rechtsstaatlich Möglichen gehen, diese aber nicht überschreiten. 

Die Hamburger Band Tocotronic bringt den Grundgedanken des Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG gut auf den Punkt:

Im Zweifel für den Zweifel

Das Zaudern und den Zorn

Im Zweifel fürs Zerreißen

Der eigenen Uniform.

Es wäre schön, wenn sich das BVerfG diesem Grundgedanken des Art. 93 Abs.1 Nr. 2 GG, der es einem Verfassungsorgan ermöglicht, "die eigene Uniform zu zerreißen", d.h. sich selbst in Frage zu stellen, nicht weiter verschließen würde. 

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4 Kommentare

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Nun, am 30.6.2021 ist ja dieser Spruchkörper eingenordet worden. Alles, was sich gegen coronatische Befehle richtet, wird im maschinengewehrfeuerartigen Schnellserienschuss als unzulässig abgebügelt.

Im Bewußtsein der breiten Öffentlichkeit ist es entweder nie angekommen oder inzwischen verloren gegangen, daß Schritte in Richtung einer teilweisen oder tendenziellen Entwertung von Regelungen unseres Grundgesetzes nicht erst jetzt, sondern bereits auch früher schon gemacht wurden, aber die in der breiten Öffentlichkeit dominanten Leitmedien sorgen sich anscheinend wohl weniger um den Schutz unserer Verfassung vor Aushöhlung, als vielmehr pder prioritär um den Schutz der jeweiligen Regierungen vor Machtbegrenzungen.

Nur einer Minderheit von Bürgern ist die Frage oder Problematik der das Grundgesetz einschränkenden Formulierung des mit einfacher Bundestagsmehrheit beschlossenen Bundesverfassungsgerichtsgesetzes bewußt. Ähnlich verhält es sich beim mit einfacher Bundestagsmehrheit beschlossenen Versammlungsgesetz, welches im Vergleich zum Grundgesetz das Recht auf Demonstrationen tendenziell eher einschränkt. Auch die Notstandsgesetze schränkten die Grundrechte ein. Seit der verabschiedung des Grundgesetzes wurde nicht an dessen Ausbau gearbeitet, sondern tendenziell an dessen Aushöhlung, denn die Politiker mögen Einschränkungen ihrer Macht naturgemäß nicht so gerne.  

Wenn es um Machtfragen geht, sind die vorherrschenden etablierten Leitmedien meist erstaunlich unkritisch, während wenn es um vom Zeitgeist angestoßene gesellschaftliche Veränderungen geht welche für die Staatsmacht egal sind, die Medien teils extrem kritisch und extrem "modernisierungsfreundlich" oder "reformfreudig" auftreten.

Man kann wohl wenn man will große Zusammenhänge oder jedenfalls Parallelen erkennen.

Aber andererseits ist es auch wichtig, nicht alles in einen Topf zu werfen, sondern sich jedes Problem vorurteilsfrei und unvoreingenommen und genau und differenziert anzusehen.

In der Schweiz ist ja in den letzten Tagen offenkundig geworden, daß zumindest einige große Medien dort einen Beitrag zu einer Art gelenkten Demokratie leisten wollen, also dazu beitragen wollen, daß das Volk durch die Regierung gelenkt wird, und nicht etwa, das das Volk der Souverän sein soll der die Staatsmacht steuern dürfen soll.

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Heute gibt es Produkthaftung, morgen Einzelfälle, und sobald es zuviel sind, nimmt der Gesetzgeber dem Bürger die Last der Gerichtsverfahren durch eine Stiftung, zugleich werden alle Produkthaftungsgesetze für erloschen erklärt. Wem auf der Nase ein Rüssel vom Elefanten wächst, bekommt, da keine wirkliche Behinderung, zehn Euro im Monat. Wer drei Rüssel hat, zwanzig. Und wer trotzdem klagt, muss beweisen, daß er mit einer zivilrechtlichen Klage bei armen Milliardären und Millionen Anspruchsstellern mehr bekommen hätte. Du zweifeln? Du lesen Urteile aus Karlsruhe und Straßburg, dann Du wissen Bescheid.... 

https://de.wikipedia.org/wiki/Contergan_(Film)

Für Juristen sind die vier Urteile wahre Fundstücke, was so juristisch beim Eigentum geht.

Schon Adolf machte rückwirkende Gesetze: Die zur Niederschlagung hoch- und landesverräterischer Angriffe am 30. Juni, 1. und 2. Juli 1934 vollzogenen Maßnahmen sind als Staatsnotwehr rechtens. 03.07.1934

Begeht ein Dackel die Dackelnotwehr, wenn er den Postboten heisst? Darf der Dackel ein Gesetz erlassen, das das zufassen rückwirkend zulässig war? Fragen über Fragen. 

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