Diskussion um die Verwertbarkeit von EncroChat-Inhalten

von Dr. Jörn Patzak, veröffentlicht am 16.01.2022

Die Problematik um die Verwertbarkeit von EncroChat-Inhalten beschäftigt die Gerichte nun schon geraume Zeit. Es geht um die Sicherstellung der Kommunikation auf Servern des Unternehmens EncroChat, das seinen Nutzern seit 2016 eine verschlüsselte Internetkommunikation angeboten hatte. Den Nutzern wurden hierfür eigene Mobiltelefone mit dem Versprechen zur Verfügung gestellt, dass die Kommunikation durch Behörden nicht überwacht werden könne. Die Strafverfolgungsbehörden in Frankreich stellten bei gemeinsamen Ermittlungen mit den Niederlanden unter Beteiligung von Eurojust und Europol Anfang 2020 Kommunikationsdaten auf den Servern von EncroChat sicher (s. dazu beispielsweise Pauli, Zur Verwertbarkeit der Erkenntnisse ausländischer Ermittlungsbörden – EncroChat, NStZ 2021, 146). Mit den ihnen zur Verfügung gestellten Erkenntnissen führten die deutschen Ermittlungsbehörden in der Folge zahlreiche Ermittlungsverfahren. Dort wird von den Beschuldigten zum Teil die Verwertbarkeit im deutschen Verfahren in Frage gestellt (zu weiteren Entscheidungen siehe am Ende des Beitrags).

In einer aktuellen Entscheidung hält das OLG Karlsruhe die Daten für verwertbar; es hat auf eine Haftprüfungsbeschwerde die Fortdauer der Untersuchungshaft gegen einen Angeklagten, dem der mehrfache Handel mit Marihuana und Kokain im Kilogrammbereich vorgeworfen wird, angeordnet (OLG Karlsruhe Beschl. v. 10.11.2021 – 2 Ws 261/21, BeckRS 2021, 33716).

1. Zum Hintergrund der Sicherstellung der EncroChat-Inhalt in Frankreich führt das OLG Karlsruhe zunächst aus:

„Im Rahmen von sieben nicht im Zusammenhang stehenden Ermittlungsverfahren - in fünf Fällen handelte es sich ausschließlich um Betäubungsmitteldelikte (436 kg Cannabisharz / 100 kg Cannabisharz / 30 kg Cannabisharz / 30 kg Cannabisharz / 12 kg Cannabiskraut, 6 kg Heroin, 1 kg Crack), in einem Fall um ein Betäubungsmitteldelikt (6 kg Cannabisharz) sowie um eine Diebstahlsserie von Luxuskraftfahrzeugen und in einem weiteren Fall um bandenmäßig organisierten Kraftfahrzeugdiebstahl - der französischen Behörden in den Jahren 2017 und 2018 wurden verschlüsselte Telefone unter „EncroChat-Lizenz“ sichergestellt.

Weitere Recherchen ergaben, dass diese Telefone auf einer frei zugänglichen Internetseite mit folgenden Produktmerkmalen beworben wurden: „Garantie der Anonymität, personalisierte Android Plattform, doppeltes Betriebssystem, allerneueste Technik, automatische Löschung von Nachrichten, schnelles Löschen, Unantastbarkeit, Kryptografie-Hardwaremodul“. Folgende Anwendungen waren auf dieser Art von Telefonen verfügbar: „EncroChat (lnstant-Secure Messaging Kunde), EncroTalk (Chiffrierung der Sprachkonversationen auf IP), EncroNotes (Chiffrierung der lokal auf dem Gerät gespeicherten Notizen)“. Ein Erwerb solcher Endgeräte war jedoch nicht über die offizielle Webseite dieses Unternehmens möglich.

Auf der Verkaufsplattform eBay wurden derartige Geräte für 1.610 € angeboten, wobei dieser Preis eine Nutzerlizenz für die Dauer von (nur) sechs Monaten beinhaltete. Personen, die sich nach außen als Verantwortliche der Firma EncroChat präsentierten, existierten nicht. Einen offiziellen Sitz eines Unternehmens EncroChat gab es ebenfalls nicht.

Anhand der Auswertung eines der beschlagnahmten Mobiltelefone konnten die Ermittlungsbehörden aufgrund der aus- und eingehenden Datenströme feststellen, dass eine Datenverbindung zu einem in Roubaix (Frankreich) betriebenen Server bestand. Dieser Server war von der Gesellschaft „Virtue Imports“ mit Sitz in Vancouver/Kanada angemietet.

Nach Einholung eines richterlichen Beschlusses wurden am 21.12.2018 die Daten des vorgenannten Servers kopiert und in der Folgezeit ausgewertet. Die Ermittlungen wurden zu diesem Zeitpunkt wegen des Verdachts der Bildung einer „kriminellen Vereinigung zur Begehung von Straftaten oder Verbrechen, die mit zehn Jahren Haft bestraft werden“, (und insbesondere Verbrechen des Betäubungsmittel-/Drogenhandels laut Artikel 222-37 des französischen Strafgesetzbuches) sowie wegen weiteren Tatbeständen im Zusammenhang mit der Lieferung, dem Transfer und dem Import eines Verschlüsselungsmittels geführt.

Die kopierten Serverdaten förderten unter anderem zutage, dass die verwendeten SIM-Karten von einem niederländischen Betreiber stammten und im System insgesamt 66.134 SIM-Karten eingetragen waren. Es konnten knapp 3.500 Dateien mit Notizen entschlüsselt werden, die nach Lage der Dinge in Verbindung mit illegalen Aktivitäten, insbesondere dem Drogenhandel, standen. So zeigten beispielsweise die Notizen eines Nutzers hochwahrscheinlich dessen Einbindung in den Drogenhandel über Häfen und dessen Möglichkeiten zur Geldwäsche in Paris durch Zahlungsströme in Richtung Marokko.

Aufgrund richterlicher Genehmigungen des Gerichts in Lille vom 30.1.2020 für den Einsatz einer Computerdaten-Abfangeinrichtung erfolgte sowohl auf dem Server als auch auf den mit diesem Server verbundenen Endgeräten die Installation einer „Trojanersoftware“ und schließlich mangels anderweitiger Ermittlungsmöglichkeiten - ebenfalls mit richterlicher Genehmigung desselben Gerichts vom 20.3.2020 - eine Umleitung aller Datenströme (DNS-Umleitung) des vorgenannten Servers in Roubaix ab dem 1.4.2020. Dabei wurde bekannt, dass von der Datenabfangmaßnahme 32.477 Nutzer in 121 Ländern betroffen waren. Hiervon befanden sich 380 Nutzer ganz oder teilweise im französischen Hoheitsgebiet, von denen nach Einschätzung der französischen Behörden mindestens 242 Personen - mithin über 60% - das verschlüsselte Kommunikationssystem zu kriminellen Zwecken nutzten. Das Nutzungsverhalten der übrigen Personen war zu diesem Zeitpunkt noch nicht ausgewertet oder diese waren inaktiv.

Am 7.4.2020 wurden die Ermittlungen auf Transport, Besitz, Erwerb, Anbieten oder Abgabe von Drogen/Betäubungsmitteln und den Besitz und Erwerb von Waffen ohne Genehmigung ausgedehnt, nachdem nähere Informationen zum Netzwerk der Händler der EncroChat-Telefone bekannt geworden waren. In einem an einen australischen Händler versandten „Leitfaden“ zur Vermarktung der chiffrierten Telefone, der den Ablauf der unterschiedlichen Kaufphasen bis hin zum endgültigen Verkauf an die Nutzer schilderte, wurde unter anderem auch erklärt, dass die Zahlung vorzugsweise in Kryptowährung (Bitcoin) erfolgen solle, dass man sich gegenüber der Polizei verdeckt halten und insbesondere vermeiden müsse, durch mengenmäßig zu große Lieferungen aufzufallen. Dem Händler, dessen Hauptaktivität der Kokainhandel gewesen sein soll, wurde auch versichert, dass die Geräte weder „abgehört“ noch unrechtmäßig genutzt werden könnten, wenn sie „in schlechte Hände“ fielen. Insbesondere wurde darauf hingewiesen, dass der Polizei eine Lokalisierung nicht möglich sei, wenn diese an die IMEI und die SIM des Telefons gelange.

Aufgrund dieser Erkenntnisse wurden die aufgrund der richterlichen Anordnung zeitlich begrenzten technischen Maßnahmen zunächst für einen Monat ab 1.5.2020 und darauffolgend für weitere vier Monate ab 1.6.2020 - jeweils mit richterlichem Beschluss - verlängert und die Deliktstatbestände, derentwegen ermittelt wurde, erweitert. Die Maßnahmen endeten in Frankreich jedoch bereits mit der Einstellung des Geschäftsbetriebs des Unternehmens EncroChat nach ihrem Bekanntwerden am 28.6.2020.

Zu einer Unterrichtung der Bundesrepublik Deutschland - als zu unterrichtender Mitgliedstaat - durch die Republik Frankreich - als überwachender Mitgliedsstaat im Sinne von Art. 31 Abs. 1 der RL 2014/41/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 3.4.2014 (ABl. L 130/1) - RL-EEA - dahingehend, dass sich die Zielperson der Überwachung auf deutschem Hoheitsgebiet befindet oder befunden hat, kam es zunächst nicht. Ebenso unterblieb auch eine Mitteilung der Bundesrepublik Deutschland nach Art. 31 Abs. 3 RL-EEA, dass die Überwachung durchzuführen oder zu beenden sei.

In der Folgezeit wurden die EncroChat-Daten dem BKA in der Zeit vom 3.4. bis zum 28.6.2020 übermittelt und dort aufbereitet. Von der Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt am Main wurden sodann getrennte Ermittlungsverfahren gegen die ermittelten Nutzer eingeleitet und den örtlich zuständigen Staatsanwaltschaften über die jeweiligen Landeskriminalämter zugeleitet.

Vorangegangen war eine Mitteilung Frankreichs über die gewonnenen Erkenntnisse nach Art. 7 des Rahmenbeschlusses 2006/960/JI des Rates vom 18.12.2006 über die Vereinfachung des Austausches von Informationen und Erkenntnissen zwischen den Strafverfolgungsbehörden der Mitgliedstaaten der Europäischen Union (ABl. 386/89). Hiernach stellen nationale Strafverfolgungsbehörden den Strafverfolgungsbehörden anderer Mitgliedstaaten Informationen und Erkenntnissen unaufgefordert zur Verfügung stellen, wenn konkrete Gründe für die Annahme bestehen, dass diese dazu beitragen könnten, Straftaten nach Art. 2 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI des Rates vom 13.6.2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten aufzudecken, zu verhüten oder aufzuklären.

Am 2.6.2020 erließ die Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt am Main auf der Grundlage der Art. 5 ff. RL-EEA eine Europäische Ermittlungsanordnung, welche nach Art. 1 der Richtlinie auch auf die Erlangung von Beweismitteln, die sich bereits im Besitz der zuständigen Behörden des Vollstreckungsstaates befinden, erlassen werden kann. In Anhang A, Abschnitt C (Sonderheft Rechtshilfe, Bl. 1), in welchem die erbetenen Maßnahmen mitgeteilt werden, heißt es: Das BKA sei über Europol informiert worden, dass in Deutschland eine Vielzahl schwerster Straftaten (insbesondere Einfuhr und Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge) unter Nutzung von Mobiltelefonen mit der Verschlüsselungssoftware EncroChat begangen werden. In diesem Zusammenhang wurden die französischen Justizbehörden ersucht, die unbeschränkte Verwendung der betreffenden Daten bezüglich der über EncroChat ausgetauschten Kommunikation in Strafverfahren gegen die Täter zu genehmigen.

Diese Genehmigung ist am 13.6.2020 durch die Ermittlungsrichterin in Lille erteilt und sodann die Fortsetzung der - zuvor ohne Ersuchen erfolgten - Übermittlung der nunmehr ersuchten Daten über Europol angeordnet worden. Die französischen Behörden haben einer Verwendung der Daten im Rahmen eines jeden Ermittlungsverfahrens im Hinblick auf jedwedes Gerichts-, Strafverfolgungs- oder Untersuchungsverfahren zugestimmt.“

2. Das OLG Karlsruhe weiter zur Rechtmäßigkeit der Maßnahmen:

„Die jedenfalls die Grundlage der Verwertung im vorliegenden Verfahren bildenden Europäischen Ermittlungsanordnungen der Staatsanwaltschaft Freiburg sind rechtmäßig erlassen worden.

Außer den in § 91j Abs. 1 IRG enthaltenen formalen Vorgaben genügen diese Ermittlungsanordnungen auch den sich aus Art. 6 Abs. 1 RL-EEA ergebenden materiellen Anforderungen (vgl. Schomburg/Lagodny, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen, 6. Aufl., § 91j IRG Rn. 3). Danach darf eine Europäische Ermittlungsanordnung nur erlassen werden, wenn die im Ausland durchzuführende Maßnahme in einem vergleichbaren innerstaatlichen Fall unter denselben Bedingungen hätte angeordnet werden können (Art. 6 Abs. 1 lit. b RL-EEA). Zudem muss der Erlass der EEA auch dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit genügen, d.h. für die Zwecke des ihr zugrunde liegenden Strafverfahrens unter Berücksichtigung der Rechte der betroffenen Person notwendig und verhältnismäßig sein (Art. 6 Abs. 1 lit. a RL-EEA).

Ob sich die Prüfung dabei bloß auf die Frage der Genehmigung der Verwertung der bereits erhobenen Beweismittel beschränkt oder sich weitergehend auch auf die Rechtmäßigkeit der Erhebung der Beweise erstreckt, kann letztlich dahinstehen, nachdem bereits die Beweiserhebung auch nach deutschem Recht zulässig gewesen wäre.

a) Bei der Prüfung der Rechtmäßigkeit des Zugriffs auf die Endgeräte ist dabei im Blick zu behalten, dass sich die Ermittlungen jedenfalls auch gegen die Vertreiber der Endgeräte richteten. Danach findet der Zugriff auf die von den Angeklagten genutzten Endgeräte und die darauf gespeicherten Daten seine Grundlage jedenfalls in § 100b StPO. Auf der Grundlage der zu Vertrieb und Nutzung der mit der EncroChat-Software versehenen Endgeräte bekannt gewordenen Besonderheiten - konspirativer Vertrieb hochpreisiger mit Verschlüsselungstechnik versehener Endgeräte, die für eine konventionelle Nutzung nicht eingesetzt werden können - bestand der Anfangsverdacht gegen die Vertreiber der Geräte, damit bewusst die Begehung schwerer Straftaten der organisierten Kriminalität, die zum Katalog der in § 100b Abs. 2 StPO aufgeführten Taten gehören, zu unterstützen (vgl. KG a.a.O., Rn. 48 bei juris). Der Zugriff auf die Endgeräte war dabei gemäß § 100b Abs. 3 Nr. 2 StPO zulässig, weil direkte Ermittlungsmaßnahmen gegen die namentlich nicht bekannten Vertreiber nicht möglich waren und deshalb nur der Zugriff auf die mit den vertriebenen Endgeräten geführte Kommunikation weiteren Aufschluss über die Verwendung für die Begehung strafbarer, dem Katalog des § 100b Abs. 2 StPO unterfallender Handlungen erwarten ließ. Allein der Zugriff auf den Server, über den die Kommunikation geleitet wurde, erlaubte wegen der vorherigen Verschlüsselung bereits auf dem Endgerät keinen Zugriff auf die Kommunikationsinhalte.

b) Die Auswertung der auf den Endgeräten gespeicherten Kommunikationsinhalte, die die Beteiligung der Angeklagten an Betäubungsmittelstraftaten gemäß § 29a Nr. 2 BtMG und damit einer Katalogtat gemäß § 100a Abs. 2 Nr. 7 lit. b StPO belegten, hätten sodann auch nach deutschem Recht die Überwachung der laufenden Kommunikation gemäß § 100a Abs. 1 StPO gerechtfertigt, nachdem wegen des im Übrigen konspirativen Vorgehens der Beteiligten andere Ermittlungsmaßnahmen keinen Erfolg versprachen.“

3. Die Verwertbarkeit das Daten begründet das OLG Karlsruhe wie folgt:

„Soweit bei der Erhebung der Beweise durch die französischen Behörden nicht alle dafür maßgeblichen Rechtsvorschriften beachtet worden sind, führt dies im Ergebnis nicht zu einer Unverwertbarkeit der gewonnenen Beweismittel.

a) Ob das Vorgehen der französischen Behörden innerhalb des französischen Staatsgebiets den Vorgaben des französischen Rechts entsprach, ist grundsätzlich der Prüfung durch den Senat entzogen (BGHSt 58, 32); Verstöße gegen den ordre public sind insoweit nicht ersichtlich.

b) Der Zugriff auf die Endgeräte der Angeklagten in Deutschland ist aber an den rechtlichen Vorgaben der Art. 30, 31 RL-EEA zu messen (vgl. auch §§ 59 Abs. 3, 91c Abs. 2 Nr. 2 lit. c dd IRG). Die Unterrichtung der deutschen Behörden, zu der die französischen Behörden nach Art. 31 Abs. 1 RL-EEA jedenfalls ab dem Zeitpunkt verpflichtet waren, ab dem sie Kenntnis davon hatten, dass die von der Überwachung betroffenen Personen sich auf deutschem Staatsgebiet aufhielten, ist vorliegend jedoch nicht erfolgt, so dass eine - gemäß Art. 6 Abs. 1 lit. b RL-EEA zwingend durchzuführende - Prüfung der Zulässigkeit der Maßnahme nach deutschem Recht durch die zuständige Behörde nicht erfolgen konnte.

c) Dieser Verstoß führt jedoch nicht zu einem Beweisverwertungsverbot.

Ein allgemein geltender Grundsatz, demzufolge jeder Verstoß gegen Beweiserhebungsvorschriften ein strafprozessuales Verwertungsverbot nach sich zieht, ist dem Strafverfahrensrecht fremd und auch weder von Verfassungs wegen noch durch die Europäische Menschenrechtskonvention oder das Recht der Europäischen Union geboten (BVerfG NJW 2008, 3053; 2011, 2417; BVerfGE 130, 1; KG a.a.O., jew. m.w.N.). Auch wenn die Strafprozessordnung nicht auf Wahrheitserforschung „um jeden Preis“ gerichtet ist, schränkt die Annahme eines Verwertungsverbotes eines der wesentlichen Prinzipien des Strafverfahrensrechts ein, nämlich den Grundsatz, dass das Gericht die Wahrheit zu erforschen und dazu die Beweisaufnahme von Amts wegen auf alle Tatsachen und Beweismittel zu erstrecken hat, die von Bedeutung sind. Das Rechtsstaatsprinzip gestattet und verlangt die Berücksichtigung der Belange einer funktionstüchtigen Strafrechtspflege, ohne die der Gerechtigkeit nicht zum Durchbruch verholfen werden kann. Der Rechtsstaat kann sich nur verwirklichen, wenn ausreichende Vorkehrungen dafür getroffen sind, dass Straftäter im Rahmen der geltenden Gesetze verfolgt, abgeurteilt und einer gerechten Bestrafung zugeführt werden. Daran gemessen bedeutet ein Beweisverwertungsverbot eine begründungsbedürftige Ausnahme, die nur nach ausdrücklicher gesetzlicher Vorschrift oder aus übergeordneten wichtigen Gründen im Einzelfall anzuerkennen ist (BVerfGE 33, 367, 383; 46, 214, 222; 122, 248, 272 f.; BGHSt 40, 211, 217; 44, 243, 249; 51, 285, 290; st. Rspr.). Ein Beweisverwertungsverbot ist aber zumindest bei schwerwiegenden, bewussten oder willkürlichen Verfahrensverstößen, bei denen die grundrechtlichen Sicherungen planmäßig oder systematisch außer Acht gelassen worden sind, geboten (vgl. BVerfGE 113, 29, 61; NJW 1999, 273; NJW 2006, 2684). Ein absolutes Beweisverwertungsverbot unmittelbar aus den Grundrechten hat das Bundesverfassungsgericht nur in den Fällen anerkannt, in denen der absolute Kernbereich privater Lebensgestaltung berührt ist (vgl. BVerfGE 34, 238, 245 f.; 80, 367, 374 f.; 109, 279, 320). Im Übrigen bedarf es einer Abwägung der für und gegen die Verwertung sprechenden Gesichtspunkte im Einzelfall. Für die Verwertbarkeit spricht stets das staatliche Aufklärungsinteresse, dessen Gewicht im konkreten Fall vor allem unter Berücksichtigung der Verfügbarkeit weiterer Beweismittel, der Intensität des Tatverdachts und der Schwere der Straftat bestimmt wird. Auf der anderen Seite muss berücksichtigt werden, welches Gewicht der Rechtsverstoß hat. Dieses wird im konkreten Fall vor allem dadurch bestimmt, ob der Rechtsverstoß gutgläubig, fahrlässig oder vorsätzlich begangen wurde, welchen Schutzzweck die verletzte Vorschrift hat, ob der Beweiswert beeinträchtigt wird, ob die Beweiserhebung hätte rechtmäßig durchgeführt werden können und wie schutzbedürftig der Betroffene ist (BVerfGE 130, 1 m.w.N.).

Im vorliegenden Fall ist dabei in die Abwägung einzustellen, dass bei Beachtung der rechtlichen Vorgaben der Überwachung aller Voraussicht nach von der zuständigen Behörde nicht widersprochen worden wäre (vgl. dazu Art. 31 Abs. 3 RL-EEA), nachdem die Beweiserhebung - wie gezeigt - auch nach deutschem Recht zulässig gewesen wäre. Zudem dienen die gewonnenen Beweise der Aufklärung und Verfolgung schwerer Straftaten der organisierten Kriminalität, die auf andere Weise nicht zu bewerkstelligen wäre. Weder sind mit der Beweisgewinnung durch die französischen Behörden Zuständigkeitsvorgaben umgangen worden (sog. Befugnis-Shopping) noch ist eine gezielte Missachtung der komplexen rechtshilferechtlichen Vorschriften erkennbar. Umgekehrt ist zwar zu berücksichtigen, dass mit den Ermittlungsmaßnahmen in die besonders sensiblen Bereiche des Fernmeldegeheimnisses (Art. 10 GG) bzw. des Schutzes der Integrität informationstechnischer Systeme als Teil des ebenfalls grundrechtlich geschützten Rechts auf informationelle Selbstbestimmung (Art. 2 Abs. 1 GG, vgl. dazu BVerfGE 120, 274) eingegriffen wurde. Dies wird allerdings dadurch relativiert, dass die Angeklagten diesen Schutz bewusst zur Begehung schwerer Straftaten missbraucht haben und nach den gesamten Umständen, insbesondere der fehlenden Möglichkeit, die überwachten Geräte für konventionelle Kommunikation zu verwenden, von vornherein nicht zu erwarten war, dass mit der Überwachung schutzbedürftige sensible Daten gesammelt werden würden. In der Zusammenschau wiegt der Rechtsverstoß danach vorliegend nicht so schwer, dass deswegen ein Beweisverwertungsverbot geboten wäre (ebenso OLG Hamburg a.a.O.; OLG Brandenburg a.a.O.; KG a.a.O.).“

Das LG Berlin entschied demgegenüber, dass die Datenabschöpfung bei den EncroChat-Nutzern auf deutschem Staatsgebiet unter Missachtung individualschützender Rechtshilfevorschriften erfolgt und ohne den erforderlichen konkreten Tatverdacht durchgeführt worden sei. Dies führe zu einem Beweisverwertungsverbot der über EnroChat geführten Kommunikation (LG Berlin, Beschl. v. 1.7.2021 − (525 KLs) 254 Js 592/20 (10/21) = NStZ 2021, 696).

Das KG Berlin gab der sofortigen Beschwerde der Staatsanwaltschaft gegen die Entscheidung des LG Berlin statt: Die Verwertung der durch französische Ermittlungsbehörden im Zusammenhang mit der Überwachung des Dienstleistungsanbieters für Krypto-Handys (EncroChat) gewonnenen, sichergestellten und ausgewerteten Chat-Nachrichten unterliegt keinem Verbot (KG, Beschluss vom 30.8.2021 – 2 Ws 79/21, 2 Ws 93/21 – 161 AR 134/21 = NStZ-RR 2021, 353). OLG Rostock (1. Strafsenat), Beschluss vom 11.05.2021 – 20 Ws 121/21

Ebenso entschieden: OLG Bremen (Beschl. v. 18.12.2020 – 1 Ws 166/20 = NStZ-RR 2021, 158), OLG Schleswig (Beschl. v. 29.4.2021 − 2 Ws 47/21 = NStZ 2021, 693), OLG Rostock (Beschl. v. 11.5.2021 – 20 Ws 121/21, BeckRS 2021, 11981).

Neben dem oben zitierten Beitrag von Pauli in der NStZ wird das Thema z.B. auch in folgenden Artikeln behandelt: Derin/Singelnstein NStZ 2021, 449, Sommer in StV Spezial 2021, 67, Roth in GSZ 2021, 238 und Nadeborn/Albrecht in NZWiSt 2021, 420.

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5 Kommentare

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Sehr geehrter Herr Dr. Patzak,

die Instanzgerichte sind sich - mit Ausnahme des LG Berlin - aufgrund der obergerichtlichen Rechtsprechung der OLGe ziemlich einig, dass die Daten verwertbar sein sollen. Die rechtlichen Probleme, die dabei aber in der Regel mehr oder weniger zügig abgearbeitet werden, werfen Derin/Singelnstein auf, deren Expertise auch Grundlage für die Entscheidung des LG Berlin war.
Wenn man die Situation herunterbrechen möchte, bietet sich vielleicht folgendes Vergleichsbeispiel an: Dass die Kommunikation des Verteidigers mit seinem Mandanten geschützt ist und dementsprechend Telefonate grundsätzlich nicht abgehört werden dürfen, ist für Deutschland klare Rechtslage. Würde nun aber ein Nachbarstaat, für den das deutsche Recht keine Geltung hat, solche Telefonate abhören und an die deutsche Strafjustiz weiterleiten, sehe ich hier für den deutschen Strafprozess ein Beweiserhebungs- und -verwertungsverbot. Vermutlich (hoffentlich) käme auch keine deutsche Staatsanwaltschaft und kein deutsches Gericht auf die Idee, diese Inhalte zu verwerten. Warum dann aber die deutschen Regelungen zur TKÜ - aus meiner Sicht - relativ plump übergangen werden dürfen, erschließt sich mir nicht.
Ich kann die Idee dahinter verstehen, dass man diese Goldquelle im Beweissinne gerne nutzen möchte, und verstehe auch, dass die Strafjustiz ungern Beschuldigte laufen lässt, von denen sie sicher weiß, dass es Täter sind. Aber in einem rechtsstaatlichen Verfahren gilt eben der Grundsatz, dass es eine Verurteilung nicht um jeden Preis geben kann. Und bei der Verwertung der Encrochat-Daten geht es meiner Meinung nach über das rechtsstaatlich zulässige hinaus.

Mit besten Grüßen

WS

Als Ergänzung noch der Hinweis auf Derin/Singelnstein StV 2022, 130 ff., die die dogmatischen und argumentativen Schwächen der OLG-Beschlüsse aufzeigen.

Sehr geehrter Herr Dr. Staudinger,

vielen Dank für den Hinweis. Deutschlandweit laufen mehrere Hauptverhandlungen, z.B. in Lüneburg. Dort dürfte die Frage nach der Verwertbarkeit der EncroChat-Inhalte allerdings unstreitig sein, da die Angeklagten nach Medienberichten geständig waren.

Mit freundlichen Grüßen

Jörn Patzak

In den USA greifen bei Beweiserhebungsverboten regelmäßig ziemlich weitgehende Beweisverwertungsverbote.

In Deutschland kommen Beweisverwertungeverbote dagegen nie automatisch zum Tragen, sondern es bedarf stets einer gründlichen Abwägung unter Prüfung und Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles.

Schützenswert ist zum Beispiel grundsätzlich die Privatsphäre und Intimsphäre, und soweit es nicht gerade um Schwerverbrechen geht dürften gegen ein Beweiserhebungsverbot verstoßende Beweismitel die in dieser Sphäre erhoben worden sind (zum Beispiel in einem Schlafzimmer unter Intimpartnern aufgezeichnetes Bettgeflüster) wohl in der Regel einem Beweisverwertungsverbot unterfallen.

Schützenswert ist unter anderem auch die freie Meinungsäußerung und Teilhabe an der politischen Willensbildung und an politischen Diskussionen, sowie journalistische Arbeit (Pressefreiheit; gilt auch für Leute wie Julian Assange oder Aktivisten des Chaos-Computer-Clubs oder andere Störenfriede und Querulanten), sowie das Arztgeheimnis, das Anwaltsgeheimnis, und das Beichtgeheimnis, und soweit es nicht gerade um Schwerverbrechen geht, dürften gegen ein Beweiserhebungsverbot verstoßende Beweismittel die in dieser Sphäre erhoben worden sind wohl in der Regel einem Beweisverwertungsverbot unterfallen.

Anders sieht es dagegen aus, wenn es um von vorneherein zu verbrecherischen Zwecken eingerichtete und genutzte Kommunikation von Netzwerken mörderischer Terroristen (wie z.B. der an den massenmörderischen Terroranschlägen vom 11. September beteiligte Gruppierung "Al-Kaida") oder um gewerbsmäßige organisierte Schwerkriminalität (wie z.B. bei der Mafia) geht.

Im vorliegenden Fall war anscheinend bereits die Schaffung der Kommunikationsmittel und Netzwerke darauf ausgerichtet, Schwerkriminellen und Angehörigen der organsierten Kriminalität Straftaten wie etwa gewerbsmäßigen Rauschgifthandel und gewerbsmäßigen Bandendiebstahl sowie gewerbsmäßige Hehlerei und Verbrechensverabredungen zu ermöglichen oder zu erleichtern.

Bei einer Abwägung aller Umstände des Einzelfalles ergibt sich also nicht etwa zwingend ein Beweisverwertungsverbot, sondern es spricht vielmehr sehr viel mehr dafür, daß die von vorneherein auf die Begehung gewerbsmäßiger Straftaten eingerichtete Kommunikation der Verbrecher nicht schützenswert ist, oder jedenfalls der Schutz zumindest nicht so weit zu gehen braucht, Beweisverwertungsverbote auszusprechen.

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Die Entscheidung des LG Berlin halte ich teils für kurios. Wenn dort argumentiert wird, dass die EU doch wolle und fördere, dass der Bürger kryptografische Verfahren nutzt.

Das geht (wohl aus Interesse am Ergebnis, das man ja der Ermittlerseite vorwirft) komplett an Dingen wie 

https://ec.europa.eu/home-affairs/cybercrime/encryption_en

oder 

https://data.consilium.europa.eu/doc/document/ST-13084-2020-REV-1/en/pdf

vorbei, bzw. nimmt die Ausführungen dort ("well balanced" zwischen Strafverfolgung und Datenschutz) nur sehr sehr selektiv wahr, soweit sie das Ergebnis Unverwertbarkeit stützen

Erstaunlich ist bei Encrochat ja, dass bislang (meiner Wahrnehmung nach, vielleicht kann mich da jemand belehren) wirklich nur von Strafverteidigerseite auf den Putz gehauen wird wegen ihrer inhaftierten oder angeklagten Mandanten insbesondere aus dem Bereich der BtM-Kriminalität, teils mit doch recht großem Waffenarsenal.

 Irgendwelche "unbeteiligten" Bürger oder ausgespähte Journalisten findet man nicht. Und sicherlich würden Medienvertreter, die aus Quellenschutzgründen oder ihrer investigativen Tätigkeit Encrochat genutzt haben und auch "Opfer" der Ermittlungen gegen EncroChat geworden sind, nicht schweigen, sondern eine massive Medienkampagne lostreten von wegen Gefahr für freie Berichterstattung (wie es ja bei VDS, Telegram etc geschieht).

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