Der Fortschritt: Übersetzen in Zeiten von KI

von Peter Winslow, veröffentlicht am 03.11.2022

Am 27. Oktober 2022 wurde ich von der Düsterkeit der Zukunft überzeugt. An diesem Tag wurde ein Beitrag von Herrn Dr. jur. Stefan Hans Kettler hier in der beck-community veröffentlicht: »Dolmetschen und Übersetzen in Zeiten von KI«. Kurz vor Halloween führt uns Herr Dr. Kettler von einem vor Jahren zwischen ihm und einem ihm Bekannten geführten Gespräch über die Weiterentwicklung einer vor Jahren neuen Technologie (Digitalfotografie) bis hin zu einem in diesen Jahren spukenden Gespenst, das auf den Namen »Künstliche Intelligenz« höre. Es war Halloween; es spukte halt.
 
Herr Dr. Kettler erinnerte uns daran, dass die Künstliche Intelligenz in Form der maschinellen Übersetzung einen technischen Fortschritt darstelle, der sich nicht wirklich aufhalten lasse und nicht vor Dienstleistungen wie der Übersetzung halt mache. Auch wenn Fachmenschen wüssten, dass »die Qualität und Genauigkeit« einer maschinellen Übersetzung »zu kurz kommen«, »sollte man sich davor hüten, diese aufkommende und ständig weiterentwickelte Technik nicht ernst zu nehmen oder gar zu belächeln«. Denn die »KI-generierte Übersetzung« von Texten minderer Bedeutung habe sich »vielerorts bereits fest etabliert«. Trotzdem »besteht für Dolmetscher und Übersetzer durchaus Grund zu vorsichtigem Optimismus«.
 
Und diesen Grund sieht Herr Dr. Kettler in der möglichen Meisterung der »steigenden Anforderungen durch ein konstant hohes Fachniveau«. Übersetzer:innen, die im Bereich der juristischen Übersetzung tätig sind und diese Anforderungen durch jenes Fachniveau meistern, müssten sich »hoffentlich keine Sorgen um ihre Zukunft machen«. Er schreibt wörtlich:
 
[…] Übersetzer, denen es gelingt, die steigenden Anforderungen durch ein konstant hohes Fachniveau zu meistern - wozu vor allem auch der regelmäßige Austausch mit Kollegen und die Nutzung hochwertiger Fachliteratur beitragen -, müssen sich deshalb mit Blick auf den stetig wachsenden internationalen Wirtschafts- und Rechtsverkehr hoffentlich keine Sorgen um ihre Zukunft machen. Je anspruchsvoller der Ausgangstext und je bedeutender die behandelte Materie, desto mehr versagt die Technik, und dann gilt wieder der Grundsatz: Qualität hat ihren Preis.
 
Als vereidigter Übersetzer, der sich seit Jahren mit dem Thema maschinelle Übersetzung (auch öffentlich) befasst, teile ich diesen Optimismus nicht – oder nicht mehr. Im Jahr 2018 habe ich diesen Optimismus tatsächlich gehegt, aber ich habe diesen aufgegeben. Die Wahrheit ist, dieser Optimismus verlangt zu viel.
 
Er verlangt den Glauben an Künstliche Intelligenz als Fortschritt. Vielleicht ist etwas dran. Vielleicht stellt die Künstliche Intelligenz tatsächlich einen Fortschritt dar; künstlich intelligente Übersetzungssoftware ermöglicht uns, eine bestimmte Aufgabe schneller zu erledigen als vor der Entwicklung dieser Software. Aber gerade das ist das Paradoxe an diesem Fortschritt; er ermöglicht uns, etwas schneller zu machen, ohne dass wir überhaupt etwas machen.
 
An sich ist dieses Paradox nicht schlimm. Es ist die jüngste Verkörperung der Vorstellung des Fortschritts als »Diener der Zeit«, um eine Metapher von Karl Kraus zu verwenden; sie ist also gesund und lebt weiter. Der Fortschritt solle uns bestimmte Aufgaben, die schwierigen wie die zeitaufwändigen, erleichtern, uns womöglich von diesen Aufgaben befreien, damit wir mehr Geld und mehr Zeit haben, um das zu machen, was uns wirklich wichtig oder wertvoll ist.
 
So gesehen, stellt künstlich intelligente Übersetzungssoftware wirklich einen Fortschritt dar. Aber diese Erscheinung des Fortschritts als Diener der Zeit hat eine Parallelerscheinung des Fortschritts als Diener der Befriedigung – der Befriedigung bestimmter Interessen. Im juristischen Bereich bestehen die Interessen regelmäßig darin, der Mandantschaft die bestmöglichen Übersetzungen möglichst schnell und möglichst kostengünstig vorlegen zu können; hier möchte man meinen, dass in einer idealen Welt eine Art heilige Dreifaltigkeit diesen Interessen innewohnt: Qualität, Schnelligkeit und Günstigkeit. Dahingegen möchte man meinen, dass in der echten Welt diese Dreifaltigkeit auf eine Zweifaltigkeit reduziert wird: Schnelligkeit und Günstigkeit. Dies ist auch ehrlich; die Interessen werden auf der Zunge getragen: Der Superlativ »bestmöglich« wird für das, was sie tatsächlich ist, wahrgenommen und gewünscht: Der Superlativ wird zum Relativ. Der Fortschritt verlangt das wirtschaftlich notwendige Desinteresse für Qualität als Berufspflicht, als Überlebensgebot.
 
Aber der Fortschritt, wenn er überhaupt etwas bedarf, bedarf sowohl einer Bewegung als auch einer Richtung. Und beide sind am Markt klar zu erkennen. Der Fortschritt entlarvt sich also als ein Fortschreiten nach einem bestmöglichen Preis-Leistungs-Verhältnis – ich meine nach einem bestmöglichen Schnelligkeit-Günstigkeits-Verhältnis; mit Leistung hat dies nichts zu tun. Somit wird neben Schnelligkeit und Güngistigkeit das Übersetzen zum Teil einer Wahrscheinlichkeitsberechnung zur Erzielung dieses Verhältnisses. Und Übersetzer:innen werden hier nicht (mehr) berücksichtigt oder nicht (mehr) berücksichtigt werden können; sie können mit dem Fortschritt nicht Schritt halten.
 
Denn sie haben praktische Probleme, die keine Software hat. Sie müssen den Lebensunterhalt bestreiten. Sie müssen essen, Miete zahlen, Geld für dies und das haben. Kurzum: Übersetzer:innen müssen ein Honorar in Rechnung stellen. Keine Übersetzungssoftware muss ein Honorar in Rechnung stellen. Sie muss kein Geld für dies und das haben, keine Miete zahlen, nicht essen. Sie muss den Lebensunterhalt nicht bestreiten. Das alles brauchen natürlich die Anbieter maschineller – entschuldigen Sie, ich meine mit Künstlicher Intelligenz betriebener Übersetzungssoftwareprogramme. Aber diese Anbieter setzen auf Kleingeld und Masse. Der Preis einer mit Künstlicher Intelligenz erstellten Übersetzung ist entweder null oder sehr niedrig; die Anbieter leben unter anderem von der großen Anzahl der Personen, die für dieses Angebot zahlen.
 
Das Bild, das sich aus diesen Überlegungen ergibt, ist ein Bild einer Berufsgruppe die sich nicht für qualitativ hochwertige Übersetzungen interessiert (ich meine das Juristentum im weitesten Sinne). Sie interessiert sich nicht dafür, ob sie am Ende eine gute oder schlechte Übersetzung hat; sie interessiert sich nicht dafür, was am Ende in der Übersetzung steht. Sie interessiert sich lediglich dafür, ob sie am Ende eine Übersetzung hat, die möglichst schnell und möglichst kostengünstig erstellt wurde. Sie tauscht die Langsamkeit und Kosten einer qualitativ hochwertigen, durch Menschen angefertigten Übersetzung gegen die Schnelligkeit und Günstigkeit einer mit Künstlicher Intelligenz erstellten Übersetzung und ist mit sich zufrieden – Qualität hin oder her.
 
Dieses Bild als Fortschritt zu betrachten, fällt mir schwer. Vielmehr ist dies ein Bild, nach dem sich Personen von der Versuchung niederer Instinkte irreführen lassen; man will die eigenen Interessen möglichst schnell und möglichst kostengünstig befriedigt wissen. Es ist etwas Kindisches daran. Es ist der Fortschritt als Rückschritt, Rückentwicklung – als Benjamin Button. Ich kann dieses Gefühl nicht wirklich los. Ja, ich glaube sogar, es ist nur eine Frage der Zeit, bis ein Richter einen Vertrag oder ein Beamte eine Urkunde durch DeepL zur Feststellung der Bedeutung englischer Wörter und Sätze jagt. Sie schmunzeln und glauben mir nicht. Aber dieses Bild und mein Glaube sind nicht ganz ohne Grund.
 
Ein Beispiel haben wir Anfang des Jahres gesehen. Die Datenschutzkonferenz (»DSK«), die »aus den unabhängigen Datenschutzbehörden des Bundes und der Länder« besteht, veröffentlichte das Gutachten zum aktuellen Stand des US-Überwachungsrechts und der Überwachungsbefugnisse des amerikanischen Juristen Prof. Stephen Vladeck in seiner ursprünglichen englischen Fassung nebst deutscher Übersetzung. Und dieses Gutachten entspricht genau der Art von Ausgangstext, von der Herr Dr. Kettler in seinem Beitrag spricht. Dieses Gutachten ist anspruchsvoll, die behandelte Materie bedeutend, sogar von nationaler Bedeutung. Und es galt nicht der Grundsatz: Qualität habe ihren Preis.
 
Mit einiger Wahrscheinlichkeit hat die DSK das Vladeck-Gutachten durch eine mit Künstlicher Intelligenz betriebene Übersetzungssoftware gejagt – wie hier dargelegt. Und wie von Herrn Dr. Kettler behauptet, hat die Technik versagt. Die Übersetzung ist eine Katastrophe, teilweise unverständlich, gänzlich dumm. Die Leserschaft, die die in der beck-community veröffentlichten Beiträge zu diesem Gutachten verfolgt hat, wird sich wohl erinnern, dass auch Experte (zum Beispiel ich) die Übersetzung zunächst als eine fachliche Übersetzung behandelt haben.
 
Nun waren wir selber schuld. Die DSK hat die Übersetzung des Vladeck-Gutachtens einfach veröffentlicht. Sie hat nie behauptet, die Übersetzung sei gut; noch hat sie behauptet, sie habe die Übersetzung durch einen juristischen Übersetzer anfertigen lassen. Sie hat lediglich behauptet, die Übersetzung sei »als unverbindliche Arbeitshilfe« gemeint – »ausschließlich das englischsprachige Original« sei maßgeblich. Damit dürften sich die von Herrn Dr. Kettler angesprochenen Haftungsfragen aus oder im Zusammenhang mit dem Abstellen auf die DSK-Übersetzung des Vladeck-Gutachtens erübrigt oder erledigt haben. Angesichts dieses Hinweises gilt wohl: Wer auf diese Übersetzung abstellt und Schäden erleidet, ist selber schuld.
 
Dabei hat die DSK nichts Hinterlistiges gemacht. Sie hat sich nur eine Devise bedient, die seit jeher bekannt ist, nämlich: eine Übersetzung als »convenience translation« zu bezeichnen, um die Erwartungen der Leserschaft zu steuern; man benutze die Übersetzung auf eigene Gefahr. Solange diese Devise noch von den Marktteilnehmenden im juristischen Bereich anerkannt und bei jeglicher bedeutender Materie wie der DSK-Übersetzung des Vladeck-Gutachtens konsequent eingesetzt wird, ist und bleibt der Einsatz von mit Künstlicher Intelligenz betriebenen Übersetzungssoftwareprogrammen dummerweise attraktiv. Die DSK hat eine Übersetzung einer anspruchsvollen und bedeutenden Materie möglichst schnell und möglichst kostengünstig zur Verfügung stellen können, die Technik hat versagt und die DSK war trotzdem mit sich zufrieden – Qualität hin oder her.
 
Das ist mehr oder minder eine tägliche Erscheinung heutzutage. Das ist kein Grund zu vorsichtigem Optimismus. Die Zukunft ist für Übersetzer:innen duster, aber nicht deswegen, weil mit Künstlicher Intelligenz betriebene Übersetzungssoftwareprogramme menschliche Übersetzer:innen jemals ersetzen werden – was heißen will, dass diese Übersetzungssoftwareprogramme so gut wie Menschen werden übersetzen können. Mindestens seit den 1950igen Jahren wird behauptet, dass die maschinelle Übersetzung in den nächsten X Jahren die menschliche Übersetzung überflüssig machen wird. Es ist nicht so ausgefallen. Es wird auch niemals so ausfallen. Maschinell erstellte Übersetzungen sind noch grotesk und bizarr und werden noch so grotesk und bizarr bleiben, dass es niemals so ausfallen könnte. Was wir heute sehen, ist nicht das Überflüssig-Werden des menschlichen Übersetzens; was wir heute sehen, ist ein Desinteresse für die Qualität von Übersetzungen.
 
In dieser verkehrten Welt, in der sogar Datenschutzbehörden in rechtlich zulässiger Weise desinteressiert mit Übersetzungen und somit Daten umgehen (nebenbei sei angemerkt, dass mir die Verwendung der Unterschrift von Herrn Stephen Vladeck bei der DSK-Übersetzung seines Gutachtens nicht ganz koscher erscheint (siehe dort Seite 22)), ist der Fortschritt ein Rückschritt in ein kindisches Verhalten, der das wirtschaftlich notwendige Desinteresse für Qualität als Berufspflicht und Überlebensgebot verlangt.
 
In dieser verkehrten Welt ist es auch nicht ganz fair, Übersetzer:innen Hoffnung zu machen, dass ihre Zukunft in ihren Händen liegt – dass sie irgendwie ihre Zukunft selbst gestalten und durch die Erfüllung von Anforderungen durch ein hohes Fachniveau selbst sichern können. Unsere Zukunft ist teilweise, aber nicht ganz in unseren Händen. Hier müssen Rechtsanwält:innen, Jurist:innen und Beamt:innen auch eine Last tragen. Sie müssen Desinteresse für Qualität als Berufspflicht komplett aufgeben, müssen das Desinteresse für die Qualität von Übersetzungen im Sinne eines unsinnigen Schnelligkeit-Günstigkeits-Verhältnis los werden, müssen sich für eine Vorstellung des Fortschritts einsetzen, die weder paradox noch widersprüchlich ist. Das Gespenst, das in diesen Jahren spukt, befindet sich nicht in einer Maschine; es befindet sich am Markt.
 
Vor diesem Hintergrund sehe ich keinen Grund zu vorsichtigem Optimismus. Aber ich bin auch kein Pessimist. Wie lautet der alte Spruch? Ich bin kein Pessimist; es kann nur schlimmer werden.

 

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5 Kommentare

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Es ist mir schlicht unerklärlich, weshalb Mr Winslow immer noch zur sweeping attack auf das mittlerweile fast ein Jahr alte DSK-Gutachten, die DSK als solche und überhaupt Übersetzungssoftware (als dem vermeintlichen Werk des Teufels schlechthin) ausholt. Nutzen Sie's doch nicht, so what?!

Ich kann aus meiner persönlichen Sicht kaum nennenswerten Mehrwert einem solchen Beitrag entnehmen, abgesehen von der Bestrebung, in der eigenen Wehleidigkeit zu baden.

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Fühlen Sie sich besser? Lassen Sie sich nur aus. Aber bitte mit Fakten.

a) Mein Angriff auf die DSK-Übersetzung des Vladeck-Gutachtens ist nicht »sweeping«. Ich habe drei Beiträge geschrieben, in denen ich einzelne Fehler erstens aufgelistet und zweitens besprochen habe. There's nothing sweeping about my attack. Sehen Sie:

1) https://community.beck.de/2022/02/09/die-deutsche-uebersetzung-des-gutachtens-von-herrn-stephen-vladeck

2) https://community.beck.de/2022/02/17/teil-2-die-deutsche-uebersetzung-des-dsk-gutachtens-von-herrn-stephen-vladeck

3) https://community.beck.de/2022/03/03/teil-3-die-deutsche-uebersetzung-des-dsk-gutachtens-von-herrn-stephen-vladeck-rausgespuckt-von-deepl

b) Als ich 2017 meinen ersten Blogbeitrag in der beck-community veröffentlicht habe, habe ich versprochen, Einzelfälle zu besprechen. Das galt und gilt auch für Übersetzungssoftware. Über die Jahre habe ich etliche Beiträge zu diesem Thema geschrieben. Auch hier gilt: there's nothing sweeping about my attacks.

c) Es ist mehr als ironisch, dass Sie einer kostenlosen Platform einen Mehrwert zu entnehmen suchen. Wert und Mehrwert überall oder zumindest bei kostenlosen Beiträgen anderer Menschen finden zu wollen, die Ihnen weder Mühe noch Geld noch Zeit gekostet haben, ist kein Zeichen des geistigen Reichtums, sondern der geistigen Armut. Ich behaupte nicht, dass Sie geistig arm dran sind; ich kenne Sie nicht. Aber Ihrem Kommentar entnehme ich … Wünschenswert wäre mehr Fantasie, wären weniger Metapher der Kommerz. Ich meine, wenn Sie mich schon beleidigen, bitte ich um kreativere Beleidigungen. Insbesondere bitte ich um weniger Ironie. Ihre Beleidung steht ja unter einem Beitrag, in dem kindisches Verhalten erwachenser Menschen lamentiert wird. Andererseits: Das ist das Internet. Ich weiß nicht, ob Sie tatsächlich erwachsen sind. Ist ja alles möglich.

d) Ich kann nicht oft genug wiederholden: Wenn man ein Problem mit meinen Beiträgen hat, muss man sie nicht lesen. Sie ersparen sich den Ärger und mir Ihre Beleidigungen. Damit sind wir alle bedient.

Und hoffentlich weist den Autor noch vor seinem Berufsausstig jemand darauf hin, daß und wie der Deutsche 'Übersetzer' dekliniert.
 

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Es wird um verständlichere Beleidigungen gebeten, womöglich entsprechend der neuen deutschen Rechtsschreibung. 

"Rechtsschreibung" im Sinne von Orthographie wird nur mit einem "s" in der Mitte geschrieben, ebenso wie man "Übersetzer:innen" ohne Doppelpunkt in der Mitte schreibt.

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